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Kategorie: Belletristik

Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war

Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war

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Eines Tages taucht ein Mädchen auf einem niederösterreichischen Bauernhof auf. Es ist Oktober 1944. Niemand vermag zu sagen, was ihr passiert ist. Sie scheint keine Erinnerung zu haben. Man nimmt an, dass ihre Eltern bei einem Luftangriff umgekommen sind. Das Mädchen wird von der Familie Leithner, die selbst viele Kinder hat, aufgenommen und Nelli genannt. Das geschieht auf eine sehr selbstverständliche Art und Weise.
Einige Monate später kommt ein junger Russe dazu. Er hat eine geheimnisvolle Leinwandrolle dabei, sonst nichts. Er ist kein Maler. Auch er fügt sich in das vorgegebene Leben ein.

Ein mühevoller Alltag wird gelebt, so wie es eben geht zu Kriegszeiten, bis sich eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten auf dem Bauernhof einquartiert. Die Angst wächst. Jetzt zählt der Zusammenhalt der gesamten Familie. Nelli beobachtet die Situation genau. Sie analysiert das Geschehen. Malt sich aus, was passieren könnte und sieht ein wenig zeitversetzt, was wirklich geschieht. Die Situation der Familie wird immer schwieriger. Sie sieht sich einer ungeheuren Provokation gegenüber, der sie begegnen muss, ohne zu reagieren. Aber es geht so nicht. Es mindert die Gefahr nicht. Letztendlich dreht sich alles um das Kunstobjekt in der Rolle und das Geheimnis, das damit bewahrt werden soll.

Der Autor erzählt die Geschichte, die mit Erinnerungen seines Großvaters verbunden ist, sehr anschaulich aus der Sicht der 13-jährigen Nelli. Die angespannte Lage ist jederzeit spürbar, auch wenn er hier nicht ins Detail geht. Nelly analysiert jede Situation und stellt sich immer vor, wie diese ausgehen könnte. Sie baut auf diese Weise eine Mauer und versucht, sich als Beobachter abzugrenzen. Ihre Vorstellung und die Wirklichkeit triften oft auseinander. Es gibt keine Sicherheit. Sie kann Situationen zu diesem Zeitpunkt nicht beeinflussen.

Der Autor beschreibt sehr bildhaft und mit psychologischem Feingefühl, wie es der Familie geht. Er nutzt dafür das, was die Kinder sagen. Oft sind es Sätze, die so erstaunlich sind, so naiv und doch so wahr! Die Geschichte geht sehr nahe und wirkt lange nach.

Rezension von Heike Rau

Paulus Hochgatterer
Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war
Erzählung
112 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-10: 3552063498
ISBN-13: 978-3552063495
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Sonja Heiss: Rimini

Sonja Heiss: Rimini

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Familienleben mit vielen Zwischentönen.

Drei Paare: Eltern, Tochter und Sohn mit Partnern bilden den Mittelpunkt dieser Geschichte, in der es um Liebe, Treue, Anhänglichkeit, Versagen und wie immer auch Vergänglichkeit geht.

Die Eltern, Barbara und Alexander, haben bereits nach langen Ehejahren ihr Rentenalter erreicht. Weihnachten treffen alle wie gewohnt zusammen.

Hans, ihr Sohn und Anwalt von Beruf, dümpelt in seiner Ehe mit einer sehr dominanten Frau vor sich hin. Ihre beiden Kinder Lou und Leo sind in den Augen der Großeltern reichlich streng und rigide erzogen. Und Masha erst! Sie ist die jüngere Schwester von Hans und mit 39 eigentlich ein altes Mädchen, aber auch sie scheint den Absprung ins eigene Leben nicht recht zu schaffen. Das Weihnachtstreffen findet bei Hans und Ellen statt und rundheraus lässt sich sagen: alle gehen einander auf die Nerven. Irgendetwas scheint allen zu fehlen, um zu einem glücklichen und autonomen Leben zu finden.

Gespannt folgt der Leser einer Entwicklung, bei der so nach und nach die Eigenheiten aller Partner zum Vorschein kommen, und man ist nicht erfreut, wie unübersichtlich das emotionale Durcheinander aller Beteiligten ist.

