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Kategorie: Belletristik

A. M. Homes: Die Tochter der Geliebten

A. M. Homes: Die Tochter der Geliebten


„Ihr Päckchen ist angekommen, und es hat eine rosa Schleife „. Mit diesen Worten wird den Adoptiveltern von A. M. Homes die Geburt ihrer Adoptivtochter angekündigt.
A. M. Homes selber ist das Päckchen, von dem hier die Rede ist, und wie ein Päckchen fühlt sie sich, als sie im Alter von 31 Jahren ihrer Herkunft auf die Spur kommt.
Sie fährt zu Weihnachten 1992 nach Hause, und geheimnisvoll vertraut ihr die Mutter an, dass ihre leibliche Mutter sich gemeldet hat und sie treffen möchte! Für Homes beginnt eine unruhige Zeit. Sie lässt sich nur zögerlich auf den neuen Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter ein, denn bald danach meldet sich auch der leibliche Vater.
A. M. Homes ist im Buch wie im wirklichen Leben bereits eine erfolgreiche Schriftstellerin, als sie sich mit ihren biologischen Eltern konfrontiert sieht. Ihre Kontaktaufnahme wird zu einem für sie höchst kritischen emotionalen Erlebnis.
Nun erfährt sie, wer und wie ihre Eltern wirklich sind. Sie macht Erfahrungen, von denen sie sich nichts träumen ließ!
Im Hintergrund bleiben die stabilen Adoptiveltern, die ihr eine gute Kindheit beschert haben und sie herzlich lieben.
Ihre Erlebnisse mit den neuen Eltern sind eher sehr ernüchternd.
A.M. Homes schreibt mit einem klaren, emotional eher unterkühlten Ton über ihr Leben. Hinter der nüchternen Bestandaufnahme spürt man eine hoch sensible, tief berührte Frau, die nicht glauben kann, wie ihr Leben durch äußere Umstände in Bahnen gelenkt wurde, auf die sie keinen Einfluss hatte.
Umso mehr bemüht sie sich jetzt im Erwachsenenalter darum, ihr Geschick nicht von anderen bestimmen zu lassen. Das fällt schwer angesichts einer Mutter, die sich ihr drängend an den Hals hängt und eines Vaters, der in seiner robusten und unsensiblen Art jovial herablassend bei seinen Treffen mit ihr eine Schmuddelatmosphäre aufkommen lässt, in der sie sich wie ihre Mutter als junges Mädchen von ihm benutzt fühlt.

Die Suche nach ihren Wurzeln führt Homes tiefer und tiefer in die Vergangenheit. Es tun sich Abgründe auf, die sie auf ihrem Weg der Wahrheitssuche findet. Dabei offenbart sie tiefste Gefühle der Verlassenheit, gerät in Wut, Auflehnung und einen Nachforschungszwang, der an Besessenheit grenzt. Immer drängender werden für sie die Fragen, wer sie wirklich ist, von wem sie welche Eigenschaften hat und welche Krankheiten oder Abartigkeiten es in den Familien gab. Sie fühlt sich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch nach noch mehr Wahrheit und der Sehnsucht nach Ruhe.
In einer fast fanatischen Überaktivität erforscht sie ganze Familienzweige über Generationen zurück und sieht sich selbst als Erzählerin, die aus ihren vielen Suchergebnissen ihre Romane zusammensetzt.
Selten liest man eine so spannende und aufrichtige Vergangenheitsaufklärung wie bei A.M. Homes. Atemlos schlägt einen die Lebensgeschichte in Bann und man kann nicht von ihr lassen. Einmal mehr zeigt sich, dass das Leben die spannendsten Romane schreibt!

