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Kategorie: Belletristik

Julian Barnes: Die einzige Geschichte

Julian Barnes: Die einzige Geschichte

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Julian Barnes führt uns in seiner einzigartigen Erzählweise die Geschichte seines Icherzählers und dessen erster großer Liebe vor.

Auf dem Tennisplatz, wohin Paul im Alter von 19 Jahren auf Drängeln seiner Mutter zur Ausschau nach einer geeigneten Partnerin fürs Leben geschickt wurde, lernt er die zwanzig Jahre ältere Susan kennen.

Paul lebt mit seinen Eltern in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer bürgerlichen Siedlung südlich von London in Gemeinschaft mit saturierten Bürgern der Mittelschicht.

Paul ist reichlich angeödet von dem englischen, prüden und langweiligen Milieu, in dem er aufwuchs, und das ihn nach dem ersten Studiensemester noch mehr auf die Nerven geht. Seine pauschale Bezeichnung für die Kinder dieser Schicht sind Hugos und Carolines, die nur darauf warten, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Dort gibt es dann die obligatorische Eheschließung, Kinder, Hund und Haus.

Paul aber sucht anderes und rebelliert gegen die Vorgaben seiner Eltern.

In Susan findet er den Gegenpart zum Spießerleben seiner Umgebung. Sie hat Mann und Töchter, die sogar älter als Paul sind, ist lustig, lebt dem Augenblick, und freut sich an ihrer gemeinsamen Liebe. Ihr sexuelles Eheleben ist schon lange erloschen. Umso euphorischer ist die Erkenntnis, dass sie von ihrem jungen Liebhaber als anziehend und liebenswert empfunden wird. Leider bleibt die Zeit nicht stehen, nie, und so verliert sich die Geschichte nach und nach in einer tragischen Lebensform. Susan trennt sich von Mann und Kindern und lebt mit Paul zusammen. Er vollendet sein Jurastudium. Die Leidenschaft der Anfangszeit weicht bald einem langweiligen Alltag.

Beide wollen das lange nicht wahrhaben und klammern sich an die Erinnerung ihrer frühen ersten Begegnung.

Daneben ereignet sich eine innere Wandlung, die in erschütternder Weise Susan als innerlich leer und dem Alkohol verfallende Frau zeigt. Der Alltag spielt nun bald keine Rolle mehr. Barnes geht in die Tiefe und versucht vergeblich zu ergründen, was zu der entgleisenden Entwicklung beigetragen haben könnte. Paul ist gewissenhaft und hilft noch lange, wo und wie er kann, gibt aber schließlich auf.

Die Mischung aus Alltagsgeschichten und Beleuchtung des spießigen Bürgertums mit Ausflügen in philosophische Gedankenwelten sind es, die uns die Geschichte nahebringt, zu eigenem Nachdenken reizt und von tiefer Weisheit zeugt. Die nach und nach enthüllende Leere zwischen dem Paar lässt keine Hoffnung keimen.

In einem dritten Teil des Romans zieht Paul seiner Wege und lebt in Zukunft ein einsames Leben. Eine neue Liebesgeschichte ist nach kurzen Versuchen nicht in Sicht.

Julian Barnes wäre nicht der Schriftsteller von Weltruf, wenn er seine Geschichte nicht mit Erkenntnissen, Weisheiten, Reflexionen und der Darstellung momentaner Gefühlslagen gespickt hätte. Poetisch und brillant sind seine Stimmungsbilder, mit denen er äußere und innere Befindlichkeiten ans Licht bringt. Man ist tief bewegt und angerührt darüber, wie Lebenswege verlaufen können. Was ist determiniert, und was selbst verschuldet? Die Frage nach der Schuld stellt sich nicht. Es wird seziert und wiedergegeben, was passiert. Fazit: Lebensläufe werden von unerwarteten äußeren und inneren Entwicklungen mitbestimmt.

Am Ende erfahren wir eine resignierte Weltsicht, nüchtern und ohne Zukunftsvision oder Hoffnung.

Was bleibt ist die Erkenntnis, dass hier ein Autor wirklich viel vom Leben und von seinen Höhen und Tiefen versteht und dieses Wissen in geeigneter Form dem Leser zu vermitteln versteht. Dr Bogen von erster Liebe bis zum Aus ist weit gespannt und fasziniert von der ersten bis zur letzten Zeile!