Außer Ellen, dieser großen und durchsetzungsfähigen Frau von Hans, gehen alle scheinbar gegenseitig aneinander unter.

Hans leidet an unkontrollierten Wutanfällen und besucht regelmäßig eine Psychoanalytikerin, in die er sich zuletzt verliebt. Damit ist der Therapieerfolg natürlich ausgeschlossen.

Alles in allem beruhen die Thesen des Romans auf der Erkenntnis, dass Menschen im Laufe ihres Lebens Wandlungen durchmachen, die sehr häufig das Zusammenleben stören.

Sonja Heiss wirft einen realistischen Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Geheime Wünsche, erwartete Freuden, mentale und sexuelle Erfüllung und immer wieder auch Enttäuschungen sind die Eckfeiler menschlicher Existenzen. Hier zappelt sich jeder und jede ab, um am Ende an den Widersprüchen von Wünschen und Wirklichkeit zu scheitern. Wie die Autorin die einzelnen Widrigkeiten beschreibt, ist der Wirklichkeit recht genau abgeschaut. Gerüche des Partners, Geiz oder eigensinnige Verhaltensweisen stören den ehelichen Frieden und führen zur inneren und äußeren Abkehr. Als Alexander stirbt, merkt Barbara erst, wie sehr sie das Zusammenleben mit ihm als Selbstverständlichkeit hingenommen hat, und die in ihren Augen abstoßenden Verhaltensweisen das Leben überschattet haben. Man ist nahe dran an den Protagonisten und kann sich lebensnah in die gegenseitigen Zweifel, die Wut und Abkehr einfühlen. Es ist ein wenig traurig mit anzusehen, wie nach und nach die Beziehungen aller zueinander in die Brüche gehen. Ein paar schöne Erinnerungen an die Frühzeit der Eltern bieten Lichtblicke, doch das Scheitern auch der beruflichen Erfolge von Hans und Masha überwiegt. Immerhin schafft Masha sich sehr verspätet noch ein persönliches Glück. Meint man beim Lesen aus der Ferne nicht „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen aufscheinen zu sehen? Der Zerfall von Familien ist in beiden Romanen zentrales Thema.

Am Ende des Romans findet man zu dem Schluss, dass Leben von unterschiedlichen Schattierungen geprägt ist, und dass es vieler zu bestehender Bewährungsproben bedarf, um heil und unverletzt aus dem Lebensschlamassel herauszukommen.

Der Debütroman von Sonja Heiss lässt auf weitere Erfolge hoffen!

Sonja Heiss
Rimini
400 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, August 2017
ISBN-10: 3462050443
ISBN-13: 978-3462050448
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Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben

Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben

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Pierre Lemaitre ist ein fein beobachtender Autor, der mit seinen Themen tief in das Leben seiner Protagonisten eindringt.

In dem kleinen Ort Beauval in Frankreich verschwindet kurz vor Weihnachten 1999 der sechsjähriger Rémi spurlos.

Niemand kann sich erklären, wo er geblieben ist.

Einer der Dorfbewohner ist 12 Jahre alt und heißt Antoine. Er hat sich im Wald ein Baumhaus gebaut. Dorthin begleitet ihn häufig der Hund vom Nachbarn Desmedt. Er ist der Vater von Rémi. Die anderen Kinder spielen mit dem Playmobil von Kevin. Antoines Mutter aber möchte, dass ihr Sohn weiter in der Natur und im Wald spielt. So fühlt er sich oft einsam. Sein Vater ist schon lange auf und davon, und die Mutter schlägt sich tapfer mit ihm durch.

Leider passiert ein Unglück, und Antoine zerstört sein Baumhaus in einem Anfall von Wut. Nachvollziehbar schildert uns P.Lemaitre, wie Antoine tags zuvor zusehen musste, als Desmedt seinen von einem Auto verletzten Hund erschießt. Das Ende des Hundes mit dem pikanten Namen Odysseus ist ein Schock für Antoine, denn er war sein stiller Begleiter und Tröster in der Not. Was aber weiß er vom Verschwinden Rémis? Er war derjenige, der ihn zuletzt gesehen hat.

