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Autor: Claudine Borries

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

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Glattauer hat einen kurzweiligen und anregenden Roman geschrieben. Er benutzt die Möglichkeiten des Internets, um seine Geschichte in Szene zu setzen.

Zwei gut situierte Paare gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana.
Die Strobl-Marineks und die Binders sind gut befreundet. Binders haben den Sohn Benjamin, und Martineks die Tochter Lotte und Sophie mitgebracht. Damit sich die 14jährige Sophie nicht langweilt, durfte sie ihre Freundin Aayana mit in den Urlaub nehmen. Aayana ist ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia.

Was froh und entspannt beginnt, endet sehr bald in einer Katastrophe. Sophie will Aayana das Schwimmen beibringen. Doch diese nutzt die Nacht, um selber im Pool zu schwimmen. Dabei ertrinkt sie.

Was macht den Roman so lesenswert?
Glattauer baut den Roman so auf, dass der Hauptkonflikt fast sofort klar wird. Zugespitzt erlebt man eine Flüchtlingstragödie bedauerlichen Ausmaßes.
Es gibt die vielen vermeintlichen Nebensächlichkeiten, die zur Katastrophe beigetragen haben könnten.

Elisa Marinek hat einen Geliebten. Um ihre Ehe ist es nicht mehr gut bestellt. Sie ist eine emanzipierte Frau, promoviert und Abgeordnete der Grünen im österreichischen Parlament.
Ihre politische Karriere könnte durch durch Aayanas Tod Schaden nehmen.
Sophie hat einen Internetfreund, mit dem sie sich austauscht, und in den sie sich, ohne ihn je gesehen zu haben, verliebt.
Melanie bezichtigt Elisa, den Tod von Aayana bewußt nicht verhindert zu haben. Die Atmosphäre zwischen den Paaren ist angespannt.
Die Dialoge sind aufschlussreich, weil sie Stimmungen vermitteln, die konfliktträchtig und unaufrichtig sind.

Glattauer bedient sich u.a. des Internets, um Austausch und Kommentare dort zu verfassen.
Nach und nach erreichen sowohl Elisa als auch Sophie Häme und Spott über dieses Medium.
Es gibt die pubertierende Tochter, die sich angestachelt durch ihre Internetkorrespondenz in eine phantastische Liebesgeschichte hineinsteigert. Man erlebt zwei Ehepaare, die durch die ganze Geschichte aufgeregt und irritiert ihre bürgerliche Existenz gefährdet sehen.

Die Figuren sind eine jede sehr eigen in ihrer Charakterstruktur. Gebannt folgt man einer Erzählung, die uns nach Österreich mitnimmt, in die Toskana und am Ende mit allen rechtlichen Verwicklungen als Folge des Todes von Aayana wieder nach Wien.
Verwirrung der Gefühle und Befindlichkeiten auf der ganzen Linie!

Glattauer setzt allem die Krone auf, indem er die verschiedenen Erzählstränge gekonnt zusammenführt, so dass sich ein abgerundetes Verstrickungsmodell abzeichnet.

So ist das Leben: es steckt voll hintergründiger Fallstricke und führt Menschen zusammen, die sich entweder gegenseitig nutzen oder Unglück auslösen.

Daniel Glattauer hat wieder einmal einen anspruchsvollen Unterhaltungsroman geschrieben.

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Paul Zsolnay Verlag, März 2023
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552073337
ISBN-13: 978-3552073333
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Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

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Der holländische Autor Daan Heerma van Voss hat ein wissenswertes Buch über Depressionen und Angstzustände geschrieben.

Als sich die Freundin von ihm trennt, weil sie seine Ängste nicht mehr ertragen kann, fasst er den Entschluss, den eigenen Ängsten auf die Spur zu kommen.
Konfrontiert mit immer neuen Angstphasen, besucht er zunächst einen Freund in Frankreich, wo er sich in intensivem Studium mit den Ursprüngen der Ängste befasst. Er staunt selber über Statistiken, aus denen hervorgeht, wie verbreitet Ängststörungen sind.
Es gibt chemische Formeln, mit denen man im Gehirn bei der Untersuchung am Menschen abweichende Normen für mentale Zustände diagnostizieren konnte.
Seine Studien führen den Autor zu seinen Ahnen in Indonesien, von denen ebenso bekannt ist, dass sie unter Ängsten litten.
Sehr präzise macht er den Weg aus, der bis zur Erkenntnis des heutigen Begriffs “Angststörung“ geführt hat. Da ist zunächst von Überarbeitung die Rede, neurasthenischer Veranlagung, Nervosität, Unruhe und vielen Begriffen mehr.

Schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts finden sich Andeutungen über Melancholie. Aber es geht noch weiter zurück bis hin zur griechischen Mythologie.
Ängstlich vermieden die Betroffenen, ihren Zustand als krank zu bezeichnen. Man beließ es gerne bei äußeren Einflüssen: Überarbeitung und wirtschaftlicher Not etc. Allerdings hat man bei Forschungen schon in Darwins Tagebüchern Aufzeichnungen gefunden, die auf gelegentliche Stimmungsschwankungen schließen lassen.

In der Literatur gibt es vielfache Hinweise auf psychische Not wie z.B. bei Proust, Hölderlin, ja selbst Goethe schrieb über die Melancholie; man findet sie bei Heine, Stefan Zweig, Thomas Mann und vielen anderen mehr.

Der Autor bemüht zahlreiche Studien, führt Gespräche mit Psychiatern und Psychologen, um zu dem heutigen Begriff der „Angststörung“ vorzudringen. Er bezeichnet seinen Weg als einen, der durch die Familiengeschichte, Wissenschaft, Literatur, Geschichte und Philosophie führte, um sich selber besser zu verstehen.
Es geht ihm eindeutig darum, mit der Ursachenforschung die Begründung für seine eigenen Malaisen zu finden. Dabei geht er neben eingeschobenen eigenen Stadien der Krankheit sehr wissenschaftlich vor. Er beeindruckt durch seine klare Sprache, seinen ungetrübten Blick und die rückhaltlose Offenheit. Dazu gehört ein immenses Wissen an verschiedenen Forschungsrichtungen, mit denen man den dehnbaren Begriff der „Angststörung“ auf die Spur zu kommen trachtete. Spannend wird sein Bericht dadurch, dass häufig Wissenschaftler oder auch Entdecker für weitere Forschung am eigenen Leib mit den Merkmalen von ungeklärten Symptomen geschlagen waren als da sind: Phobien, Melancholie, Unruhe, Schwindel, Platzangst etc.

Van Voss zieht als Fazit aus seinen Studien und der Ahnenforschung die Bilanz, dass genetische Faktoren, soziale Einflüsse und defekte chemische Strukturen im Gehirn erst zu den krankhaften Erscheinungen an Leib und Seele führen können.
Durch die Einschübe eigener Angstphasen und Gesprächen mit anderen Betroffenen wird die Verbindung zwischen realem Leben und Forschungserkenntnissen einleuchtend und lebendig.

Van Voss beginnt und lässt seinen Bericht enden mit seiner Liebe zu einer Lebensgefährtin, die seine Ängste weder verstand noch tolerierte.
Tabus belegen auch heute noch diese Krankheiten, die doch seit Jahrhunderten schon die Menschheit bedrängen.

Van Voss leistet mit seinem Buch einen hervorragenden Beitrag zu den so weit verbreiteten Formen der Angst und Depression mit der damit einhergehenden Einsamkeit. Sie zeitigen häufig tragische Folgen für die Betroffenen.
Ein gründliches und verstehbares Wissen macht den Bericht auch für den Laien sehr lesenswert.

Daan Heerma van Voss, Historiker, Autor und Journalist gilt als eine wichtige Stimme seiner Generation in Holland.

Im Anhang gibt es ein ausführliches Quellenverzeichnis.

Daan Heerma Van Voss
Die Sache mit der Angst
Diogenes, März 2023
384 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072309
ISBN-13: 978-3257072303
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Annika Büsing: Koller

Annika Büsing: Koller

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Dieses Buch ist ein Roadmovie der besonderen Art.

In einer trockenen und spröden Sprache beschreibt Annika Büsing die Geschichte von Chris und Koller, der eigentlich Kolja heisst.
Es fängt mit der Liebe an und hört mit ihr auf.
Wer ist Chris: Junge oder Mädchen?
Dann wird es klar: Koller hat sich in ihn verliebt! Chris ist der Icherzähler, ein nachdenklicher und ruhiger Mensch.
Zwischen den Zeilen wird die Geschichte eines jeden Jungen eingeblendet.
Sie lassen sich treiben und gehen keiner regelmäßigen Beschäftigung nach. Koller hat Medizin studiert. Das praktische Jahr stünde an; aber er mag nicht arbeiten.