Julian Barnes
Die einzige Geschichte
304 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2019
ISBN-10: 3462051547
ISBN-13: 978-3462051544
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Jane Gardam: Weit weg von Verona

Jane Gardam: Weit weg von Verona

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Jessica ist eine aufsässige kleine Person, die immer und fast überall aneckt. Wir erleben sie als Schülerin mit 9 Jahren. Der Zweite Weltkrieg überschattet ihr Leben und das ihrer Mitmenschen an der Nordostküste von England.

Als sie in der Schule einen Schriftsteller kennenlernt, der ihre Art zu schreiben als begabt einordnet, bleibt sie besessen vom Schreiben, das sie schon lange praktiziert. Die Liebe zur Literatur und ihr Bekenntnis, dass sie nicht beliebt ist, sind die ehrlichen Selbsteinsichten dieses eigenwilligen jungen Mädchens.

Ihre Familie ist beschäftigt mit Kriegsbedrohung und Not. Der Vater, einst ein Lehrer, lässt sich an die Nordostküste Englands versetzen, wo er sich als Hilfsprediger betätigt. Jessica muss sich neu in eine fremde Schule eingewöhnen. Die Mädchen und Lehrerinnen sind ihr nicht immer wohl gesonnen!

Von Beginn an bleibt man fasziniert vom Eigensinn und von der Burschikosität, mit der sich Jessica überall ihren Weg bahnt. Sie sagt immer genau das, was ihr in den Sinn kommt und stößt damit so manchen Mitmenschen vor den Kopf.

Voller Witz und Sprachreichtum sind die Lebenserfahrungen der Schülerin, die immer wieder in denkwürdige Abenteuer – und Kriegserlebnisse verstrickt wird. Sie legt sich mit Lehrern und Eltern an und geht zielstrebig ihren eigenen Interessen nach.

Die Unmittelbarkeit und Frische, mit der Jane Gardam ihre Figur agieren lässt, zieht den Leser sogleich in Bann. Mit wehenden Kleidern läuft Jessica z. B. dem Schriftsteller nach der Schulstunde hinterher, um ihm ihre Konvolute in die Hand zu drücken, nicht ahnend, dass dieser sie nach der Lektüre in Anerkennung ihrer Begabung wirklich zu einer Schriftstellerin erklärt.

Leider kann Jane Gardam den Spannungsbogen in diesem Roman nicht durchhalten. Zu abgesetzt und willkürlich erlebt man die Abenteuer der Protagonistin, und zu viele Personen spielen in die Geschichte hinein. Es gehört Geduld dazu, um allen ihren Eskapaden zu folgen. Alleine ihre Liebe und fast Leidenschaft zur Literatur bleibt durchweg erhalten und krönt das Ende der Geschichte.

Die Autorin ist einem breiten Leserpublikum bekannt durch die Trilogie ihrer Romane um den „old Filth“ genannten Anwalt in der Kronkolonie Hongkong. Diese Romane haben die Literaturszene eines breiten Lesepublikums und auch mich zu Begeisterungsstürmen hingerissen.

Jane Gardam ist spät entdeckt worden und feierte ebenso einen späten Ruhm mit ihrem Werk. Der vorliegende Roman ist schon 1971 erschienen und gilt als ihr erster. Er kann m.E. mit den drei berühmten späteren Werken über die Anwälte in der Kronkolonie Hongkong nicht mithalten.

Jane Gardam
Weit weg von Verona
240 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, Juli 2018
ISBN-13: 978-3446260405
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Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter

Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter

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Die Erzählung führt uns in die Mitte der sechziger Jahre an den Rand einer kleinen Stadt bei Köln: hier lebt das Ehepaar Ahrens in einem neu gebauten Einfamilienhaus mit Doppelgarage und Waschbetonterrasse. Tobi, der Sohn und Icherzähler, ist 11 Jahre alt. Schon bald ziehen neue Nachbarn ein. Sie stellen sich vor als Ehepaar Leinhard mit Tochter Rosa, die mit ihren 12 Jahren schon mitten in der Pubertät steckt.

Die sechziger Jahre werden mit diesen beiden Familien, ihrem Leben, ihren Gedanken und ihren Lebensformen vom Autor kolossal gut charakterisiert. Geht es doch darum, über Verklemmung und Fortschritt zu berichten.

Die Eheleute Leinhard verkörpern die intellektuelle Elite ihrer Zeit mit Adorno, Bloch und der Frankfurter Schule. Professor Leinhard lehrt Philosophie und ist Vertreter einer glühenden Weltbesserung. In den abendlichen Unterhaltungen wird viel vom Geist der damaligen Zeit spürbar. Ein wenig Salonkommunismus spielt in die Gespräche hinein.