Minutiös schildert uns PL, wie Antoine in ein Netz von Verstrickungen gerät. Er verhält sich auffällig, unruhig und verdächtig. Niemand käme auf die Idee, dass er etwas mit dem Verschwinden von Rémi zu tun haben könnte. PL zeigt uns seine tief verletzte Seele, die vom Tod des Hundes in eine Art Schockstarre gefallen ist. Der Junge wird von Einsamkeit und Schmerz überwältigt.

Das Dorf mit seinen aufgeschreckten Menschen, den untersuchenden Beamten und der Unruhe, die das Verschwinden des kleinen Rémi gebracht hat, ist höchst genau beobachtet. Es sind drei Tage, in denen die Suche nach Rémi das Geschehen bestimmt.

Ein apokalyptisches Unwetter verwischt schließlich alle Spuren, und die Suche wird aufgegeben.

Im Jahr 2015 ist Antoine Arzt. Er hat eine Freundin, und die Ängste und Schrecken der Vergangenheit scheinen überwunden. Er wird sich ein neues Leben aufbauen.

Doch Lemaitre wird die Geschichte neu ankurbeln und mit unglaublichen Ereignissen zu einem mehr oder weniger unerwarteten Ende führen.

Man kann nicht umhin, den Autor für das Maß an Genauigkeit und Recherche mit feinsten Details zu bewundern. Die Mischung aus Krimi und vorstellbarer Lebenstragödie gibt dem Roman den letzten Schliff. Darin ist Pierre Lemaitre ein Meister, wie er schon mit seinem Roman“ Wir sehen uns da oben“ bewiesen hat. Mit diffizilen und sparsamen Mitteln steigert er die Geschichte bis zu einem wirklich überraschenden Ende. Atemlos und gespannt kann man vom Lesen nicht mehr lassen. Einmal mehr beweist uns die Geschichte, dass das Leben unergründliche Wendungen nehmen kann, die Lebenspläne und Hoffnungen zunichtemachen können. Literatur kann die Schattenseiten des Lebens aufzeigen. Dieser Roman ist ein Beispiel dafür. Sehr empfehlenswert.

Pierre Lemaitre
Drei Tage und ein Leben
272 Seiten, gebunden
Klett-Cotta, September 2017
ISBN-10: 3608981063
ISBN-13: 978-3608981063
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Uwe Timm: Ikarien

Uwe Timm: Ikarien

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Zu Beginn der Lektüre fragt man sich, ob man wirklich noch einmal mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und seinen Gräueln konfrontiert werden will.

Doch nach den ersten Zeilen lässt einen die Geschichte nicht mehr los.

Worum geht es?

Michael Hansen geht als deutschsprachiger Offizier nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Frankreich und von dort nach Bayern. Seine Eltern sind durch Zufall schon vor dem Krieg aus Deutschland nach Amerika geraten, wo sie dann geblieben sind.

Uwe Timm hat die großartige Gabe, Sachliches mit Poetischem zu verbinden. Während der junge Offizier von einem Auftrag zum nächsten eilt, bemerkt er den nahenden Frühling und kann die Farben und Stimmungen in Worte fassen. Ihm begegnen die ersten Nazis und Menschen, die keine Parteimitglieder waren.

Unwillkürlich kommen beim Leser Erinnerungen hoch an die ersten Eindrücke vom Einmarsch der Alliierten und von den armseligen, verhungerten Gestalten, die durch die Straßen der zerstörten Städte schlichen.

Die sauber gekleideten Soldaten und die abgemagerte und gedrückte Bevölkerung bilden einen krassen Gegensatz.

Hansen bekommt einen besonderen Auftrag: er soll etwas über die Rassehygieniker herausfinden, deren Ideologie der reinrassigen Bevölkerung zu den unmenschlichen Versuchen an Menschen und Behinderten im Nazireich geführt hatten.

In München findet er einen Antiquar, den Dissidenten Wagner, der den Eugeniker Alfred Ploetz kannte.