A. M. Homes
Die Tochter der Geliebten
Kiepenheuer&Witsch
ISBN 3462040340
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Mary Hooper: Im Haus des Zauberers

Mary Hooper: Im Haus des Zauberers

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Um ein klein wenig Geld zu verdienen, verkauft Lucy auf dem Markt Lavendelstäbe. Das hat offensichtlich jemand ihrem Vater zugetragen, denn dieses Mal wird Lucy von ihm erwischt. Als der hartherzige und gewalttätige Vater ihr das Geld abnehmen will, flüchtet sie. Aus Angst vor der Strafe kann Lucy nun nicht länger zu Hause bleiben, der Meinung ist auch ihre Mutter. London liegt zwei oder drei Tagesmärsche entfernt. Lucy macht sich auf den Weg, um dort eine Anstellung zu finden.
Unterwegs eilt sie zwei Mädchen zu Hilfe, die im Schlamm des Flusses in Schwierigkeiten gekommen sind. Einer von ihnen rettet sie mit ihrem beherzten Einsatz sogar das Leben. Merryl und Beth sind die Kinder von Dr. John Dee, dem Magier der Königin. Lucy wird ihre Hilfe hoch angerechnet. Sie wird als Kindermädchen eingestellt. Doch bald wird sie in eine seltsame Zeremonie hineingezogen, bei der es um eine Totenbeschwörung geht. Dabei kommt sie einer Verschwörung auf die Spur. Das Leben Königin Elizabeth steht auf dem Spiel!

Das 17. Jahrhundert geht zu Ende, als Lucy eine Anstellung bei Dr. Dee findet. Sie ist eine Verehrerin der Königin und möchte nichts lieber, als ihr nah sein. In Dr. Dees Haus könnte sie ihr begegnen, denn die Königin kommt immer wieder, um sich von Dr. Dee beraten zu lassen. Lucy ist eine sehr neugierige Person. Sie verfolgt ihre Ziele mit viel Mut. Doch genau das ist es, was sie sehr schnell in Schwierigkeiten bringt. Ihre Aktivitäten zu beobachten, macht sehr viel Spaß. Die Autorin stellt Lucy nicht nur als sehr zielstrebig dar, sie hat auch Herz und Verstand.
Die Handlung ist sehr gut ausgedacht. Das Buch ist spannend, aber auch gruselig. Im Hause eines Magiers geschehen eben Dinge, denen man im Grunde besser fern bleiben sollte. Doch Lucy ist auch fasziniert.

Die Lektüre des Buches ist äußerst aufregend. Dazu kommt, dass das Buch sehr gut geschrieben ist. Der Stil der Autorin gefällt. Die Sätze fließen perfekt ineinander.
Es ist ein historischer Roman. Was belegt ist und was fiktiv, beschreibt die Autorin in einem Nachwort. Man bekommt einen guten Einblick in das 17. Jahrhundert, das mit dem Buch ein Stück weit wieder lebendig wird.

Rezension von Heike Rau

Mary Hooper
Im Haus des Zauberers
Aus dem Englischen von Marlies Ruß
256 Seiten, gebunden
ab 12 Jahren
Bloomsbury Kinderbücher und Jugendbücher
ISBN-10: 3827053188
ISBN-13: 978-3827053183
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Jorge Bucay: Liebe mit offenen Augen

Jorge Bucay: Liebe mit offenen Augen


Wie kann man sich aus den Fallstricken der Liebe befreien, die auch mit neuen Partnern immer wieder in der gleichen Sackgasse enden?
Vor dieses Problem sieht sich Robert, Marketingexperte in Argentinien, mit seiner neuen Freundin Cristina gestellt. Sie ist unzufrieden mit ihm, und er fühlt sich eingeengt von ihr.

Da beschert ihm ein seltsames Schicksal die Zustellung von E-Mails, die an einen anderen gerichtet sind.
Ist es eine Therapeutin, die einem Kollegen ihre Theorien über Paarbeziehungen per E-Mail mitteilt?

Laura, so heißt die Absenderin, beschreibt darin just die psychodynamischen Vorgänge, denen sich Roberto mit Cristina ausgesetzt sieht.

Nach anfänglichem Zögern und Zaudern über die Indiskretion, sich die E-Mails anzueignen, kann Roberto der Versuchung nicht widerstehen, an diesen Texten seine eigenen Erfahrungen zu messen. Und wie gerufen erscheinen die Hinweise, die ihm einen Weg aus der Sackgasse zeigen könnten!
In einem launigen Verwirrspiel schaltet sich Roberto in den Schriftverkehr zwischen Laura und Alfredo, zweier Paartherapeuten, ein.
Die Gewissensbisse über seine Indiskretionen sind ebenso verständlich wie seine Neugier, die ihn in immer tiefere Verwicklungen mit seinem Doppelspiel treibt.