Das Ehepaar Ahrens lebt in wirtschaftlich guten Verhältnissen, ist aber sexuell verklemmt, was auch dem Sohn aus nächtlich belauschten Gesprächen seiner Eltern ein wenig spürbar wird. Er kennt sich aber mit der Sexualität noch nicht so aus, denn seine Interessen liegen eindeutig bei der Erforschung des Weltraums.

Herr Ahrens ist ein liebevoller und partnerschaftlicher Vater für seinen Sohn und hält dennoch die Generationenschranke ein, “weil Kindheit schön ist“.

Als seine Frau der neuen Nachbarin nacheifert und Englisch lernen will, um wie diese Kriminalromane aus dem Englischen übersetzen zu können, ist er vollends ratlos! Was sollen die Freunde und Kollegen denken, da er doch gut verdient, und sie ihr Auskommen haben? Bürgerliche Wohlanständigkeit und eben solche Regeln vereinbaren sich schlecht mit der allgemeinen Aufbruchsstimmung hinzu mehr Freizügigkeit in allen Bereichen.

Mit dem Zusammenspiel der beiden Paare wird eine leicht erotisierende Stimmung erzeugt, die auch die beiden Kinder zusammenführt.

Woelk lässt die Zeit der sechziger Jahre neu erstehen. War es doch der Beginn gesellschaftlicher Umwälzungen in Form von Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, Befreiung der Frauen aus sexueller und wirtschaftlicher Abhängigkeit und ganz allgemein in weiten Kreisen auch Befreiung aus bürgerlichen Zwängen. Kindern wurde Freizügigkeit gewährt, und die Formen pädagogischer Allmacht lösten sich auf. Jeder wollte auf seine Weise an der allgemeinen Aufbruchsstimmung teilhaben.

Aus der Perspektive des 11 jährigen erscheinen die Beobachtungen teilweise naiv und sind von Ahnung, Unwissenheit, Hoffnung und Neugierde gekennzeichnet. Die Sätze sind knapp und kurz und zuweilen in ihrer Naivität auch drollig.

Dass die Geschichte einen unerwarteten und tragischen Ausgang nimmt, lässt sich zu Beginn nicht ahnen. Alles in Allem ist es Ulrich Woelk gelungen, ein Zeitkolorit mit adäquaten Stimmungsbildern zu erfassen. Das Büchlein ist konzentriert und inhaltsreich und sehr empfehlenswert!

Ulrich Woelk
Der Sommer meiner Mutter
189 Seiten, gebunden
C.H.Beck, Januar 2019)
ISBN-10: 3406734499
ISBN-13: 978-3406734496
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Pedro Lenz: Die schöne Fanny

Pedro Lenz: Die schöne Fanny

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Drei Freunde leben in diesem Roman in den Tag hinein: Frank alias Jackpot, Louis und Grunz; letztere sind Maler, Jackpot freier Schriftsteller. Während die beiden Maler noch etwas zustande bringen, ist der Schriftsteller immer vermeintlich auf Erfolgskurs, hat aber fast noch keine Zeile für seinen neuen Roman geschrieben. Sie leben in der kleinen Stadt Olten in der Schweiz.

Die beiden Maler sind schon an die 70 Jahre alt, Jackpot ist nur halb so alt.

Alles dreht sich um die schöne Fanny, ein Modell der beiden Maler, in die sich Jackpot unsterblich verliebt. Er wartet, sucht und findet sie ab und zu wieder, aber sie bleibt nie lange, und für ihn ist sie geheimnisumwittert. Wie sich später rausstellen soll: zu Recht!

Mit einem lockeren, amüsierten Tonfall mit zahlreichen lakonischen Einschüben hat Pedro Lenz seinen Roman garniert. Man liest ihn mit Schmunzeln und ergötzt sich an dem leichtlebigen Dasein der drei Künstler. Der Roman gemahnt an eine Art Schelmenroman, in der es um die unbeschwerte Lebensart und die heitere Liebe geht. Der Ton bleibt immer witzig und locker. Man zieht sich gegenseitig ein wenig auf und verbringt viele Stunden beim gemeinsamen Essen und Trinken. Ausstellungseröffnungen und Begegnungen mit vielerlei Charakteren geben den Roman den Pfiff und eine gewisse Aktualität. Der Text ist angereichert mit durchaus klugen, zuweilen gar philosophischen Gedanken und setzt eine gewisse Bildung voraus. „Ich beschloss, mit dem Nachdenken aufzuhören. Aber mach das mal bewusst, nicht mehr zu denken. Das funktioniert nicht, weil auch der Gedanken, nicht denken zu wollen, gedacht werden muss“. Logisch, nicht wahr?