Im weiteren Verlauf berichtet er Hansen, der ihn im Auftrag des CIC verhörte, von einer ideologisch verbrämten Gemeinde zu Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika.

Aufbauend auf sozialistischen und kommunistischen Gedankengut und den Ideen des französischen Revolutionärs Étienne Cabet, hatten sich die Auswanderer eine utopische Gemeinde mit Namen Ikarien vorgestellt und in die Praxis umzusetzen versucht.

Das Experiment scheitert, doch A. Ploetz wird zum Verfechter einer reinen Rasseidee.

Nun beginnt eine lange Abhandlung über die Verhöre und zugleich des Lebens der amerikanischen Soldaten in Deutschland.

Uwe Timm nimmt sich Zeit, in seinen Perspektiven zwischen Verhören und Leben in Deutschland zu wechseln.

Auf diese Weise entsteht ein atmosphärisches Bild dieser „Zwischenzeit“. Zwischen dem Kriegsende bis zur Normalisierung des Lebens und Gründung der BRD lagen einige Jahre, in denen Fraternisierung verboten und schließlich übersehen wurde. Jeder sah am Ende, wie er am besten durchkam.

Das Buch ist umfassend und beleuchtet die Zustände der Euthanasie, über die schon während des Krieges und erst recht danach die unmäßigsten Behandlungspraktiken und Menschenversuche bekannt wurden.

Die Ausführung der Tötung der von oben bestimmten Kategorie von „unwertem Leben“ hat nach dem Krieg zu einem Aufschrei der Empörung und der Tabuisierung jedweder Euthanasiegedanken in Deutschland und in der Welt geführt.

Sich mit dem barbarischen Tun noch einmal zu konfrontieren ist aufschlussreich aber auch quälend. Die guten poetischen Einschübe beispielsweise über einen Vogelkundler unter den Amerikanern und kleine Liebeleien und Bootsfahrten auf dem Starnberger See entspannen die Erzählung und bieten den Rahmen der Menschlichkeit, die es schließlich überall und immer auch gab.

Die schwere Kost ist nicht für jeden erträglich. Uwe Timm ist ein Könner unter den Autoren, und wer ihn kennt, wird auch diesen Roman begrüßen.

Uwe Timm
Ikarien
512 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, September 2017
ISBN-10: 3462050486
ISBN-13: 978-3462050486
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Anne von Canal: Whiteout

Anne von Canal: Whiteout

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Hanna hat sich ihre beruflichen Träume erfüllt. Sie nimmt als Wissenschaftlerin an einer wichtigen Antarktisexpedition teil. Es wird versucht, über Eisbohrungen neue Erkenntnisse über das Klima der Vergangenheit zu gewinnen. Auch Hannas Vergangenheit drängt sich mit Macht wieder in ihr Bewusstsein. Erinnerungen werden wach und bald allgegenwärtig. Schuld daran ist eine E-Mail mit einer Botschaft, die nur ihr selbst etwas sagt. Was ist mit ihrer Jugendfreundin Fido geschehen? Warum hat sie Hannah damals belogen und im Stich gelassen. Zwanzig Jahre ist das her. Vergessen ist nichts. Doch hier im Eis wird Hanna keine Antwort auf ihre Fragen bekommen. Alles dreht sich in ihrem Kopf. Die Spannungen im Forscherteam wachsen. Disziplin ist gefragt, aber kaum zu halten. Sich zu beherrschen, ist schwer. Und dann gefährdet ein Schneesturm das ganze Projekt. Alles, aber auch wirklich alles, wird infrage gestellt.

Das Buch beschreibt, wie die Vergangenheit die Gegenwart mit ihren Erinnerungen beeinflussen kann. Besonders Ungeklärtes und offenen Fragen können zum Problem werden, scheinbar ausgerechnet in schwierigen Situationen. Hanna ist in einer solchen Ausnahmesituation. Die Expedition ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung und verlangt alles von ihr ab. Die Autorin beschreibt, wie Hanna immer mehr abrutscht, wie sie damit beschäftigt ist, nicht die Kontrolle zu verlieren. Wie sie versucht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Es war für mich nicht einfach, Zugang zu Hanna zu finden. Sie bleibt mir recht fremd. Dennoch sind ihre Gefühle nachvollziehbar.
Die Handlung springt von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück ohne Unterlass. Die Autorin verbindet beides unglaublich eng. Untrennbar, unzerreißbar. Die Jahre dazwischen verschwinden und lösen sich auf. Das verleiht dem Buch Tiefgang.