Zunehmend wird seine Korrespondenz mit der unbekannten Laura von erotischen Unterströmungen, die sich bei ihm im Laufe der Korrespondenz einstellen, beflügelt.

Verpackt in die Romanform lässt uns der anerkannte Gestalttherapeut Jorge Bucay an seinen Erkenntnissen und Lehren aus der Therapiearbeit teilnehmen.

Abwechselnd mit der Geschichte von Roberto und Cristina werden mit den E-Mails von Laura die entsprechenden Theorien zu gestörten Paarbeziehungen erörtert.

Interessante Details über das Miteinander von Paaren werden abgehandelt. Geht es doch in den meisten Paarbeziehungen um ähnliche Abläufe: nach der Phase der Verliebtheit folgen Phasen von Realitätserkenntnissen, die gelegentlich die irrtümlichen Einschätzungen der ersten Kontaktaufnahme korrigieren. Da werden Projektionen von eigenen Wünschen und Erwartungen nicht erfüllt; und da gerät die Abgrenzung nach der liebevolle Anfangsphase der Verschmelzung in
Wahrnehmungsirritationen.

Für den erfahrenen Leser ist die Erzählung folgerichtig beschrieben. Trifft man doch bei Paarberatern auf alle möglichen Theorien psychologischer und analytischer Schulen, die zu einer Grundthese führen: Paarbeziehungen sind vielfachen Anfechtungen durch falsch verstandene Eindrücke und Interpretationen ausgesetzt. Diese Störungen sind mit den Folgen von Projektionen, Fehlinterpretationen und von frühkindlichen Fehlentwicklungen allen Beratern bekannt. Die Aufdeckung defizitärer Strukturen bei der Lösung aus kindlichen Bindungen und die immer wieder erforderliche Abgrenzung hin zum eigenen Selbst sind Bestandteile aller Paartherapien.

Bucay hat den Roman phantasievoll konstruiert. Im Rahmen der Handlung darf man erfahren, wie Beziehungen gelingen könnten. Mehr noch lernt man über die Gründe, warum sie so häufig misslingen. Unterhaltsam und spannend setzt er seinen Roman in Szene, bei der auf der Klaviatur der psychologischen Analyse, der Information und der Lerneffekte gekonnt gespielt wird.
Der Roman ist lehrreich und amüsant, realistisch und kenntnisreich geschrieben. Die Verlockungen und Verführungen von neu beginnenden Beziehungen finden Gestalt in den beschriebenen Figuren.
Sicher werden sich Paare in manchen der Beschreibungen wieder finden!
Der amüsante und konsequent konzipierte Roman, leicht verständlich und keinesfalls belehrend geschrieben, wird viele aufgeschlossene und interessierte Leser finden.

Jorge Bucay
Liebe mit offenen Augen
Ammann
ISBN: 325060117

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Justin Cartwright: Das Glücksversprechen

Justin Cartwright: Das Glücksversprechen

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Justin Cartwright
Glücksversprechen
Rowohlt tb
ISBN: 3499246341

Daphne und Charles haben sich aus London nach Cornwall zurückgezogen, nachdem er aus seiner Firma ausgebootet wurde.
Die drei Kinder sind aus dem Haus und leben erfolgreich ihr eigenes Leben.

Da geschieht ein unerwartetes Unglück: die Tochter Juliet, Kunsthistorikerin und erfolgreiche Kunsthändlerin, wird eines Betruges wegen angeklagt. Sie war bei Christies angestellt, als sich der Skandal ereignete. Nach zwei schlimmen Gefängnisjahren wird sie entlassen, und ihr Bruder Charlie holt sie ab. Der Vater Charles hat gerade diese Tochter besonders geliebt und verehrt und war ihr zutiefst verbunden. Mit diesem Schlag werden beide Eltern kaum fertig.