In der Erzählung von Pedro Lenz geht es u.a. auch um die ganz alltäglichen Dinge wie die Beschaffung von Geld.

Der immer wieder angekündigte Roman von Jackpot bleibt lange nur Fiktion, denn es fehlt ihm an Eingebung. Sein Bruder, ein erfolgreicher Geschäftsmann, unterstützt ihn großzügig mit Geld, so dass er seinem Bohèmeleben frönen kann, ohne zu verhungern.

Man wartet geduldig darauf, dass seine Liebesgeschichte und die Gestaltung seines Romans Formen annimmt. So lange darf man weiter an den ergötzlichen Tagesereignissen teilnehmen.

Ach, aber alles kommt am Ende ganz anders als erwartet! Die Geschichte steuert auf ein gutes Ende zu.

Das Leben: es spielt zuweilen verrückt. In diesem Roman dürfen wir der Leichtigkeit des Seins nachspüren. Spannung darf man nicht erwarten. Man freut sich am Ende an der Auflösung des Rätsels um Fannys Leben und Jackpots Roman und hat unterhaltsame Stunden gehabt. Die Empfehlung des Schweizer Literaturclubs ist gerechtfertigt!

Pedro Lenz
Die schöne Fanny
256 Seiten, gebunden
Kein & Aber
ISBN-10: 3036957677
ISBN-13: 978-3036957678
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Jeffrey Eugenides: Das große Experiment

Jeffrey Eugenides: Das große Experiment

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Jeffrey Eugenides gehört zu den großen amerikanischen Erzählern, die in einem Atemzug mit Jonathan Franzen, Siri Hustvedt und Richard Powers genannt werden.

Mit seinem Roman „Middlesex“ machte er vor Jahren Furore.

Nun also hat er einen Band mit Erzählungen vorgelegt.

Auch hier begibt sich der Autor in die Welt der Menschen mit ihren Kümmernissen, Erfolgen und Niederlagen, es geht um Alter, Sterben und Tod. Sehr schön nimmt Eugenides in seiner ersten Erzählung Bezug auf das Buch von Wallis: „Zwei alte Frauen“, die von ihrem Stamm im Norden Alaskas abgehängt wurden, weil sie zu nichts mehr taugten. Hier sind es Cathy und Della, die Freundinnen sind und sich immer umeinander gekümmert haben. Als Della wegen Demenz ins Altenheim abgeschoben werden soll, packen sie die Sachen und entfliehen dem Heim. In Gedanken spult der Autor das Leben der beiden zurück. So entsteht eine Geschichte, die wie ein eigener kleiner Roman anmutet.

Eine Geschichte nach der anderen enthüllt die Wirklichkeit der Protagonisten, ihre Sorgen, Nöte und Liebesabenteuer. Die Geschichten sind nicht immer heiter. So ist das Leben: geprägt von Höhen und Tiefen und immer wieder von Familienbanden, die uns Menschen umgeben und so manche Missgeschicke neben der Nähe und Fürsorge offenbaren. Wir hören von Rodney und Rebecca: sie näht Stoffmäuse, von deren Verkauf die Familie lebt. Rodney frönt der alten Musik und hat sich mit dem Kauf eines Clavichords so übernommen, dass die Schulden ihm über den Kopf wachsen. Wieder eine andere Protagonistin versucht verzweifelt, durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden. Mit den Männern hat es nicht geklappt, jetzt ist sie schon vierzig und es wird höchste Zeit für eine Schwangerschaft.

So reiht sich eine Erzählung an die andere. Man sollte Pausen machen zwischen dem Lesen, denn so inhaltsreich, persönlich und empathisch ist jede Erzählung für sich, dass man sie erst in sich nachwirken lassen will, bevor man sich an das nächste Kleinod wagt.

Alles in Allem sind die Geschichten tragisch. Sie handeln von vergehender Liebe, von Vergänglichkeit, von Alter und Tod. Sie handeln davon, wie das Leben ist!