Rezension von Heike Rau

Anne von Canal
Whiteout
192 Seiten, gebunden
Mare Verlag
ISBN-10: 3866482477
ISBN-13: 978-3866482470
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Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt

Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt

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Realität mit krassen Erfahrungen.

In einer Art traumatisierter Verfassung erzählt der Icherzähler eine Geschichte, die sehr gruselig anmutet.

Eines Tages in einer Weihnachtsnacht begegnet Édouard auf dem Heimweg von einem Freundestreffen einem Mann unbekannter Herkunft. Der Fremde gerät in ein Gespräch mit ihm und folgt Édouard unaufgefordert, bis dieser ihn mit in seine Wohnung nimmt. Sie feiern eine Sexnacht zusammen, die zu einer überraschenden Wende führt: der Fremde, Reda, ist ein Gauner. Er bedroht und vergewaltigt Édouard, so dass dieser in ein schreckliches Trauma erleidet.

Reda ist Nachfahre algerischer Eltern. Was der Vater von Reda nach seiner Flucht aus Algerien in Frankreich erlebt hat, gab er seinem Sohn weiter. Rassistische Vorurteile haben den Flüchtlingen das Leben schwergemacht. Arbeitslos und ausgestoßen schlugen sie sich mühsam durchs Leben. Eine ausgedehnte Kriminalitätsrate ist die Folge dieser Ausgrenzung.

Die Tatsachen sind schnell erzählt. Édouard aber befindet sich fortan in einer Art somnambulen Ausnahmezustand. Er versucht Freunden oder seiner Schwester von der Geschichte zu erzählen. Es gelingt ihm kaum, einen zusammenhängenden Bericht zu geben. Sein gesamtes Weltbild scheint aus den Fugen geraten. Dem Leser teilt sich der Zustand nachfühlbar mit. Angst und Abscheu werden nach dem Ereignis die ständigen Begleiter von Édouards davonlaufender Zeit.

Der Roman trägt autobiographische Züge.

Grandios vermag uns der Autor in seine psychische Verfassung hinein zu ziehen. Man fühlt ständig die Angst vor neuer Bedrohung, die doch nach der ersten Begegnung und der verbrachten Nacht mit Reda so unwahrscheinlich schien.

In Wechsel erzählt der Autor aus dem Blickwinkel seiner Schwester, die ihrem Mann von Édouards Geschichte berichtet, um dann wieder Assoziationen einzufügen. Freunde sind zur Stelle, die ihm helfen, die Torturen der Nachforschungen seitens der Kriminalpolizei oder der Rechtsmediziner durchzustehen. Die eigenartige Erzählweise zwischen Bericht und Assoziation, Gefühlschaos und ängstlichen Visionen führt zu einer immensen Spannung, deren Sog man sich nicht entziehen kann. Die nächtlichen Straßen von Paris sind ebenso gegenwärtig wie die befremdliche Anziehung des Unbekannten.

Die Erzählung ist von Beginn an in einer düsteren Stimmung gehalten. Aus einer Straßenbekanntschaft kann nichts Gutes werden. Éduard ist verführbar und naiv in seinem Zutrauen einem Fremden gegenüber. Sein Verhalten scheint auch Ausdruck von Einsamkeit und Sehnsucht zu sein. Die Enttäuschung nach dem Ende der Nacht ist von ernüchternder Klarheit.

Édouard Louis kommt selber aus ärmlichstem Milieu. Er hat in dem Roman “Das Ende von Eddy“ über seine Herkunft berichtet. Er konnte seinem Herkunftsort entkommen und ein Soziologiestudium in Paris beginnen. Sein Debütroman schlug hohe Wellen in der literarischen Welt. Der zweite Roman steht dem ersten in Nichts nach. Die biographischen Züge geben dem Ganzen einen hoch komplexen literarischen Glanz.

