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Kategorie: Belletristik

Irene Ruttmann: Adèle

Irene Ruttmann: Adèle

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Die Notizbücher sind abgegriffen. Erst lange nach dem Tod ihres Vaters beschließt die Tochter, darin zu lesen. Der erste Eintrag wurde im Sommer 1916 gemacht. Der Vater ist Anfang 20. Er hat sich freiwillig zum Sanitätsdienst gemeldet. Im Dezember 1916 ist er an der Aisne in Frankreich. Hier soll nach schlimmen Wochen etwas Ruhe einkehren. Es ist eine Zeit des Wartens in Ungewissheit. Als Kameraden unter Bauchschmerzen leiden, weiß Max, was helfen kann. Im Ort hatte er eine Apotheke gesehen und macht sich auf den Weg, um Salbeiblätter zu beschaffen. Das Geschäft hat nicht geöffnet. Ein Haus gegenüber weckt sein Interesse. Es hat einen Garten und hier könnte es auch Salbei geben. Er macht sich auf die Suche, ist aber nicht allein. Eine junge Frau sitzt hinter dem Haus auf einer Bank. Sie spricht kaum Deutsch und er auch nur ein paar Worte Französisch, dennoch gelingt eine Verständigung. So kehrt Max nicht mit leeren Händen zum Quartier zurück. Lange reicht der kleine Vorrat jedoch nicht. Wieder muss Max zu Adèle. Die beiden verlieben sich ineinander. Es ist eine Liebe auf Zeit, denn der Krieg geht weiter.

Die Autorin erzählt die Geschichte auf eine sehr schlicht wirkende Art und Weise, die dennoch die Vorstellungskraft anspricht und vor allem auch das Mitgefühl des Lesers weckt. Eine tiefe Melancholie liegt zwischen den Zeilen. Es gibt keine Zukunft für die Liebenden, denn Max wird gezwungen sein, weiterzuziehen. Die kurzen Zusammenkünfte sind gestohlener Zeit zu verdanken. Und Max wagt mit seinen Besuchen viel zu viel. Jedes Treffen kann das letzte sein. Auch ohne Abschied könnte die Liebe ein Ende nehmen. Es schmerzt unendlich, sich in dieser Gewissheit zu begegnen. Die Geschichte berührt. Die Autorin beschränkt sich auf Wesentliches. Die Handlung wird nicht besonders ausgeschmückt. Aber es sind gerade die nicht gesagten Worte, die die Tragik verdeutlichen.

Rezension von Heike Rau

Irene Ruttmann
Adèle
160 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag
ISBN-10: 3552057382
ISBN-13: 978-3552057388
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Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr

Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr

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Vom Glück des einfachen Lebens…

Drei alte Männer haben sich hoch oben in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen. Sie leben dort unter denkbar einfachsten Bedingungen mit wenig Komfort, doch sie scheinen glücklich zu sein.

Eine ungenannte Fotografin sucht den Weg zu ihnen, weil sie sich für die großen Brände interessiert, die im Jahr 1916 in dieser Gegend weite Teile der Wälder und mit ihnen Dörfer, Städte und Menschen vernichtet haben.

Eigentlich sucht sie Boychuck, Ted, Ed oder Edward mit Vornamen.

Doch der ist kürzlich verstorben.

Hier in der Wildnis fühlt man sich wie am Ende der Welt. Die Fotografin ist zunehmend fasziniert von dieser endlosen Stille, dem Einsiedlerleben und den Erzählungen der sehr alten Männer.

Steve und Bruno versorgen die Alten mit dem, was man im Wald nicht finden kann. Als die Tante von Bruno, Marie-Desneiges, 81 jährig, zu ihnen stößt, wird die Geschichte zunehmend spannend. Was haben diese Menschen alles erlebt, wovon sie zu erzählen wissen! Dabei bleibt die Erzählung unaufdringlich und diskret.

Mit einnehmende Worten, poetischen Bildern und nachfühlbarem Erleben nimmt uns die Autorin mit auf eine Reise, von der wir nicht wissen, wohin sie uns führen wird. Es ist ein stiller und ruhiger Erzählstrom, der keine Hektik oder unerträgliche Erwartungshaltung auslöst. Man überlässt sich der Führung der Erzählung und den Geschichten, um die sich das Geschehen rankt.