Daphne empfindet die totale Leere und sieht, wie wenig sie mit Charles gemein hat.
Rückblickend erscheint das Familienleben von unguten Erwartungen, falschen Beweggründen und tiefen inneren Spaltungen gezeichnet.
Die großartige, erfolgreiche Familie hat einen Knacks bekommen und alle Protagonisten sitzen in der Falle.
Daphne ist verzweifelt, dass sie ihr Heim in London aufgegeben hat. Charles trauert seinem aktiven Berufsleben nach, und Juliet traut sich nach dem Ende der Gefängnishaft kaum wieder zurück ins Leben. Sophie arbeitet in einer Werbeagentur in London und hat neben ihrer Drogensucht mehr oder weniger desolate Affären.
Charlie wird allmählich zum ruhenden Pol stilisiert, was seinem inneren Befinden gar nicht entspricht.

Im Zentrum von Juliets Verbrechen stehen Fenster des in Amerika bekannten Glaskunstmalers Louis Comfort Tiffany.

Die Kontraste der inneren und äußeren Welten, in denen jeder lebt, werden differenziert beschrieben.

Menschliche Katastrophen entwickeln eine Eigendynamik, die vom wahren Leben gar nicht so weit entfernt sind.

Der Autor schreibt einen geschliffenen Stil und steigert die Handlung zu einem spannenden Psychodrama. Jeder der Protagonisten sehnt sich nach dem vermeintlich Glück der heilen Familie, ohne dass sich eine Lösung dafür abzeichnet. Zwischen den Zeilen lesen wir von den katastrophalen Zuständen im amerikanischen Frauenknast.
Man ist fasziniert von den Fallstricken, die das Leben für jeden parat hält.
Die Kunstszene New Yorks, der tiefsinnige,–oder flüchtige–, Gedankenaustausch zwischen den einzelnen Familienmitgliedern und wichtige Daten aus dem Leben der Protagonisten werden aufgefächert. Für England und Amerika als Gegenpole unterschiedlicher sozialer Gesellschaftsformen finden sich beeindruckende Passagen. Die Geschichte entwickelt sich zu einem Panorama von falscher Moral, trickreichen Lebenslehren, persönlichem Versagen und weisen Lebenseinsichten.
Wir haben hier einen Roman vorliegen, der zum Genre der großartigen englischsprachigen Gesellschaftsromane gehört.

Justin Cartwright gilt als einer der besten Romanciers unsere Zeit. 1945 in Südafrika geboren lebt er heute mit seiner Frau und zwei Söhnen in London.

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Pascal Mercier: Lea

Pascal Mercier: Lea

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Der Zufall bringt die beiden Männer zusammen. Adrian Herzog und Martijn Van Vliet. Beide kommen aus Bern und wollen nun zusammen nach Hause reisen. Herzog übernimmt die Rolle des Zuhörers, dem Van Vliet die Geschichte seiner Tochter und damit auch seine eigene erzählt. Seine Erzählung beginnt vor 18 Jahren, als seine Frau Cécile an Leukämie starb und er nun alleinerziehender Vater von Lea wurde. Etwa ein Jahr später lassen sich Vater und Tochter am Berner Bahnhof von einer Geigerin bezaubern. Das Spiel bringt den Glanz in Leas Augen zurück. Das Kind hat nun ein Ziel vor Augen, möchte auch Geige spielen lassen und der Vater setzt alles daran, ihr dies zu ermöglichen.

Bald darauf sind die ersten kratzigen Geigentöne in der Wohnung zu hören. Aus Céciles Zimmer wird ein Musikzimmer. Die Zeit bleibt nicht länger stehen. Es gibt eine neue Zukunft. In Marie Pasteur findet Lea eine Lehrerin, die ihre Begabung erkennt und entsprechend fördert. Sie bringt Leas Talent zur Entfaltung. Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt hat ihr Vater mehr Lampenfieber als seine 11-jährige Tochter. Lea kennt bald nur noch die Musik. Ihr Ehrgeiz frisst sie förmlich auf. Van Vliet spürt, wie seine Tochter ihm entgleitet, wie sie sich immer mehr von ihm entfernt, wo ihn doch schon seine Frau verlassen hat. Als er seine Tochter auf der Bühne stehen sieht, spürt er Unheilvolles auf sich zu kommen.