Chris erzählt in Andeutungen von seiner Mutter. Sie ist Ärztin und liest Hegel. Er wuchs in einem gebildeten aber vaterlosen Haushalt auf.

Koller erfährt unvermutet, dass er Vater einer 4jährigen Tochter ist. Das haut ihn um. Also macht er sich mit Chris auf den Weg, sie zu besuchen. Sie fahren mit einem alten Polo an die Ostsee. Der Weg wird von allerhand Misshelligkeiten unterbrochen.

Den trockenen Sprachstil erkennt man wieder. Schon in „Nordstadt“ war dieser Sound sprachbestimmend. Er hat eine seltsame Faszination für den Leser*In.

Annika Büsing lässt die Männer unterschiedliche Stationen passieren. Mal ist es das Heim, in dem die behinderte Schwester von Koller lebt. Dann wieder suchen sie die Kate von Kollers Oma. Im Grunde erleben sie Nichtigkeiten. Eine gewisse Lethargie und Antriebslosigkeit lässt die Burschen ihres Weges ziehen. Haben sie ein Ziel? Es ist nicht erkennbar. Vielleicht einfach: in den Tag hineinleben, um den Moment zu genießen.

Auffällig sind Einschübe von poetischer Sprachkraft. Sie erinnern an biblische Aussprüche. Mitten hinein in einen ganz gewöhnlichen Augenblick „Die Sonne geht unter. Und siehe, es ist alles gut“ erscheinen diese Sätze wie aus dem Rahmen fallende Momente der Ruhe.
Alle dargestellten Beziehungen sind konfus. Sie sind ganz sicher nicht bürgerlich.
Am Ende geht es um Identitätsfindung, Autonomiesuche und um die Frage, was und wozu leben wir.

Verklausuliert in ihrer stockenden Alltagssprache bietet die Erzählung mit ihrem Tiefgang einen ganz einmaligen Reiz.
Es handelt sich um eine verlorene Generation mit starken Gefühlen, die nur sehr verhalten rüberkommen. Nicht zuletzt spielt das Leben in West und Ost vor und nach der Wende eine Rolle.

Am Ende wirkt die Geschichte, als ließe die Autorin uns mit einem Fragezeichen zurück. Glück? Freude?
“Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht.“ Momente scheinen den Augenblick zu bestimmen.

Annika Büsing
Koller
Steidl Verlag, 2. Auflage, März 2023
176 Seiten, gebunden
ISBN-10: 396999196X
ISBN-13: 978-3969991961
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Helga Schubert: Der heutige Tag

Helga Schubert: Der heutige Tag

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Eine Frau begleitet ihren Mann auf seinem letzten Lebensabschnitt. Seine Demenz ist offensichtlich. Wie geht man damit um?

Helga Schubert beschreibt im Wechsel mit ihrer Gegenwart, wie sie mit ihrem Mann zusammengelebt hat, wie ihre Liebe entstand und Bestand hatte und wie das „Heute“ aussieht.

Derden, wie sie ihn nennt, ist alt, krank und abhängig von ihr wie nie zuvor in ihrem langen gemeinsamen Leben.

Die Anfänge ihrer Ehe waren holprig; beide hatten Ehen hinter sich und Kinder aus diesen vergangenen Ehen. Während sie ihr Leben alleine schon bald gestaltet, zieht es ihn immer wieder zurück zu seiner Ehe und dem Familienleben. Sie konnte dem alternativlos ein Ende setzen. Nun sind sie seit 58 Jahren zusammen und lieben sich immer noch!

Das ist eine lange Zeit, um sich nah zu sein und zu bleiben. Es scheint ihnen gelungen, ein glückliches gemeinsames Leben gemeistert zu haben. Er malt, sie schreibt, doch das jetzige Leben mit Pflege und allen Begleiterscheinungen eines vergänglichen Lebens hat nochmal eine ganz neue Dimension.

Es gibt wunderbare Berichte über ihr Leben auf dem Land in einem stillen Bauernhaus in Mecklenburg, das Ruhe und Beschaulichkeit verspricht.

Die Düfte und Geräusche der natürlichen Umgebung sind berückend. Man vergisst vorübergehend ganz, was die Pflege ihres Mannes  für die Autorin an Beschwerlichkeiten mit sich bringt. 