Spannend ist ein jedes Schicksal, von dem hier die Rede sein wird. Man lernt zuhören und genau hinzuschauen. Die wunderbare, klare und kräftigende Natur bietet den Rahmen, in dem man die alten Männer trifft. Marie-Desneiges mit ihrem seltenen Schicksal macht die Gruppe komplett. Sie hatte es besonders schwer im Leben und schließt sich nur schwer an. Dass ihr hier nochmals ein spätes Glück beschieden sein würde, hat sie nicht geahnt. Es ist eine delikate und von hinreißender Zartheit gezeichnete Liebesgeschichte.

Die Erzählung handelt von Alter und Einsiedelei, von spätem Glück und Vergänglichkeit, von Freundschaft, Treue und Verlässlichkeit. Einfach herrlich!

Jocelyne Saucier lebt in Kanada. Dieser Roman ist ihr erster, der auf Deutsch erschienen ist. Man sollte sich ihren Namen merken.

Jocelyne Saucier
Ein Leben mehr
192 Seiten, gebunden
Insel Verlag, August 2015
ISBN-10: 3458176527
ISBN-13: 978-3458176527
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Lisa O’Donnell: Die Geheimnisse der Welt

Lisa O’Donnell: Die Geheimnisse der Welt

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Wie erlebt ein kleiner Junger in diesem Roman die Welt der Erwachsenen?

Michael Murray ist 12 Jahre alt. Mit kurzen und einfachen Sätzen werden die Erlebnisse der Menschen in der kleinen Stadt Rothesay in Schottland aus der Sicht des Jungen erzählt.

Seine Eltern stammen aus schlichtem Milieu. Die Mutter geht putzen, und der Vater ist arbeitslos. Man kennt die Leute in der Strasse und fürchtet das Gerede, das allen ungewöhnlichen Ereignissen folgt. Sie leben in einem engstirnigen und tratschsüchtigen Milieu. Wenn man genug hat, hilft den Erwachsenen der Alkohol.

Michael schaut mit neugierigen und wachen Augen in die Welt. Doch vieles von dem, was gesprochen und nicht gesprochen, d.h. heimlich weitergetragen wird, ist für ihn schwer verständlich.

Er ist ein aufgeweckter kleiner Junge. Nichts entgeht seinen wachen Sinnen. Als seine Mutter eines Tages verletzt von der Arbeit nach Hause kommt, geschehen ungewöhnliche Dinge. So sehr Michael sich auch bemüht, zu begreifen, was mit ihr geschehen ist, so sehr versuchen Mutter, Vater und die Großmutter ihr Geheimnis zu bewahren.

Michaels naive Vorstellungswelt vermittelt uns einen Eindruck davon, was in ihm vor sich geht. Die Schule und seine Freunde spielen die eine Rolle in seinem Leben, das ungewöhnliche Verhalten der Mutter und die Reaktionen der Umwelt die andere.

Die Autorin Lisa O’Donnell hat ein feinfühliges Gespür für die Welt der kleinen Leute. Ihre Sorgen und Nöte sind so beschrieben, dass man sie gut nachempfinden kann. Dieses rudimentäre Leben ist orientiert an einfachsten Vorstellungen über das Wohl und Wehe der Menschen. Da bietet der Klatsch treffliche Möglichkeiten, jemanden zum Außenseiter werden zu lassen. Die Erzählweise aus dem Blickwinkel des Jungen macht den Roman extraordinär in seiner Sprache und Diktion. Man könnte meinen, es sei ein Kinderbuch. Doch das Verhalten der Erwachsenen steht im Fokus der Geschichte. In ihrer versteckten und verheimlichenden Manier bieten sie uns Einblicke in ein Milieu, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Man bleibt immer auf der Spur, um zu erfahren, was der Mutter und einer weiteren Frau widerfahren ist. Wird sich am Ende für Michael die Wahrheit finden lassen?

Wir werden es sehen!

Neben der Kleinstadtgeschichte ist dieser Roman auch ein Aufklärungs- und Entwicklungsroman.

Lisa O’Donnell

Die Geheimnisse der Welt
256 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, Juli 2015
ISBN-10: 3832197796
ISBN-13: 978-3832197797
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Hilma Wolitzer: Charmanter Mann aus Erstbesitz

Hilma Wolitzer: Charmanter Mann aus Erstbesitz

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Edward Schuyler stürzt sich nach dem Tod seiner Frau in die Arbeit. Er ist Biologielehrer und denkt noch lange nicht daran, in den Ruhestand zu gehen. Seine Schüler geben ihm Halt. Er ist beschäftigt und wird abgelenkt. Und die Zeit, die er an der Schule verbringt, strukturiert seinen Tag, so dass er zurechtkommt.