Die Feinsinnigkeit, mit der die Figuren gezeichnet sind, machen das Leseerlebnis aus. Atmosphärisch dicht und wahrheitsgetreu wird hier gezeigt, wie wenig vielversprechend Leben sein kann. Die glücklichen Momente sind nicht von Dauer. Und doch gibt es auch Erfolge beim Lebenskampf und gelegentlichen Überlebensstrategien, die man nur bewundern kann.

Jeffrey Eugenides
Das große Experiment
336 Seiten, gebunden
Rowohlt Buchverlag, November 2018
ISBN-10: 349801675X
ISBN-13: 978-3498016753
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Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte

Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte

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Mit einer Widmung an seine Geliebte Stella beginnt Ford Madox Ford seinen Roman, ursprünglich „The Good Soldier“ betitelt, über zwei Ehepaare zu Beginn des Ersten Weltkriegs.

Die Geschichte ist sehr geheimnisvoll, steckt voller ahnungsvoller Gedanken über ein Geschehen, dass wir zu Beginn noch nicht erkennen. Edward Ashburnham, seine Frau Leonora, der Erzähler John Dowell und dessen Frau Florence verbringen jeden Sommer Tage der Kur in Bad Nauheim. Man ist sich in allem einig und es herrscht eitel Harmonie. Doch war das wirklich so?

Ein wenig mühsam muss man sich durch die einzelnen Episoden hindurchquälen, bis man einen roten Faden erkennt.

Langsam gewinnt man Einblick in das Leben und Treiben der vier Personen.

Florence und Dowell stammen aus Amerika, die anderen sind Engländer. Florence ist sehr krank, das darf man schon bald erfahren. So denkt man zunächst an eine gesellige Zeit der Kur für alle Beteiligten.

Die Geschichte entwickelt sich jedoch zu einer unendlichen Liebesgeschichte. Sie betrifft vor allem Edward Ashburnham, der seine Finger von keiner neuen Begegnung mit einer Frau lassen kann. Ob es sich um Florence oder andere weibliche Bekannte aus seinem Umkreis handelt: er scheut keine Mühen und kein Geld, um sich mit Damen aller Couleur zu verlustieren. Leonora ist die Leidtragende, die seine vielfachen Liebschaften erträgt und seine Finanzen in die Hand nimmt, um den totalen Ruin zu verhindern. Der 4. August ist ein magisches Datum, an dem sich immer wieder Entscheidendes ereignet. Der 4. August 1913 ist der letzte Abend in Bad Nauheim, bevor eine Katastrophe dem hässlichen Spiel zunächst ein Ende macht.

Es soll nicht zu viel des Inhalts verraten werden, denn genau genommen geht es um den Stil und die atmosphärische Widergabe einer längst vergangenen Welt. Es geht um die s.Zt. herrschende Moral und den gesellschaftlichen Umgang in bestimmten Kreisen. Verwirrend ist die Vielzahl an Männern und Frauen, die sich lieben, hassen, betrügen und verlassen. Immer im Zentrum sind die oben genannten Ehepaare. Die bizarren Verbindungen zeigen uns das verblasste Gesellschaftsbild der zwanziger Jahre in England, Frankreich und Deutschland.

Man liest das Buch in Muße und Geduld, um sich noch einmal auf die ferne Zeit   einzulassen. Literarisch vollkommen und doch breit angelegt werden wir mit einem Autor bekannt gemacht, der nur diesen einen Roman geschrieben haben soll. Er erschien 1915. Ford Madox Ford  (1873 -1939) war bekannt und befreundet mit zahlreichen Schriftstellern seiner Zeit: Hemingway, Henry James, Galsworthy  und Joseph Conrad, mit dem ihn „eine tiefe Freundschaft verband“( Wikipedia).

Julian Barnes gibt im Anhang einen Einblick in das Leben des Autors.

Der Roman ist lesenswert für Menschen mit literarisch hohen Ansprüchen.

Die Aufmachung des kleinen Werks ist edel gestaltet und bietet den Hinweis auf eine wertvolle Lektüre.

Ford Madox Ford
Die allertraurigste Geschichte
320 Seiten, gebunden
Diogenes; Auflage: New edition, November 2018
ISBN-10: 3257070381
ISBN-13: 978-3257070385
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Elizabeth Strout: Alles ist möglich

Elizabeth Strout: Alles ist möglich

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Wie immer nimmt sich Elizabeth Strout des Lebens der kleinen Leute an. Sie leben im Mittelwesten in Illinios oder Iowa. Man betreibt Mais- und Sojaanbau oder Milchwirtschaft, womit der Lebensunterhalt je nach Erntelage gesichert scheint. Tommys Hof ist abgebrannt, so dass er sich als Hausmeister einer Schule verdingt. Da bekommt man einiges mit, was in den Familien passiert.