In ihrem Alter, 83, sieht sie bei Freunden und Bekannten Veränderungen mit den unterschiedlichsten Merkmalen. Es gibt weit verbreitet Demenz, Heimunterbringungen, Todesfällte; auch späte Liebe mit über neunzig Jahren kommt vor! Sie selber ertappt sich gelegentlich bei eigener Vergesslichkeit. Die ganze Wahrheit des Altwerdens wird sichtbar. Es gibt glückliche Momente, das ja. Sie bestehen in der Stille, dem Gesang einer Amsel, dem Betrachten der Blumen im Sommer, und für Helga Schubert im Schreiben am Laptop. Doch alles wird überlagert von der schwer zu bewältigende Pflege für ihren schwer kranken und viele Jahre älteren Mann.

Wie viel Geduld das erfordert!

Eine zärtliche Geste hier, ein Hauch von Verzweiflung da: die Autorin berichtet hautnah, wie es sich lebt im Angesicht des langsamen Untergangs von Geist und Körper!

Die Liebe und die Nähe, gemeinsamer Humor und das Lachen: das alles gilt es zu bewahren und doch den nahenden Abschied nicht zu verleugnen. Wie schwer das fällt, bis er zur unabänderlichen Wahrheit wird!

Es ist ein schönes Buch, ein melancholisches auch, doch alles durchdrungen von einer langen Liebe! 

Helga Schubert
Der heutige Tag
dtv Verlagsgesellschaft, März 202
272 Seiten, gebunden
ISBN-10: ‏342328319X
ISBN-13 :978-3423283199
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Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

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„Ich liebe dich“ und „Ich verlasse dich“. Mit diesen drei Wörtern kann eine langjährige Beziehung umschrieben werden.

Im neuen Roman von Julia Schoch will eine Frau ihren Mann verlassen.
In Gedanken lässt sie, die selber Schriftstellerin ist, ihre gesamte Liebesgeschichte noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen.
Zuerst ist sie jung, verliebt und neugierig auf das Leben.
Zwischen den Zeilen, die teilweise einem Monolog gleichen, spürt man allerdings von Beginn an, dass hier eine junge Frau einen Freund liebt, dessen sie sich nie so ganz sicher gewesen zu sein scheint.
Sie studierten in der Nachwendezeit und trafen sich immer wieder.
Man verbringt Tage und Nächte zusammen, geht gemeinsam ins Kino, und sie ist ganz hingerissen von ihm. Ist er das auch von ihr?
Auf jeden Fall ist er in ihrer Darstellung einer, den sie als überlegen wahrnimmt. Sein Wort gilt, und sie fühlt sich wohl in seinem Schatten.

Was mit Überschwang beginnt, zeigt schon bald kleine Risse. Ein versäumter Termin, lange Tage ohne Kontakt: man spürt es schon. Hier wird nicht alles ganz reibungslos verlaufen.
Die euphorische Feststellung, „das Liebespaar des Jahrhunderts“ zu sein, wird nicht so bleiben!

Julia Schoch fühlt sich ganz in das Leben des Paares ein. Sie beschreibt, wie die anfängliche Hochstimmung nach und nach einem Alltag weicht, der dem so vieler anderer Paare gleicht.

Kinder werden geboren; Beruf, Alltag und Familienleben müssen in Gleichklang gebracht werden. Abnutzung und Ermüdung betreffen neben den alltäglichen Verrichtungen auch das sexuelle Leben der beiden. Man läuft schweigend aneinander vorbei, und die Zeit verrinnt. Sind die Träume des glücklichen Liebeslebens zerronnen?

Die Erzählerin vermerkt minutiös, wie sie sich mit dem Gedanken plagt, den Mann zu verlassen.

Gemessen an dem, was sie erwartet hat, wirkt der fortschreitende Prozess des Alltags recht trostlos. Julia Schoch kann Stimmungen einfangen und Situationen, Handreichungen und Haushaltsverrichtungen so beschreiben, dass der Leser*In ganz in dieses Milieu eintaucht.
Sie beweist einmal mehr, wie genau sie beobachten kann. Ihre Darstellung einer ermüdenden Beziehung ist echt und überzeugend und fängt das Leben ein, wie es ist.
Glücksgefühle allerdings sind rar in der Beziehung. Auch das ein Stück Realität?
Der Leser*In wird es prüfen und mit dem eigenen Leben vergleichen.

Das überraschende Ende des Romans lässt erkennen, dass „Leben und Liebe“ so ist, wie man es hier beschrieben findet.