„Lea“ ist die sehr feinfühlige Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung. Der Autor bedient sich einer sehr eindringlichen, tiefgehenden Sprache, dringt damit in die Tiefen der Psyche seines Protagonisten ein. Dabei beschreibt er sehr genau den Konflikt, den Leas Vater lebt. Er steht mit der ganzen Verantwortung für ein Kind da, das er nie wollte, lebt dann aber nur noch für seine Tochter und sie für die Musik. Auch die Beziehung Leas zu ihrer Musiklehrerin macht ihm zu schaffen. Der Autor schildert, wie eine Bindung entsteht, von der Van Vliet sich ausgeschlossen fühlt und die ihn eifersüchtig macht. Der Vater, der nie gelernt hat, Gefühlte auszudrücken, droht am Ablösungsprozess seiner Tochter zu zerbrechen. Diese Fremdheit, die zwischen Vater und Tochter entsteht, wird auch für den Leser spürbar.
Während man praktisch alle auch noch so geheimen Gedanke Van Vliets erfährt, bleibt die Figur Leas undurchschaubar. Das ist ein bemerkenswerter Gegensatz.
Die Geschichte ist überaus aufwühlend. Dennoch hat der Autor einen Sog entstehen lassen, dem man sich als Leser nicht entziehen kann. Auch auf Adrian Herzog, den der Autor die Geschichte Van Vliets erzählen lässt, wirkt die Geschichte dem entsprechend, hinterfragt er doch auch sein eigenes Leben.

Rezension von Heike Rau

Pascal Mercier
Lea
Novelle
256 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3446209152

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Pawel Sanajew: Begrabt mich hinter der Fußleiste

Pawel Sanajew: Begrabt mich hinter der Fußleiste

Es vergeht keine Stunde, ohne dass die Großmutter auf das Gröbste flucht und schimpft. Der Großvater ist für sie ein stinkender alter Esel und ihr Enkelkind Sascha ein dreimal verfluchtes, verkommenes Miststück. Während der Großvater seinem Zuhause Tage oder auch für Stunden den Rücken kehren kann, ist Sascha daran gefesselt. In die Schule geht er nur selten. Er ist krank. Ein Staphylococcus frisst sein Gehirn auf. Die Großmutter hält den Jungen am Leben. Sie kennt sich besser aus als die Ärzte und weiß genau wie die chronischen Stirn- und Kieferhöhlen- und Mandelentzündungen, der Leberschaden, die Niereninsuffizienz und die Pankreatitis zu behandeln sind. Sie weiß auch, woher die Krankheiten kommen. Sascha muss für die Sünden seiner Eltern büßen.

Die Großmutter redet dem Jungen ein, so gut wie tot zu sein. Sie macht ihm glauben, er verfaule ganz langsam. Sascha macht sie damit eine ungeheure Angst. Es ist für ihn ein Schreckenszenario, sich vorzustellen auf einem Friedhof in der Erde unter einem Kreuz zu liegen. Viel lieber möchte er hinter der Fußleiste begraben werden, wo durch die Ritzen etwas Licht fällt.

Der Autor lässt Sascha die Geschichte selbst erzählen. Sie gewinnt dadurch an Dramatik und an Glaubwürdigkeit. Einen Menschen wie die Großmutter kann man sich dennoch nur schwer vorstellen. Das Buch ist vollgestopft mit ihren Flüchen und Beschimpfungen, die sehr betroffen machen. Der Autor offenbart erst spät im Verlauf der Geschichte, warum die Großmutter so geworden ist, dass sie eine Wand um sich herum zum Selbstschutz gebaut hat. Eine Entschuldigung für ihre Art ein Kind und auch ihren Ehemann zu quälen, ist das aber nicht. Der Autor lässt den Leser auch manchmal durchblicken durch diese dicke Wand, zeigt, dass die Großmutter sehr wohl Liebe empfinden kann. Wenn Sascha sehr schwer krank ist, umgibt sie ein Hauch von Wohlwollen.

Das Buch löst daher sehr widersprüchliche Gefühle aus. Es ist nicht einfach zu lesen, so eindringlich ist seine Dramatik. Die Charaktere werden in ihrer Zerrissenheit sehr tiefgehend beschrieben. Viele Szenen wirken auf makabere Weise geradezu komisch. Aber diese Komik löst kein Lachen aus, sondern Traurigkeit. Das Buch liegt dann auch bleischwer im Magen. Entgehen lassen, sollte man es sich trotzdem nicht. Die Art des Autors zu schreiben, ist außergewöhnlich.