Es gibt die Eheleute mit einem langen gemeinsamen Leben, in dem sich dennoch ihr Glück nicht erfüllt; man findet verkorkste junge und ältere Leute, liebestolle Partner und impotente Ehemänner. Auch der nicht erfüllte Kinderwunsch findet sich unter den Ehefrauen. Eine jede Person hat ein ihr eigenes Schicksal. Es gibt Kinder, die den elterlichen Schlägen ausgesetzt waren, und aus denen nichts geworden ist. Aber auch eine erfolgreiche Schriftstellerin findet sich unter den beschriebenen Menschen, die E. Strout mit ihrem unnachahmlichen Erzähltalent der Realität der kleinen Provinzstädte nachempfunden hat.

Sie fängt ein Klima der Kleinbürgerlichkeit und der Engherzigkeit, der Intimität und der Absurdität ein, wie es ihresgleichen sucht. Ihre Erzählweise ist so lebendig und berückend, dabei keineswegs herablassend, dass man unwillkürlich in das Leben der von ihr beschriebenen Menschen reinschaut und zum Teilnehmer der vielen unterschiedlichen Lebensentwicklungen wird. Verbindungen der einzelnen Schicksale ergeben sich aus Nachbarschaft, Familienkonstellationen, Mitschülern und Ähnlichem. Man kann kaum glauben, wie beredt Elizabeth Strout sich in die Menschen einfühlt, denen sie Gesichter und Farben gibt. Und dann finden sich einfache Sätze wie „Sie berührte nur kurz seinen Arm. Da saßen sie, in der Sonne“, mit dem ein Kapitel schließt. (S.64) Besser kann man kaum ausdrücken, wie sich ein Ehepaar auch ohne große Worte versteht.

Liebesglück und Alterseinsamkeit, Eifersucht und Armut, Anhänglichkeit und nachbarschaftlicher Tratsch füllen ihren Roman, und wir erleben, wie die Welt wirklich ist.

Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, Gelassenheit und „sich abfinden“ sind die wahren Grundlagen für ein glückliches Leben. Aber wer findet zu dieser Weisheit? Es sind nur wenige, doch auch sie haben ihren Platz in der Erzählung.

Sich in diesem Kosmos zu bewegen und den Figuren zu folgen schafft dem Leser Glück und Anregung, sich über das Leben in seinen verschiedenen Schattierungen eigene Gedanken zu machen und zu den eigenen Erfahrungen neue Erkenntnisse hinzuzufügen. Am Ende heißt es in einem melancholischen Abgesang „Alles war möglich, für jeden“.

Ein rundum gelungener Roman liegt mit dieser Neuerscheinung vor.

Elizabeth Strout lebt in New York und Maine. Sie wurde für ihre Romane vielfach ausgezeichnet.

Elizabeth Strout
Alles ist möglich
256 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, November 2018
ISBN-10: 3630875289
ISBN-13: 978-3630875286
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Jean-Philippe Blondel: Ein Winter in Paris

Jean-Philippe Blondel: Ein Winter in Paris

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Victor studiert am Lycée D. Paris in der Vorbereitungsklasse. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und ist froh, nun ein eigenes Leben zu haben. Doch es fällt ihm nicht leicht, dem Druck standzuhalten. Das Studium überfordert in. Dazu kommt, dass er kaum wahrgenommen wird. Freunde findet er nicht, dabei sehnt er sich nach Halt und Austausch. Aber vielleicht lässt sich mit Mathieu etwas aufbauen. Hin und wieder eine Zigarette zusammen zu rauchen, könnte der Anfang einer Freundschaft sein, auch wenn Mathieu einen Kurs unter ihm ist. Victor nimmt sich vor, ihn zu seinem Geburtstag einzuladen.

Doch soweit kommt es nicht. Mathieu stürmt nach einem Vorfall aus dem Klassenraum und springt über das Geländer. Victor sieht ihn am Boden liegen und kann es nicht fassen. Nur langsam realisiert er, was geschehen ist.
Auch wenn beide sich kaum kannten, wird er nun als Freund des Opfers für die anderen sichtbar. Mathieus Vater kommt nach Paris. Er will wissen, was geschehen ist und hofft darauf, dass Victor ihm helfen kann.