Julia Schoch
Das Liebespaar des Jahrhunderts
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2023
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423283335
ISBN-13: 978-3423283335
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Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

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Diese autobiographische Erzählung beinhaltet auch für den Leser eine glückliche Erfahrung!

Arno Geiger berichtet von den Anfängen seines Vorhabens, ein Schriftsteller zu werden.
In Wien, wo er sich eine kleine Wohnung gemietet hat, um zu schreiben, fällt ihm in einer Straße eines Tages ein Karton mit abgestellten Büchern in die Hände. Er wird neugierig und fängt an, auf seinen Streifzügen durch die Stadt Papiercontainer nach Lesenswertem zu durchstöbern. Es wird fast zur Sucht, sich mit dem Abfall zu beschäftigen. Zusammen mit seiner Freundin K. verkaufen sie auf Flohmärkten Übriggebliebenes und machen dabei Gewinn.
Was mit seiner Freundin als skurrile Zweisamkeit beginnt, geht später in ein rechtes Chaos über. Sie streiten sich, verlieren sich und haben andere Beziehungen. Über allem steht die Suche von Arno Geiger nach dem Erfolg. Der lässt zuerst lange auf sich warten.

Arno Geiger hat eine unübertroffene Gabe, seine Geschichten nüchtern und bar aller Angeberei zu erzählen. Seine Worte klingen oft trocken; sie stecken voller Selbstironie und kritischen Selbsteinsichten. Fast grenzt die Geschichte an eine Selbstentblößung, die jedoch von stillem Humor und gelegentlicher Drolligkeit geprägt ist.

Sein stetes Wollen steht in seinen Anfängen als Schriftsteller im Kontrast zu dem, was er zustande bringt. Er schreibt des Nachts am Küchenfensterbrett und kann sich über Stunden mit Wörtern plagen, die nicht so sind, wie er sie haben möchte. Ab und zu spricht er von einem „depressiven Intermezzo“, in dem er sich befindet, wenn er sich nicht vorstellen kann, wie die Zukunft für ihn aussehen wird.
Aber das Wunder geschieht: er erhält 2005 nach langen Jahren für seinen ersten geglückten Roman den deutschen Buchpreis!

Mit sensiblem Blick und wachen Geist beobachtet Geiger seinen eigenen Aufstieg, und er berichtet natürlich auch von seinem steten Wechsel vom erfolgreichen Schriftsteller zu seinem geheimen Glück, dem Lumpensammlerleben. Seine lieb gewordenen Streifzüge durch den Wiener Papierabfall gibt er beileibe nicht auf! Da kann man dann Bilder finden, in denen er sich ausmalt, wie Paparazzi ihn mit aus der Mülltonne herausragenden Beinen finden könnten. Wilhelm Busch lässt grüßen! Die Fähigkeit zur Reflexion aller an sich beobachteten skurrilen Anwandlungen ist unübertroffen und zeugt von seinem hervorragenden Erkenntnisvermögen, das eine gewisse Distanz zu sich selber ahnen lässt.

Ich, die Leserin, kann mich von den Sätzen und Worten und den alles hinterfragenden Gedanken nicht lösen. Seine Ehrlichkeit und auch die Zärtlichkeit, die er seinen alternden und kranken Eltern entgegenbringt, rühren ans Herz! Es geschehen immer wieder Ereignisse, die den Leser schmunzeln lassen. Auch ist man fasziniert von seiner Fähigkeit, Frauen zu finden, die ihm in ihrem Autonomiestreben in nichts nachstehen.

Arno Geiger ist ein passionierter Schreiber, der sein Publikum zu fesseln weiß. Eine vergleichbare Offenheit, ungekünstelt im wahrsten Sinne des Wortes, kenne ich nicht.
Ein Gewinn für alle, die das wahre Leben in der Literatur gespiegelt finden möchten!

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis
241 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Januar 2023
ISBN-10: 3446276173
ISBN-13: 978-3446276178
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Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

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In diesem wunderbaren Roman findet man sein Glück beim Lesen!
Leicht elegisch, von stillem Glück, vom Alter und der Einsamkeit handelt dieser kleine Roman.

Ernesto hat seine Frau verloren. Er ist 67 Jahre alt und lebt in einer ruhigen, beschaulichen Straße am Fluss im Turin.
Seine Kinder sind fern, nur Sonja, die Älteste, lebt mit ihren Kindern in Rom. Eines Sonntags hat er sie mit ihren beiden Kindern zum Essen eingeladen. Doch eine ihrer Töchter fällt vom Baum, und sie können nicht kommen.