Édouard Louis
Im Herzen der Gewalt
224 Seiten, gebunden
S. FISCHER, August 2017
ISBN-10: 3103972423
ISBN-13: 978-3103972429
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Lize Spit: Und es schmilzt

Lize Spit: Und es schmilzt

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Eine dörfliche Gemeinschaft im Dunstkreis düsterer Lebensumstände

Eva wuchs in dem Ort Bovenmeer in Holland auf.

Nach langen Jahren macht sie sich mit einem großen Eisblock im Kofferraum auf, einer Einladung ihres einstigen Jugendfreundes Pim in das Dorf ihrer Herkunft zu folgen. Ihre Eltern hat sie neun Jahre nicht mehr gesehen.

Seit dreizehn Jahren war sie nicht mehr hier, wo sie in ihrer Kindheit und Jugend auf den weiten Feldern, Wäldern und Seen mit den anderen Dorfkindern ihren Spielen nachgegangen war.

Was mag in jenem Sommer vorgefallen sein, dass sie die Heimat floh? Gab es eine Tragödie?

Im Wechsel mit dem Heute, das mit der fortschreitenden Uhrzeit eines undatierten Tages angegeben wird, kann man sich in die dörfliche Vergangenheit des Jahres 2002 einlesen.

Die Geschichte ist in ihrem Grundton traurig angelegt. U.a. hat der Tod von Jan, dem Bruder von Pim, die Gemeinschaf erschüttert.

Eva erinnert sich der Spiele in den langen Sommern, die das Landleben verschönten. Pim, dessen Eltern einen Bauernhof bewirtschafteten, Laurens aus der Metzgerfamilie und Eva denken sich allerlei Spiele aus, die allerdings mehr und mehr von grausamen Pubertätsritualen abgelöst werden.

Eva hat noch einen älteren Bruder und Tesje, die magersüchtige und zwanghaft veranlagte kleinere Schwester. Die Mutter ist Trinkerin und der Vater geht müde seinen Geschäften als Bankangestellter nach. Alles in allem ist das Leben der Erwachsenen eher freudlos und unspektakulär.

Ob Winter oder Sommer: die Jugendlichen planen ihre Spielchen, bei denen immer auch Dritte einbezogen werden. Elisa ist eine kluge Außenseiterin, die erst später in die Grundschulklasse gekommen ist. Sie hat einen Vater, ein Pferd und keine Mutter mehr und wirkt reifer und erfahrender als die anderen.

Dräuend meint man die ganze Zeit herannahendes Unheil zu spüren.

Lize Spit wählt eine raue und sehr direkte Sprache. Man wartet auf einen Eklat oder eine Erlösung mit dem Heranwachsen der Kinder. Doch weit gefehlt: es bleibt bei der unglücklichen Verfassung aller Beteiligten.

Die Geschichte wird hintergründig aufgezogen: während die Spiele Unschuld vermuten lassen, braut sich eine Ladung unguter und sadistischer Spielchen zusammen.

Der Vater von Eva zeigt ihr bei Gelegenheit, dass er schon eine Schlinge für sich bereithält.

Die magersüchtige Tesje wird schließlich von Eva und ihrem Bruder im Hospital abgeliefert.

Eva, die Hauptfigur, ist Strippenzieherin und Opfer zugleich. Ihr älterer Bruder Jonas scheint sich als einziger dem Wahnsinn dieses desaströsen Familien- und Dorfgefüges entziehen zu können. Er verlässt das Haus, um zu studieren.

Allen erwartungsvollen Hoffnungen zum Trotz gibt es kein Happy End. Lize Split zieht den Tenor ihrer von düsteren Untertönen gefärbten Geschichte erbarmungslos bis zum bitteren Ende durch.

Vielleicht gehört es zu ihrem Bestreben, Hoffnungen zu säen und die grausame Wirklichkeit siegen zu lassen. Ist Wirklichkeit so unerquicklich?

Man bleibt als Leser fraglos ein wenig ratlos zurück.