Über den Autor:
Pawel Sanajew, der einer berühmten russischen Schauspielerfamilie entstammt, wurde 1969 in Moskau geboren. Er studierte an der Filmhochschule und arbeitete dann als Drehbuchautor und Synchronisator. Sein erster Film, der Thriller „Letztes Wochenende“ kam 2005 in die Kinos und wurde auf Filmfestivals ausgezeichnet. „Begrabt mich hinter der Fußleiste“, das für den russischen Bookerpreis nominiert wurde, ist sein erstes Buch.

Rezension von Heike Rau

Pawel Sanajew
Begrabt mich hinter der Fußleiste
Aus dem Russischen von Natascha Wodin
240 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-88897-464-9
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Nina Blazon: Katharina

Nina Blazon: Katharina

Endlich hat die Großfürstin Katharina den lang ersehnten Thronfolger zur Welt gebracht. Die Zarin ist begeistert und nimmt das Baby in ihre Obhut. Katharina wird zunächst ohne Führsorge gelassen. Die Hofdame Valentina kümmert sich schließlich um sie. Im Gegenzug muss Katharina dafür sorgen, dass Valentina nicht gegen ihren Willen verheiratet wird.
Die Zarin geht davon aus, dass Valentina Katharina nicht gewogen ist. Doch die beiden schließen heimlich Freundschaft, spielen der Zarin ihre gegenseitige Abneigung nur vor.
Katharina ist wütend und enttäuscht. Sie wird in ihren Gemächern isoliert wie eine Gefangene. Ihren Sohn bekommt sie kaum zu sehen. Selbst die Gratulationsstunden sind nur eine Farce. Die Räume werden prunkvoll ausgestattet, aber nur für einige Stunden. Dann wird alles wieder abgebaut.
Ihr Gemahl will sie nicht an ihrer Seite haben. Es besteht sogar die Gefahr, dass er, als zukünftiger Zar, Katharina verstößt. Aber ohnehin will sie nicht die Frau eines Zaren sein, sondern lieber selbst regieren. Sie will Russland von der Sklaverei befreien.

Die Autorin erzählt nicht nur die Geschichte Katharinas auf ihrem steinigen Weg zum Thron. Weitere Hauptpersonen sind die geheimnisvolle Hofdame, auch die Schneegräfin genannt, das Samojedenmädchen Sinaida, das innerlich zerrissen ist und sich nach Freiheit sehnt. Und der Soldat Dima, der sich später in Sinaida verliebt. Diese Figuren sind wirklich gut beschrieben. Ihre Geschichten sind ergreifend geschildert.
Leider lenkt die Autorin damit zu sehr von Katharina ab. So ist es schwer Zugang zu ihr zu bekommen. Sie bleibt als Person recht blass. Viel zu wenig wird beschrieben, wie sie es letztendlich schaffen konnte, ihre Ziele zu erreichen. Die Autorin geht hier nicht ins Detail, überlässt viel der Fantasie des Lesers.
Dennoch, das Buch ist gut erzählt und liest sich leicht. Man kann gut folgen, da die historischen Hintergründe perfekt mit der Geschichte verwebt sind. Was historisch belegt ist und was Fiktion, kann man, falls Interesse besteht, in einem Nachwort noch mal nachlesen.

Über die Autorin:
Nina Blazon studierte in Würzburg und Ljubljana Germanistik und slawische Sprachen, unterrichtete dann an mehreren Universitäten und absolvierte ein Redaktionsvolontariat. Sie lebt heute als freie Journalistin und Autorin in Stuttgart. Ihr erster Roman „Im Bann des Fluchträgers“ wurde 2003 mit dem Wolfgang-Hohlbein-Preis ausgezeichnet.