So erleben wir Ernesto, wie er mit seinem fertigen Essen und der Einsamkeit fertig zu werden trachtet.
Er geht in den Park und lernt Elena mit ihrem Sohn dort kennen. Ohne tiefgründige Absicht lädt er die beiden zum Essen ein.
Gaston, der Junge, ist begeistert von den Bastelkünsten des alten Herren, und die drei verleben einen behaglichen Sonntag. Es ist der einzige Hinweis auf den Titel des Romans. Denn es geht um mehr!

In stillen und ruhigen Passagen beschreibt uns der Autor Fabio Geda das gegenwärtige und vergangene Leben von Ernesto. Es sind beschauliche Augenblicke und Ausblicke, die das Familienleben geprägt haben. Die Kinder und seine Frau sind das Glück von Ernesto. Er war als Ingenieur viel verreist, denn er baute große Brücken überall in der Welt.
Nicht immer verlief das Leben reibungslos.

Giulia ist die Erzählerin in diesem Werk. Sie spinnt das feine Netz von Begegnungen, erzählt vom Liebesleben der Eltern und ihren gemeinsamen Familienjahren. Konflikte blieben lange unausgesprochen.

Wie in allen Familien gab es nicht nur das reine Glück! Giulia und der Vater haben sich entfremdet. Als die Kinder alle in ihren Berufen gefestigt waren, und die Töchter Kinder bekamen, fanden sie wieder zusammen. „Es ging nicht darum, zu begraben und zu vergessen: sondern zu verzeihen!“( S. 218) Dieser Satz ist charakteristisch für den Stil des ganzen Romans. Man ist erfüllt von der Stimmung aus Liebe, Großzügigkeit und Altersweisheit.

Als Ernesto schließlich alt und krank ist, begegnet ihm im Krankenhaus Elena wieder. Auch sie ist zur Zeit ihrer Begegnung vor so vielen Jahren eine verlorene Seele gewesen, die mit ihrem Leben nichts mehr anfangen konnte. Sie war von Ernesto ermutigt worden, ihr Leben nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes in die Hand zu nehmen. Nun hat sie es geschafft und ist Krankenschwester geworden.

Mehr gibt es zu dem Roman nicht zu sagen. Man lese ihn! Er ist rund und gelungen in seinen poetisch reizvollen kurzen Lebensstimmungen und den Schicksalen, von denen man hört.

Fabio Geda
Ein Sonntag mit Elena
240 Seiten, gebunden
hanserblau, 2. Auflage, August 2020
ISBN-10: 3446267956
ISBN-13: 978-3446267954O
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Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

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Wer weiß schon, was in einem Menschen vorgeht, der langsam sein Gedächtnis verliert? Arno Geiger hat es erfahren und in eine literarische Form gebracht, die anrührend, klar und feinfühlig an die Geschichte seines Vaters heranführt.

Zuerst noch unbemerkt, tastend und irritierend bemerkt der Sohn Veränderungen im Verhalten des Vaters, die er nicht deuten kann. Er verbessert Sätze, wenn sie wirr erscheinen und versucht dem Vater auf die Sprünge zu helfen bei Fehleinschätzungen und Erinnerungslücken. Doch eines Tages dämmert dem Sohn, dass der Vater die Realität nicht mit den gleichen Augen sieht wie er selber. Er muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass sich der Geist des Vaters verändert, und er sein Leben aus dem Griff zu verlieren droht. Mit wachen Sinnen und einfühlsamem Bemühen lernt der Sohn, den Vater in seiner sich stetig verändernden Andersartigkeit zu akzeptieren. Die oft wiederholte Phrase „ich will nach Hause“ bringt Arno Geiger zu der Erkenntnis, dass „Zu Hause sein“ ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Geborgenheit und Vertrautheit ist, das sich nicht zuletzt in der Religion mit dem Begriff des Himmelreichs bezeichnen lässt.

Feinsinnig und nachdenklich folgt Arno Geiger den Veränderungen im Verhalten seines Vaters und lässt noch einmal dessen Herkunft Revue passieren. Das karge Dasein eines Buben aus einer kinderreichen aber armen Familie lassen nicht viele Hoffnungen und Illusionen auf kommendes Glück zu.