Lize Spit
Und es schmilzt
512 Seiten, gebunden
S. FISCHER, August 2017
ISBN-10: 3103972822
ISBN-13: 978-3103972825
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Irene Diwiak: Liebwies

Irene Diwiak: Liebwies

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Der Musikexperte Christoph Wagenrad reist auf Einladung eines Freundes im Jahre 1924 ins österreichische Liebwies, weil dieser hier ein Talent entdeckt hat. Doch für die junge Frau hat er keinen Blick, er hört sie nicht. Es ist Gisela, die ihn fasziniert, da sie seiner verstorbenen Frau so ähnlich sieht. Blind vor Liebe gedenkt er, aus ihr einen Star zu machen. Zu spät entdeckt er, dass ihr die Stimme dafür fehlt. Doch Gisela ist schlau. Wagenrad hat keine Wahl, er muss Gisela ans Konservatorium bringen. Sie erhält sogar die Hauptrolle in einer Oper, die August Gussendorff komponiert und die, man mag es kaum glauben, ohne eine talentierte Sängerin auskommt. Nun, eigentlich stammen die Kompositionen von seiner Frau Ida. Er macht nur das Gesamtwerk daraus. Aber wen interessiert das schon? Als Ehemann muss er seine Frau ja wohl nicht um Erlaubnis bitten. Die Frage ist nur, ob Gussendorff damit Erfolg haben wird.

Der schöne Schein ist Thema des Buches. Nach außen ist alles perfekt. Schaut man hinter die Kulissen, werden Dramen offenbart. Das alles beschreibt die österreichische Autorin Irene Diwiak mit feiner Ironie und einer gewissen Boshaftigkeit in einem ganz besonderen Schreibstil und fängt dabei auch den Zeitgeist perfekt ein. Trotz der vielen Schicksalsschläge, die hier vorüberziehen, ist der Geschichte Humor nicht abzusprechen, nur ist dieser eben teilweise rabenschwarz und tiefgründig. Ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt.
Die Figuren werden äußerst lebendig beschrieben. Die, die dem Ruhm nachjagen und die, die eigentlich ihre Ruhe wollen oder zumindest ihr eigenes Leben. Zufälle, äußere Einflüsse, Ungerechtigkeit, eigenes Unvermögen und Vertrauensbruch bestimmen das Leben von Gisela Liebwies und Ida Gussendorff. Diese beiden Frauen stehen im Mittelpunkt des Buches. Sie haben es nicht einfach, durchs Leben zu kommen. Sie versuchen Chancen zu nutzen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, biegen am Scheideweg aber auch mal falsch ab. Woher soll man auch wissen, was richtig und was falsch ist in dieser verkehrten Welt und wohin das Schicksal führen wird?

Rezension von Heike Rau

Irene Diwiak
Liebwies
336 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-10: 3552063471
ISBN-13: 978-3552063471
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Jess Jochimsen: Abschlussball

Jess Jochimsen: Abschlussball

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Eine ganz und gar skurrile und aberwitzige Geschichte beschert uns der Schriftsteller und Kabarettist Jess Jochimsen!

Zumal das erste Kapitel zeigt uns einen Trompeter der Extraklasse: er spielt auf Beerdigungen, da es zum Konzertmusiker nicht gereicht hat.

Einmal im Monat wird vom Bestatter Berger ein als „Abschlussball“ titulierter Abgesang auf einen Toten abgehalten. Zumeist gilt dieser einem Armenbegräbnis. Komisch und witzig sind die Reden, die da auf die Toten gehalten werden.

Marten, unser Begräbnistrompeter, erfährt von Schocht, einem ehemaligen Klassenkameraden und Klassenprimus, der unter den Toten weilt. Auch zu seiner Beerdigung spielt er auf. Alleine der Aufzug der Trauernden bei dieser Gelegenheit ist höchst amüsant und komisch dargestellt, denn sie stammen aus den so genannten Randgruppen der Gesellschaft. Es handelt sich um ehemalige Bohemiens und Unterweltler, die sich zum „Abschlussball“ an Schochts Beerdigung einfinden. Man sieht sie förmlich in einem schleppenden Trauerzug aufmarschieren.