Dass Edward wieder zu haben ist, spricht sich herum. Frühere Bekannte rufen den charmanten Mann an. Doch er hat kein Interesse, ist er doch noch in seiner Trauer um seine verstorbene Frau Bee versunken. Er hat sie über alles geliebt. Doch auch die erwachsenen Kinder von Bee, zu denen er ein sehr gutes Verhältnis hat, wollen ihn nicht allein sehen und geben eine Kontaktanzeige auf. Edward ist davon nicht begeistert, lässt sich aber darauf ein. Doch die Begegnungen mit anderen Frauen, die auf Männerjagd sind, haben etwas Skurriles. Und so gibt er das Unterfangen wieder auf. Ewig allein bleiben, will der 62-jährige aber dennoch nicht. Und irgendwann ist die Vorstellung, sich doch noch einmal verlieben zu können, wieder da.

Auch wenn das Buch mit sehr viel Humor geschrieben ist, so ist es doch eher ein ernsthaftes. Den geliebten Partner zu verlieren, ist tragisch und macht hoffnungslos und Edward scheinen die Erinnerungen und die Trauer nicht loszulassen. Erst mit der Zeit wagt er es, sich wieder zu öffnen, nach vorn zu sehen und Pläne zu machen. Doch mit den Frauen erlebt er eher Abenteuerliches. Eine Frau, mit der er den Rest des Lebens verbringen kann, so wie er es eigentlich mit Bee vorhatte, scheint es nicht zu geben. Die Autorin offenbart die Gedanken, die in Edwards Kopf kreisen, auf eine sehr sensible und vor allem auch respektvolle Art und Weise.
Die Geschichte könnte sich genauso ereignet haben. Sie ist realistisch geschrieben und damit genauso, wie das Leben tatsächlich ist.

Rezension von Heike Rau

Hilma Wolitzer
Charmanter Mann aus Erstbesitz
Aus dem Englischen von Anne Braun
320 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-10: 3552062955
ISBN-13: 978-3552062955
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Lily King: Euphoria

Lily King: Euphoria

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Ethnologie und Forschungsfragen für Liebhaber.

Wer sich für Ethnologie und Anthropologie interessiert, wird an diesem Roman seine helle Freude haben.

Worum geht es?

Drei Naturforscher begegnen sich in Papua Neuguinea etwa Anfang der dreißiger Jahre. Nell Stone ist um ihrer Publikationen willen schon recht berühmt. Ihr Mann Schuyler Fenwick, genannt Fen, ist eher der Praktiker, der sich für die Menschen als Forschungsobjekte interessiert. Der Engländer Andrew Bankson stößt nach Jahren einsamer Feldforschung zu ihnen. Er fungiert lange Strecken als Icherzähler in dem Roman.

Sein Familienhintergrund lässt darauf schließen, dass er der heimischen Reglementierung durch seine Mutter nach dem Tod zweier Brüder und des Vaters zu entkommen trachtet.

Er ist einsam und sehnt sich nach der Gesellschaft der beiden zuerst genannten Forscher.

Angelehnt ist die Geschichte an das Leben Margaret Meads, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit ihren Forschungen und Publikationen über einfache Stämme in Neuguinea die wissenschaftliche Welt begeisterte. Ihre Thesen wurden allerdings in späteren Jahren gelegentlich infrage gestellt.

Nun, hier geht es u.a. um die Lebensbedingungen und harten gesundheitlichen Beschwerden, die Aufenthalte in diesen fernen Stammesregionen bei den Forschern auslösen.

Wunderbare Naturbeschreibungen vermitteln einen Eindruck von einer Welt fern unserer Kultur und Lebensart. Man muss schon mit Leidenschaft dabei sein, um sich diesen Abenteuern zu stellen.

Unter den harten, waghalsigen, teilweise aber auch malerischen Lebensbedingungen entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die ganz klar von der unterschiedlichen Mentalität der Protagonisten bestimmt wird.