Als der siebenunddreißigjährige Vater eine viel jüngere Lehrerin heiratete, waren beider Erwartungen an die Ehe und das Familienglück so diametral gegensätzlich, dass das Ende dieser Ehe geradezu vorprogrammiert schien. Sie überdauert nur die Zeit des Heranwachsens der Kinder.

Gut erinnert sich Arno Geiger an die eigene Kinderzeit, die Großeltern und die Atmosphäre im Haus und an den fleißigen und arbeitsamen Vater in seiner Rolle als kleiner Beamter in dem Ort Wolfurt in Österreich. Die Natur und erhabene Landschaft mit Blick auf den fernen Bodensee sind wiederholt Anknüpfungspunkte für Arno Geigers eigene Heimatbetrachtungen. Wohltuend steht er in seinen Erinnerungen an den Vater hinter diesem zurück und spiegelt nur seine Gefühle im Wandel zu dem an Demenz erkrankten Vater. Ein anrührendes Stück Literatur zeigt eine Vater-Sohn-Beziehung, die den Sohn zurück zu seinen Wurzeln führt und zu einem Vater, dem er sich lange entfremdet sah. Versöhnlich und liebevoll begleitet er mit wachen Sinnen dessen langsames Verlöschen aus der Gegenwart und aus den Bezügen der Vergangenheit. Wie tröstlich ist das Wiedererkennen der Charakterstrukturen des Vaters auch in seinen trüben Stunden!

Arno Geiger zeigt ein hervorragendes Talent, sich den Gefühlen zu stellen und sie in Worte zu fassen, die ihn zurück zum Vater seiner Kindheit führen und zu dem aus der Welt verschwindenden alten Menschen, der ihm wieder so nahe gekommen ist.

Arno Geiger
Der alte König in seinem Exil
192 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, 13. Auflage November 2012
ISBN-10: 3423141549
ISBN-13: 978-3423141543
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Annie Ernaux: Der junge Mann

Annie Ernaux: Der junge Mann

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Mit dem neuesten Buch von Annie Ernaux erfahren wir eine weitere kleine Episode aus ihrem Leben. Andere hat sie schon in ihren vorangegangenen Büchern thematisiert.

Wie Mosaiksteinchen kommen sie einem vor. Nicht die große Biographie ist ihr Metier, sondern Einzelheiten, in denen sie mikroskopisch sezierend in der Welt der Werte und Moral nach ihrem Platz im Leben sucht.

Mit 54 Jahren hat sie ein leidenschaftliches Verhältnis mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten.
Durch die Beziehung zu dem so viel jüngeren Mann erinnert sie sich an ihre eigene Zeit noch als armes Mädchen und Studentin. Die Reaktionen der Umwelt und so vieles mehr werden minutiös beschrieben. Bösartige Blicke in Kaffees und Restaurants und Argwohn bei den gemeinsamen Auftritten in der Öffentlichkeit wecken ihre Aufmerksamkeit.
Sie war so lange das skandalöse Mädchen! Damit ist es nun vorbei!
Doch sie sieht bereits die kommende Trennung.

Es gibt zahlreiche Momente, von denen er nichts weiß, und in denen sie ihm weit voraus ist: Studentin sein, arm sein, eine Abtreibung im Visier mit der Trauer und der Einsamkeit, die sie dabei erfahren hat. Als sie ihm ein Bild zeigt von sich als junger Frau, wird er traurig. Er kennt sie doch JETZT und will nichts von ihrem vergangenen Leben wissen.

In Gedanken ist sie bei einem neuen Buch, das sie schreiben wird. Sie reflektiert jedes Detail ihres Daseins, sieht, wie die Momente vergehen und ihr Leben sich in Wiederholungen verliert.
Mit der Abtreibung, an deren Darstellung sie schreibt, beginnt die innere Ablösung von A.

Sex, Lust, Begehren und Schreiben verschwimmen zu einem gemeinsamen Prozess. Mit dem Ende des Buches ist das Ende der Beziehung in ihren Augen vorprogrammiert.

Hier wird wieder nur eine Episode beschrieben, in der Annie Ernaux erneut ihr Leben reflektiert.
Für die Lektüre dieses schmalen Bandes braucht es nur knapp zwei Stunden.
Fasziniert legt man das Buch zur Seite. Wieder ein gelungenes Stück Erinnerung mit tiefenscharfem Blick!
Im Grunde hat sie beim Schreiben immer ihr Leben zum Thema ihrer literarischen Betrachtungen gemacht. Das ist ihr hervorragend gelungen.