Nun, in weiteren Kapiteln kann man Marten in seiner Familie und auf seinem Lebensweg kennenlernen. Lakonisch, trocken und insgeheim äußerst witzig erfährt man von einem absoluten Individualisten und Außenseiter der Gesellschaft, der sich nie und nirgends auf Dauer festlegen kann. So lebt er vor sich hin, umgeben von skurrilen Einzelgängern wie ihm selbst.

Das Buch ist etwas für Menschen mit Sinn für abseitigen Humor und die skurrile Neigung zum Einzelgängertum. Man kommt die ganze Zeit aus dem Schmunzeln nicht heraus.

Immer wieder spielt der Friedhof, das Leben und der Tod die entscheidende Rolle in diesem witzigen, geistreichen und bildungsfreudigen Roman. Von Goethe bis Cioran werden die Dichter und Philosophen im passendem Zusammenhang zitiert. Man glaubt es kaum, dass man einen ganzen Roman damit bestreiten kann. Nichts ist wirklich traurig, denn der Tod gliedert sich umstandslos in das hiesige Leben. Die Musik bleibt schließlich das einzige Medium, das quasi unsterblich ist. In diesem Rankwerk um den Tod spielen frühere und späte Begegnungen hinein, sie geben dem Ganzen den lebendigen Touch, so dass man bis zuletzt gut unterhalten und immer wieder amüsiert bleibt.

Herrlich und lesenswert!

Jess Jochimsen
Abschlussball
312 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Juni 2017
ISBN-10: 3423281162
ISBN-13: 978-3423281164
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Harriet Cummings: Eine von uns

Harriet Cummings: Eine von uns

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Der Roman spielt im Jahr 1984 in einem abgelegenen englischen Dorf. Das Leben geht hier seinen Lauf bis der Fox auftaucht. Er ist nicht wirklich ein Dieb. Aber er geht in die Häuser und hinterlässt dort Spuren. Es lässt sich also nicht leugnen, dass jemand dagewesen ist. Die Dorfbewohner werden nervös. Aber die Angst hält sich noch in Grenzen. Bis Anna verschwindet. Man ist sich schnell einig, dass der Fox sie entführt haben muss. Es kommt nichts anderes infrage. Die Polizei greift zu härteren Maßnahmen und auch die Leute aus dem Dorf beginnen, sich zu bewaffnen. Aber gegen die Angst hilft das nicht, denn der Fox könnte einer von ihnen sein.

Die Autorin baut die Spannung sehr kontinuierlich auf. Schritt für Schritt wird die Lage kritischer im Dorf. Die Menschen verändern sich, werden vorsichtiger und auch misstrauischer. Teilweise verhalten sie sich irrational. Den Fox vertreibt das nicht. Er macht gnadenlos weiter und erschleicht sich die Geheimnisse der Dorfbewohner. So mancher hat sozusagen eine Leiche im Keller. Als Leser spürt man, dass eine Entführung nicht ins Bild passt. Die Leute halten aber verbissen daran fest. Es ist spannend zu lesen, wie das Misstrauen wächst. Unaufhörlich. Gegenseitige Anschuldigungen und Verdächtigungen vergiften die Atmosphäre im Dorf. Keiner scheint seine Nachbarn wirklich zu kennen. So mancher hatte bisher auch kein Interesse an ihnen. Aber mit dieser gespielten Anonymität ist es vorbei.

Im Blickfeld stehen Deloris, die erst kürzlich wegen ihrer Heirat ins Dorf gekommen ist. Brian, der Dorfpolizist und Jim, der Vikar auf Zeit und Stan, der Anne viel besser kennt, als bekannt ist.
Es war sehr interessant für mich zu sehen, welche Entwicklung die Autorin sich für diesen Krimi ausgedacht hat, bis hin zum für mich sehr überraschenden, aber doch schlüssigen Ende.

Rezension von Heike Rau

Harriet Cummings
Eine von uns
Aus dem Englischen von Walter Goidinger
368 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-10: 3552063358
ISBN-13: 978-3552063358
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