Rezension von Heike Rau

Nina Blazon
Katharina
412 Seiten, gebunden
für junge Erwachsene
Ravensburger Buchverlag
ISBN: 978-3-473-35268-5
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Tim Parks: Stille

Tim Parks: Stille

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Harold Cleaver ist Star-Journalist, Fernsehmoderator und Dokumentarfilmer. Nach einem Interview mit dem amerikanischen Präsidenten ist er auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Allerdings hat sein Sohn ein Buch über ihn geschrieben: „Im Schatten des Allmächtigen“. Cleaver hat nur noch eins im Sinn, er muss weg, weg von seiner Lebensgefährtin und den Kindern. Der 55-jährige regelt eben noch das Finanzielle, damit seine Familie versorgt ist, dann macht er sich aus dem Staub. Nimmt nichts mit, nur das Handy, wohl wissend, dass der Akku irgendwann leer sein wird. Er liest noch die zahlreichen Nachrichten seiner Lebensgefährtin, antwortet aber nicht mehr.

Die Reise führt ihn von England nach Südtirol. Im Rosenkranzhof findet er Unterschlupf. In zweitausend Metern Höhe. Es ist ein kleines Haus, direkt am Abgrund. Dahinter tut sich eine Felswand auf. Anderthalb Kilometer sind es bis zum nächsten Hof. Sein Haus ist auf keiner Karte verzeichnet. Cleaver fühlt sich unauffindbar. Hier wird er, überarbeitet und übergewichtig wie er ist, Ruhe finden Familienstreitigkeiten und Karrierestress haben ihn aus der Bahn geworfen. Jetzt will er nur noch Mensch sein, sonst nichts. Hier kann er in Ruhe rätseln, was den Sohn bewogen hat, so über ihn zu schreiben. Dabei will er Abstand gewinnen und zu mehr Gelassenheit finden. Doch die eigenen Gedanken werden lauter und lauter.

Manchen Dingen kann man nicht entkommen, egal wie weit man sich entfernt. Der Autor zeigt sehr anschaulich, wie seine Figur Harold Cleaver seinen eigenen Gedanken in die Falle geht. Es gibt ja auch nichts, was ihn aus seinen Überlegungen reißen könnte. Geschrieben ist das Buch mit einer ungeheuren Intensität und psychologischem Feingefühl. Das sorgt für eine greifbar wirkende Spannung, mit der man so nach der Lektüre des Klappentextes nicht rechnet. Damit liest sich das Buch überraschend gut, auch wenn man als Leser oft nur mit den Gedanken des Protagonisten unterhalten wird, der sich ja aus eigenem Wunsch heraus von seiner Umwelt völlig isoliert hat und dennoch keine Ruhe findet. Und trotzdem findet eine Veränderung statt, denn es hat sich viel getan. Das Umfeld ist ein völlig anderes. Und der Mensch ist fähig, seine Gedanken zu steuern, abzuwägen, Fehler einzugestehen, wenigstens vor sich selbst. Man kann diesem Buch sehr viel für sich selbst entnehmen, sich hineinversetzten in die Figur Harold Cleaver. Wer kennt sie nicht, diese Gedankenstrudel, das Grübeln über alte Geschichten, die Ausweglosigkeit mancher Situation. Der Autor zeigt, was passiert, wenn man einen Schlussstrich zieht und seinem Leben entflieht und das auf eine sehr glaubwürdige und vor allem beeindruckende Art und Weise.

Über den Autor:
Tim Parks wurde 1954 in Manchester geboren. Er studierte in Cambridge und Harvard, gewann zahlreiche Literaturpreise. Der Autor lebt mit seiner Familie in Verona.

Rezension von Heike Rau

Tim Parks
Stille
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
360 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann
ISBN-10: 3-88897-443-7
ISBN-13: 978-3-88897-443-4
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Andreas Heidtmann: Storys aus dem Baguette

Andreas Heidtmann: Storys aus dem Baguette

Woher nimmt ein Autor seine Einfälle? In der ersten Geschichte im Buch verdankt Tommy Stern seine Ideen kleine Zettelchen, die er ausgerechnet in einem Baguette findet. Es sieht nicht so aus, als hätte der Bäcker selbst das Papier mit eingebacken. Aber das ist dem Autor ohnehin egal. Hauptsache es läuft wieder. Die Schreibblockade ist vorbei. Was macht es da schon, dass das Brot nur durchschnittlich schmeckt. Er greift die Sätze auf und lässt sich inspirieren. Das setzt einen fast schon magischen Kreislauf zwischen dem zu lesenden Text, den Sätzen aus dem Baguette und dem was Tommy Stern schließlich schreibt in Gang. Die auf so wundersame Weise entstandenen Geschichten können sich sehen lassen und verhelfen dem Autor doch tatsächlich zum ersehnten Erfolg. Es scheint, als war es nur wenig Zauber im Alltag, der ihm gefehlt hat.