Annie Ernaux bekam 2022 den Nobelpreis für Literatur.

Annie Ernaux
Der junge Mann
Suhrkamp Verlag, Januar 2023
48 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3518431102
ISBN-13: 978-3518431108
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Kerstin Holzer: Monascella

Kerstin Holzer: Monascella

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Es war sicher nicht leicht, im Hause von Thomas Mann Kind zu sein! In der vorliegenden Biographie von Kerstin Holzer über Monika Mann wird das sehr deutlich.

Sechs Kinder hatten Thomas Mann und seine Frau Katia. Im Abstand von jeweils einigen Jahren kamen kurz hintereinander ein Junge und ein Mädchen zur Welt.

Über die Familie des berühmten Schriftstellers und über seine Kinder gibt es zahlreiche Bücher. Man weiss, dass die sechs Kinder unterschiedliche Begabungen hatten und unterschiedliche Lebenswege beschritten.

Am wenigsten bekannt war bisher Monika Mann, das vierte der sechs Mannkinder. Sie galt als Sonderling und trat wenig in Erscheinung. Bei der Flucht aus Europa 1940 während des 2.Weltkriegs verlor sie ihren Mann bei einem Schiffsuntergang, den sie überlebte.
Fortan und schon in ihrer frühen Kindheit galt sie als lästig. Als Jahre nach ihr noch Elisabeth geboren wurde, beschreibt Monika selber diesen Augenblick als „das Ende ihrer Kindheit“. Die Mutter mochte Monika schier gar nicht um sich haben. Nach einem Besuch 1953 schreibt Katia über sie, dass sie als Hausgast „unvorstellbar in ihrer Muffigkeit“ sei. Man ging sich lieber aus dem Wege.

Kerstin Holzer hat sich verdienstvoller Weise dieser Tochter von Thomas und Katia Mann angenommen und ihren Lebensweg nachgezeichnet.

Niemand liebte die Tochter/ Schwester wirklich. Erika und Klaus waren exzentrisch und brillierten in der Öffentlichkeit, Golo wurde Historiker, Elisabeth, das vom Vater besonders geliebte „Kindchen“, hatte als einzige wohl eine fröhliche und unbeschwerte Lebensart; Michael wurde Musiker und schenkte dem Vater den geliebten Enkel Frido.
Wo aber blieb Monika?

Kerstin Holzer beschreibt ein Leben, das unausgefüllt und chaotisch war.
Die Geschwisterzahl, der ruhebedürftige Vater und eine lieblose Mutter hatten ihr eine unglückliche Kindheit beschert. Sie irrt durchs Leben, schreibt kleine Feuilletons, die vom berühmten Vater nicht besonders wohlwollend beurteilt werden und will zwischendurch Pianistin werden. Alle ihre Vorhaben scheitern. Sie wird von der Familie als faul, träge, antriebsarm und lästig empfunden.

Bezugnehmend auf die Analytikerin Karen Horney kann Kerstin Holzer überzeugend darlegen, dass Monika von Beginn ihres Lebens an ungeliebt, vielleicht sogar unwillkommen, an einem tiefen Entwicklungsdefizit litt, dass sie zur Außenseiterin in der Familie verdammte.
Als sie nach langen Jahren schließlich Capri für sich als lebenslänglichen Aufenthaltsort entdeckte, dazu in Antonio Spadaro einen liebevollen Lebensgefährten, konnte sie endlich zur Ruhe kommen.

Karin Holzer hat einen offenen und unvoreingenommenen Blick auf Monika. Sie beschreibt sie mit Empathie und Einfühlungsvermögen. Monika hat ihren Außenseiterstatus erkannt und beklagt. Mit ihrem Aufenthalt auf Capri fand sie endlich Ruhe.

Das Bild dieser außergewöhnlichen Familie, die in der literarischen Welt durch den Schriftsteller Thomas Mann Berühmtheit erlangte, ist immer wieder spannend. Familien aber sind zu allen Zeiten im Bemühen um Einigkeit sehr häufig zum Scheitern verurteilt. In der Literatur gibt es zahlreiche Beispiele dafür.

Das Quellenverzeichnis ist aufschlussreich und zeigt die Sorgfalt, mit der das Buch konzipiert ist.

Eine klare Empfehlung!

Kerstin Holzer
Monascella
208 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, 2. Auflage, November 2022
ISBN-10: 3423290420
ISBN-13: 978-3423290425
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