Weite Teile des Berichts befassen sich mit Methoden, wie man was an den einzelnen Stämmen erforscht. Verwandtschaftsverhältnisse, Essen, Gebräuche, Stammesriten, Erziehung, Politik, Wohnform und so fort. Die Unterschiede von Stamm zu Stamm können erheblich sein. Für Wissenschaftler ist das ein wahrer Fundus an Erkenntnissen. Allerdings betont Lily King im Nachwort, dass die meisten Stämme und Orte im Buch fiktiv sind.

Der Laie muss sich dennoch darauf einlassen, von Lebensformen zu erfahren, die Hinweise auch auf die Entwicklung sehr unterschiedlicher menschlicher Gemeinschaften bieten.

Das sehr lesenswerte und fundiert geschriebenes Meisterwerk von Lily King wird viele begeisterte Leser finden.

Im Klappentext kann man erfahren, dass sie den Kirkus Prize für dieses Werk bekommen hat, und ihr Bericht von der New York Times unter die fünf besten literarischen Bücher des Jahres 2014 gewählt wurde.

Lily King
Euphoria
262 Seiten, gebunden
H.Beck, Juli 2015
ISBN-10: 3406682030
ISBN-13: 978-3406682032
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Mirna Funk: Winter Nähe

Mirna Funk: Winter Nähe

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Findet man sein Ich in einer von der Nachkriegs- und Nazischuld geprägten Gesellschaft?

Weit ausholend schildert Mirna Funk das Leben von Lola in Deutschland und Israel.

Lola ist etwa 34 Jahre alt ist.

Sie lebt und arbeitet in Berlin und fühlt sich als Jüdin. Doch sie ist keine! Bekanntlich wird die Religionszugehörigkeit der Juden über die mütterliche Linie weiter gegeben. Ihre jüdischen Großeltern väterlicherseits haben sie aufgezogen. Sie lebt und liebt, ganz, wie es der Tag bringt. Ihre Arbeit als Fotografin im IT Bereich spielt keine große Rolle in dieser Geschichte. Man erfährt mehr über Lolas Liebschaften und ihr Innenleben als über ihre Arbeit.

Einst lernte sie Shlomo kennen, einen Israeli, den sie wirklich liebt. Doch er kehrt nach einer kurzen und glücklichen Zeit nach Israel zurück. Lola trauert ihm nach, so wie in der Vergangenheit ihrem Vater, der schon früh aus Ostberlin geflohen und im australischen Busch gelandet ist. Ihre Mutter hat sich noch früher aus dem Staub gemacht.

Das ständige Dilemma zwischen Schuld, Opfer und Vergänglichkeit in der Berliner Gegenwart begleitet Lolas Leben, und macht sie zuweilen wütend. Schuldangst nennt sie das, was die Menschen noch so viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs umtreibt. „Der christliche Wunsch, dass Jesus für die Sünden aller Menschen gestorben wäre, repräsentiert die tiefe Schuldangst der vom Christentum geprägten Gesellschaft.“(S.86)

Wer aber ist Lola, und zu wem darf sie sich zugehörig fühlen? Antisemiten und ehemalige Nazis kreuzen ihren Weg und machen ihr die Ichfindung schwer.

Man findet sie zu Zeiten in Israel und in Thailand, und immer scheint sie auf der Suche zu sein.

Mehr und mehr zieht sich die Geschichte Lolas zu einem allgemeinen Bericht über die Lage der Juden und ihrer Verlorenheit in der Welt zusammen.

Verkappter Antisemitismus mischt sich mit berechtigter Kritik an der Politik Israels im Palästinakonflikt.

Der Roman besticht durch die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit. Immer wieder reichen die Erfahrungen während des Holocausts bis in die Gegenwart. Sie zeigen die Suche und die Heimatlosigkeit, der sich Juden seither ausgesetzt sehen. Palästina war englisches Mandatsgebiet, als Juden zu tausenden nach dem Krieg dorthin flüchteten. Bis in die heutige Zeit wissen wir von den Streitigkeiten um den Anspruch auf Heimat, der Palästinenser und Juden zu Feinden macht. Jeder in diesen beiden Lagern fühlt sich im Recht. Und Menschen auf beiden Seiten werden zu Opfern und Tätern.

Der Autorin ist ein markantes Werk gelungen, das zahlreiche Aspekte dieses konfliktträchtigen Geschehens tiefenscharf erfasst und heraus arbeitet.