Das Buch ist sehr ergreifend. Es geht nicht so sehr um Mathieu und die Gründe für seinen Selbstmord, auch wenn das starre Schulsystem zusammen mit dem tyrannischen Lehrer Clauzet zur Sprache kommt. Vielmehr ist Victor die Hauptperson. Er lernt Mathieu erst nach dessen Tod besser kennen. Er wird erst jetzt zu einem Freund, so seltsam das klingt. Victor ist verstört und angreifbar, wie sollte es auch anders sein? Dadurch gelingt es Mathieus Vater Patrick Lestaing ihn für sich zu instrumentalisieren. Vielleicht geschieht das nicht bewusst. Aber Victor ist der Einzige, der ihn seinem Sohn noch einmal näher bringen kann. Er hat viel versäumt als Vater.

Die Geschichte wird im Rückblick erzählt. 30 Jahre sind vergangen, aber nichts ist vergessen. Das bietet viel Raum für Interpretationsmöglichkeiten. Der Schluss im Buch ist kein Ende. Es lässt den Leser zurück mit seinen Gedanken über das eigene Leben. Die melancholische Atmosphäre bleibt. Die Geister der Vergangenheit bleiben. Das Buch ist sehr traurig und doch auch melancholisch schön und anrührend.

Rezension von Heike Rau

Jean-Philippe Blondel
Ein Winter in Paris
Aus dem Französischen von Anne Braun
192 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-13: 978-3552063778
ISBN-10: 3552063773
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John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie

John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie

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Dieser Roman erzählt in fachlich kompetenter Weise von einer Ehetherapie.

Das Paar Stev und Charlotte haben sich getrennt und wollen einen letzten Versuch wagen, ihre Ehe zu retten. Sie ist Universitätsdozentin und er Teilhaber an einer großen Kapitalinvestmentfirma. Sie haben zwei kleine Kinder und wohnen bereits in getrennten Wohnungen.

Sandy, die Eheberaterin, führt gekonnt in die Gesprächstechnik ein, mit der sie sich den Menschen in ihren besonderen Konfliktsituationen nähert.

Feinfühlig sind ihre Fragen und Aufforderungen, mit denen sie die Partner animiert, sich zu dieser oder jener Situation zu äußern.

Sie registriert in Zwischengedanken ihre Eindrücke, die sich ihr aus den Worten der Klienten erschließen.

Worum geht es?

Wie in so vielen Ehen haben Steven und Charlotte aufgehört, miteinander zu reden.
Jeder ist seiner Wege gegangen bis hin zu neuen Partnerbeziehungen. Das allerdings haben sie beide so nicht ausgemacht! Diese Beziehungen werden folglich als Seitensprünge bezeichnet.

So wie sich die Beziehung der beiden entwickelt, sieht es nicht danach aus, dass sie wieder zusammenkommen könnten. Charlotte ist aufmüpfig und wütend über Stevs Seitensprünge, während Stev nach heftigem Zerwürfnis immer neue Versuche startet, um Charlotte zurückzugewinnen, die ebenfalls inzwischen außereheliche Beziehungen eingegangen ist. Er ist eifersüchtig, spioniert ihr nach und macht ihr Zusammensein fast unmöglich.
Da beide zusammen eine Ehetherapie beginnen, scheinen sie die Hoffnung zu hegen, vielleicht noch etwas retten zu können.

Man merkt, dass der Autor Jay Osborn genaue Kenntnis vom unterschwelligen Miteinander ratsuchender Kontrahenten hat.

Die Gespräche mit der Therapeutin werden als Versuch dargestellt, erst einmal Ordnung in die Gefühlswelt der Ratsuchenden zu bringen d.h., sich selbst bewusst zu machen, wo sie überhaupt stehen, und was sie wollen. Es ist ein mühsames Unterfangen!

Es gibt Szenen von wütendem Aufbegehren und Missverstehen und langsam wachsender Einsicht, wie sehr einer den anderen verletzt hat.

Menschen wissen oft nicht, wie sie über ihre Gefühle sprechen sollen und geraten gerade dadurch in so genannte „Kommunikations Sackgassen“. Erst, wer seine eigenen Gefühle kennt und direkt darüber sprechen kann, wird im Leben Frieden finden und sich nicht im Netz von Missverstehen, falschen Verdächtigungen und Kränkungen verfangen.

Die Therapeutin Sandy sucht immer neue Wege, um die Klienten zu Selbsteinsichten zu führen. Diese könnten eine Änderung im Verhalten erst möglich machen.