Es ist ein differenziert angelegtes Werk, dem man sich mit zunehmender Spannung überlässt. Mirna Funk hat gerade den Uwe Johnson Förderpreis für das beste deutschsprachige Debüt der letzten zwei Jahre erhalten.

Mirna Funk
Winter Nähe
352 Seiten, gebunden
FISCHER; Auflage, Juli 2015
ISBN-10: 3100024192
ISBN-13: 978-3100024190
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Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter

Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter

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Kompliziertes literarisches Werk

Das berühmte und überall gelobte und zum amerikanischen Kulturgut gehörende Buch von Harper Lee, “Wer die Nachtigall stört“ ist 1966 erstmals erschienen. Das jetzt vorliegende Buch hat lange unentdeckt in der Schublade gelegen. Es ist schon früher geschrieben worden, ist aber eine Fortsetzung von „Wer die Nachtigall stört“.

Tatsache aber ist: beide Romane handeln von der Familie Finch und dem Anwalt Atticus Finch, der nach dem Tod seiner Frau seine beiden Kinder Jean Louise, genannt Scout, und Jem alleine großgezogen hat.

In der Zeit unbeschwerter Kindheit und Freiheit wuchsen Scout und Jem unter der liebevollen Fürsorge ihres Vaters heran. Er erscheint ihnen als Held, denn er verteidigt die Rechte Farbiger (Neger), was in Alabama in den dreißiger Jahren nicht selbstverständlich war.

Doch nun im neuen Roma zu Beginn der fünfziger Jahre ist Jean Louise in New York tätig und kommt nur gelegentlich zu Besuch.
Warmherzig und gemütlich wird dieser Ort Maycomb in Alabama beschrieben. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.
Jean Louise hat einen Verehrer, Henry, der nach dem plötzlichen Tod von Jem der Nachfolger von Atticus in seiner Anwaltskanzlei werden soll.

Ganz offen sprechen Henry und Jean Louise über eine mögliche Ehe.

Doch sind sie auch immer wieder in Erinnerung in ihrer Kindheit, in der alles so leicht und unbeschwert war. Sie scherzen und spielen mehr, als dass es ihnen mit der Ehe ernst zu sein scheint.

Harper Lee hat einen ganz eigenen Roman hier konzipiert. Und so muss man ihn wohl lesen: die Kinderjahre waren die eine Seite der Geschichte. Das Alter von Atticus und die herangewachsenen Kinder von einst sind die andere Seite dieser selben Geschichte.

Der anfangs so liberal erscheinende Atticus ist in Wirklichkeit gar nicht so ein Verteidiger der Rechte der Neger. Eher ist er konservativ und begibt sich sogar zu einem Treffen des Ku Klux Klan, einer Gemeinschaft zur Unterdrückung der Rechte Farbiger. In langen Passagen kommt es zwischen Scout und ihm zu Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, die seine Einstellung zur Rassenfrage betreffen. Einerseits geht es hier also ganz allgemein um die Überwindung der Rassendiskriminierung in den Südstaaten der USA und andererseits, und das macht das Buch so anrührend und ungemein spannend, um Scouts Entidealisierung ihres Vaters. Für Scout ist der Vater immer ein Held gewesen, ein gerechter und ausgleichender Mann. Nun wütet sie buchstäblich um den Verlust ihres „Helden“ und kämpft mit ihm um die rechte Position in der Rassenfrage. Das bleibt lange das Thema, und es ist so menschlich und tiefschürfend gefasst, dass man schier spürt, wie hier zwei gleichgeartete Menschen um die rechte Einstellung kämpfen.

Emotional und wirklichkeitsnah werden einem von Harper Lee die Menschen, ihre Eigenarten und ihre Verschiedenartigkeit nahe gebracht. Hier gibt es die Angepassten und die Bigotten, die Spießer und die Nachdenklichen. Darüber hinaus aber geht es um die tiefe Liebe und Achtung zwischen Vater und Tochter.

Bewußt habe ich das heute unübliche Wort „Neger“ verwandt, weil Harper Lee es ebenfalls verwendet, um damit dem Zeitgeist Ausdruck zu geben.

Der Roman ist absolut lesenswert.