Man wird als Leser quasi zum voyeuristischen Zuschauer beim Aufblättern zweier unterschiedlicher Charaktere und deren Ausdrucksformen. Der Roman wird zu einer Lehre in Sachen „Eheberatung“.
Dieses Fazit lässt sich aus den hervorragenden Beschreibungen von John Jay Osborn ziehen. Der Roman ist nicht nur von literarischem Wert sondern bietet auch lehrreiche Einblicke in therapeutische Abläufe.

John Jay Osborn ist Juraprofessor, Anwalt und lebt in Palo Alto.

John Jay Osborn
Liebe ist die beste Therapie
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Diogenes, Oktober 2018)
ISBN-10: 3257070438
ISBN-13: 978-3257070439
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Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse

Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse

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Adriana Altaras ist Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin.

Sie hat mit ihrem Buch „Titos Brille“ s.Zt. einen Coup gelandet, der ihr hohe Anerkennung eingebracht hat. Seit dieser Zeit kennt man sie als schlagfertig, eloquent, witzig und fantasiebegabt. Genauso erlebt man sie in ihrem neuen Roman „Die jüdische Souffleuse“.

Schmissig, spitzig und flott beginnt die Autorin ihre Erzählung über eine jüdische Souffleuse, die sie auf einer ihrer Theatertourneen kennenlernt.

Adriana will in einer beliebigen deutschen Stadt eine Mozartoper einstudieren.

Ihre treuen Begleiter sind der Bühnenbildner Elio und die Kostümbildnerin Nora. Mit ihnen ist sie schon durch Dick und Dünn gegangen.

Dieses Mal aber erlebt sie eine ungewöhnliche Begegnung. Susanne oder besser „Sissele“, die Souffleuse des Theaters, wirkt überspannt und durchgedreht. Sie tischt der zunächst etwas gelangweilten Adriana eine Geschichte auf, von der man nicht recht weiß: ist sie erfunden oder entspricht sie der Wahrheit? Sie will Adriana bei der Suche nach ihren Verwandten um Hilfe bitten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in alle Welt verstreuten wurden.

Kurz gesagt geht es um ein jüdisches Schicksal, das einmal mehr höchst diffizil und wirklich kaum glaubhaft erscheint. Doch wird die Erzählerin mehr und mehr in Bann gezogen, und, wie könnte es anders sein, Adriana fühlt sich emotional angerührt.

Eingestreut in die Alltagserlebnisse der Regisseurin nimmt die Geschichte einen sehr spannenden und ungewöhnlichen Verlauf.

Der Lebenslauf von Sissele ist verwirrend. Sie wurde nach dem Krieg in Israel geboren, ist mit ihren Eltern nach Deutschland eingewandert als sie knapp 1 Jahr alt war und wurde früh nach dem Tod der Mutter Halbwaise. Damit nahm ihr unglückliches Schicksal seinen Lauf.

Der Vater ließ sie einmal hier und einmal dort und riss sie immer wieder aus den jeweils einigermaßen erträglichen Lebensstationen heraus. Zuletzt gab er sie zu Nonnen in ein katholisches Kloster. Auch sein Schicksal ist Nebenschauplatz der Erzählung.

In lockerer, leichter Manier rollt Adriana Altaras das Leben dieser an den Folgen des Zweiten Weltkriegs immer noch leidenden Mitbürgerin Sissele auf. Jüdisches Leben, Verfolgung und drastische Schilderungen aus den Kzs geben der Erzählung Tiefe und zeigen zugleich, wie schnell alles in Vergessenheit zu geraten droht. Herzenswärme und Mitgefühl ziehen Adriana hinein in die Suche, die auf ungewöhnlichem Wege zu einer glücklichen Lösung führt.

Zuweilen mutet die Erzählung ein wenig zu spöttisch und leicht erzählt an. Die eingestreuten Witze gehören wohl dazu, wenn man eine Erzählung beschwingter daherkommen lassen will, als sie ist. Der rote Faden muss immer wieder zwischen Theaterproben und Alltagsgeschichten gesucht werden. Eigenes Leben, Alltag und Gefühlsbeschreibungen nehmen ebenso viel Platz ein wie die Geschichte der jüdischen Souffleuse. Alles in allem ist der Roman leicht zu lesen, unterhaltsam und witzig.

Adriana Altaras
Die jüdische Souffleuse
208 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Oktober 2018
ISBN-10: 3462051997
ISBN-13: 978-3462051995
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