Harper Lee
Gehe hin, stelle einen Wächter
320 Seiten, gebunden
Deutsche Verlags-Anstalt, 3. Auflage 2015
ISBN-10: 3421047197
ISBN-13: 978-3421047199

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Guy de Maupassant: Ein Leben

Guy de Maupassant: Ein Leben

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Jeanne ist 17, als sie die Klosterschule verlässt und zu ihren Eltern heimkehrt. Sie ist bereit, sich auf das Abenteuer einer Eheschließung einzulassen und hofft auf die Erfüllung all ihrer Träume. Julien de Lamare bittet um ihre Hand. Sie ist von dem gut aussehenden Mann fasziniert. Doch ihre Naivität wird ihr zum Verhängnis, geht es Julien doch vor allem um Ansehen und Reichtum. Er ist ein Geizhals und schränkt Jeanne in allem ein, was ihr Freude macht. An allen Ecken wird gespart. Das beginnt bereits in den Flitterwochen, einer Zeit in der Jeanne versucht, sich an ihre ehelichen Pflichten zu gewöhnen.
Wieder zu Hause auf dem Landgut an der Küste der Normandie angekommen, erkennt sie, dass sie nichts mehr zu tun hat. Jeder Tag wird nun verlaufen wie der andere und sie wird sich dem tatenlos ergeben müssen. So, wie auch ihre Mutter es getan hat. Aber sie findet Trost mit der Geburt ihres Kindes. Einen Jungen, dem sie ihre ganze Liebe gibt, ihn behütet und verwöhnt. Ihrer inneren Verzweiflung und derer Einsamkeit entkommt sie damit jedoch nicht.

Beschrieben wird von Guy de Maupassant ein Frauenschicksal das zu Herzen geht und das damit eine bestimmte soziale Klasse im 19. Jahrhundert widerspiegelt. Als wohlhabende Frau war man in einer Ehe zum Nichtstun verurteilt. Damit kommt Jeanne nicht zurecht. Die Lieblosigkeit ihres Mannes und sein Fremdgehen verletzten sie zutiefst. Ihn ihrer Unselbstständigkeit ist sie gezwungen alles hinzunehmen. Im krassen Gegensatz dazu steht das Leben des Dienstmädchens Rosalie, die viel weniger mit dem Leben hadert. Die Charaktere, also auch Jeannes Eltern, werden im Buch sehr genau beschrieben. Was sie denken, wie sie lenken, aber auch ihre Ignoranz und Gleichmütigkeit werden dargelegt und auch, wie sie sich gesellschaftlichen Zwängen unterordnen. Der Roman ist nicht historisch, er entspricht vielmehr direkt dieser Epoche. So wird ein extremer Kontrast zur heutigen Zeit sichtbar.

Für den interessierten Leser gibt es einiges an Material. Dazu gehören Anmerkungen zum Text, ein Ausschnitt eines früheren Manuskriptentwurfes, eine Chronik und mehr.

Rezension von Heike Rau

Guy de Maupassant
Ein Leben
Übersetzt von Cornelia Hasting
Mit einem Nachwort von Julian Barnes
384 Seiten, Leineneinband im Schuber
mareverlag
ISBN-10: 3866481942
ISBN-13: 978-3866481947
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Brooke Davis: Noch so eine Tatsache über die Welt

Brooke Davis: Noch so eine Tatsache über die Welt

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Millie Bird ist gerade mal sieben Jahre alt, als ihr Vater stirbt. Ihre Mutter wird damit nicht fertig und lässt Millie eines Tages einfach im Kaufhaus allein. Das Mädchen wartet. Irgendwann muss die Mutter ja wiederkommen. Sie begegnet Karl, einen alten Mann, der auch einen Verlust erlitten hat. Seine Frau ist verstorben. Im Altersheim, in das sein Sohn ihn gebracht hat, will er nicht bleiben. So streift er umher. Das Kaufhaus ist sein neues Zuhause geworden. Er wird zu einer Bezugsperson für Millie.
Auch Agatha interessiert sich bald für das Mädchen. Sie beobachtet das Haus, in dem Millie mit ihren Eltern gelebt hat und das jetzt unverständlicherweise leer ist, obwohl niemand ausgezogen ist. Sie bemerkt bei ihren Beobachtungen, dass Millie allein ist. Erfährt von ihr, dass ihre Mutter weggefahren ist, denn im Haus hat das Mädchen einen Reiseplan gefunden. Auch Agatha ist allein, seit ihr Mann gestorben ist.
Karl und Agatha brechen aus ihrer Einsamkeit aus, um Millie zu helfen und ihre Mutter zu suchen.

Keiner der drei Protagonisten hat einen Platz im Leben. Das macht die Autorin deutlich. Verlust und Trauer lähmen. Das Alter setzt Agatha und Karl gehörig zu. Beide warten einfach ab. Aber so einfach stielt man sich nicht aus dem Leben. Als sie Millie begegnen, beginnen sie wieder Verantwortungsbewusstsein zu empfinden. Wer sonst soll sich um das kleine Mädchen kümmern? Taten folgen. Und so ist das Leben plötzlich wieder spannend. Es wird viel von den beiden Erwachsenen gefordert, die sich zurück ins Leben wagen. Die Autorin beschreibt dies sehr einfühlsam und nicht ohne Humor. Es ist immer die Frage, wie man scheinbar ausweglosen Situationen begegnet. Und ist man nicht mehr allein, wird es leichter. Doch Karl und Agatha tun sich schwer, Nähe zuzulassen. Es ist ein Prozess, den die Autorin immer weiter entwickelt. Das Buch geht zu Herzen, auch wenn es Situationen gibt, die der Leser sicher erst nachvollziehen kann, wenn er selbst ein gewisses Alter hat.

Rezension von Heike Rau

Brooke Davis
Noch so eine Tatsache über die Welt
280 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann
ISBN-10: 3956140532
ISBN-13: 978-3956140532
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Paul Harding: Verlust

Paul Harding: Verlust

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Trauer und Verzweiflung in aussichtsloser Lage.

Im kleinen Städtchen Enon im Maine lebte über Generationen die Familie Crosby. In diesem Roman wird ein Teil ihrer Geschichte fortgeschrieben.

Die Geschichte nimmt den Plot sofort vorweg: Charlies Tochter Kate ist tot! Sie war 13 Jahre alt und wurde von einem Auto angefahren.
Vater und Tochter waren eine glückliche und harmonische Einheit.

Auffallend ist der Bruch, mit dem die Erzählung beginnt: ein vermeintlich glückliches Familienleben mit einem normalen Alltag bricht buchstäblich zusammen. Kates Mutter Susan fährt zu ihren Eltern und verlässt ihren Mann, der mit seiner Trauer ganz alleine bleibt.

So beginnt eine Geschichte, die Trauer, Verzweiflung und Lebensangst zum Inhalt haben wird. Es wird eine Geschichte der Vergangenheit.

Charlie lebt nach der Trennung von seiner Frau alleine in einem Haus, das nach und nach verwahrlost. Er vertieft sich ganz in seine Erinnerungen. Einmal denkt er an seine eigene Kindheit, seine Großeltern und Urgroßeltern; dann wieder fallen ihm Erinnerungsfetzen ein, die schöne Tage und gute Jahre mit Kate heraufbeschwören.

Die Erzählung ergeht sich in wunderschönen Naturbetrachtungen im Wald und am See. Man spürt buchstäblich als Leser die Düfte und Stimmungen des Tages. Daneben wird man Zeuge einer beispiellosen Verzweiflung, mit der Charlie den Bezug zur Gegenwart zu verlieren scheint. Er wird medikamentensüchtig und beschafft sich Drogen und Schmerzmittel auf immer unzulässigeren Wegen. Äußerlich kommt er herunter.

Die Parallelgeschichte: hier die empfindsamen Naturbeobachtungen und da der körperliche Verfall eines aus allen Bindungen gefallenen Mannes macht den Reiz einer Erzählung aus, die sich den schönen und den traurigen Seiten des Lebens widmet. Der VERLUST ist das Thema! Dieser wird in vielfältiger Weise erkennbar und trägt den armen Vater weit fort aus seinem bisherigen Leben. Die Visionen, Erinnerungen und Halluzinationen sind lebensnah beschrieben und lassen einen spüren, dass es Trauer gibt, die das bisherige Leben fast auslöschen. Man geht in Gedanken einen Lebensweg mit, von dem man nicht weiß, wie er enden wird.

Paul Harding ist Pulitzerpreisträger. Er lebt mit Frau und Kindern in Boston und gilt als Star unter den neuen amerikanischen Erzähltalenten.

Paul Harding
Verlust
272 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag Juni, 2015
ISBN-10: 3630873774
ISBN-13: 978-3630873770
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