Auch die folgenden Geschichten wohnt etwas Fantastisches inne. Sie alle haben etwas Geheimnisvolles oder Unergründliches und doch lässt man sich gerne darauf ein, ohne diese inhaltlich hinterfragen zu müssen. Die Protagonisten brechen aus gewohnten Bahnen aus, folgen nicht irgendwelchen Erwartungen und tauchen nicht selten in eine Traumwelt ein, in der alles möglich scheint. So folgt man dem Autor gerne hinein in die Geschichten, die aus dem Rahmen fallen und die durch ihre Ungewöhnlichkeit einen ganz besonderen Reiz ausüben. Es ist ein Buch für Menschen, die noch zu träumen wagen, auch auf die Gefahr hin, das zwischen schöne Träume auch mal ein Albtraum gerät.

Über den Autor:
Andreas Heidtmann wurde 1961 bei Wesel geboren. Er absolvierte ein Klavierstudium in Köln und studierte Germanistik und Philosophie in Berlin. Er schreibt Prosa und komponiert für das Klavier. Außerdem ist er der Herausgeber des Poetenladens (www.poetenladen.de). Andreas Heidtmann erhielt mehrere Stipendien und Preise. Er lebt in Berlin und Leipzig.

Rezension von Heike Rau

Andreas Heidtmann
Storys aus dem Baguette
Einundzwanzig Geschichten
Edition exemplum
127 Seiten, Klappenbroschur
ATHENA-Verlag, Oberhausen
ISBN: 3-89896-239-3
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Nicole Krauss: Die Geschichte der Liebe

Nicole Krauss: Die Geschichte der Liebe

Es ist ein seltsames, irrwitziges und merkwürdiges Buch, das Nicole Krauss hier geschrieben hat. Aber am seltsamsten und sehr überraschend ist, dass hier eine erst 29 Jährige Schriftstellerin so lebensnah und echt das Leben eines über 80 Jährigen Mannes auf seinen Wegen und in seiner armseligen Altersexistenz zu beschreiben vermochte.
Leo Gursky hat es als polnischen Juden während des Krieges in jungen Jahren nach Amerika, NY, verschlagen. In seiner Heimat und in seiner Jugend liebte er ein Mädchen mit Namen Alma. Sie ist es, an der sein Herz hängt und um die sich in allerlei verwirrenden Formen die ganze Geschichte der Liebe dreht, denn er hat sie aufgeschrieben, seine und Almas Geschichte.
Mal ist diese Geschichte in der Geschichte ganz verloren gegangen, dann taucht sie wieder auf, als ein früher Jugendfreund von Leo sie im argentinischen Exil als sein Buch ausgibt.
Ein auch sehr seltsames Mädchen mit Namen Alma, die von ihren Eltern nach der Alma im Buch der Geschichte benannt wurde, sucht der Geschichte auf den Grund zu kommen. Ihr früh verstorbener Vater hat das Buch “ Die Geschichte der Liebe“ ihrer Mutter geschenkt, die wiederum einer Tages mit der Übersetzung des Textes aus dem Spanischen betraut wurde. Von wem? Einem Mann Namens Jacob Marcus. Auch dieser aber hat eine fremde Identität, die nichts mit dem Namen J.M. zu tun hat.
Es sind viele Geschichten in diesem Buch, die sich immer wieder überschneiden und in einander greifen.
Das Erzählte ist verwirrend und verschachtelt und schlingert von einem Geheimnis zum nächsten. Die Spannung aber bleibt.
Die kurzen, überschaubaren und fast lakonischen Sätze geben dem Ganzen zu Zeiten eine gewisse Komik und auch Tragik.

Am Ende ist es eine Geschichte von Liebe und Finsternis, von Träumen, Verrat, Suche und Einsamkeit,–eine einfach ganz wunderbare Geschichte, wie es sie über viele jüdische Schicksale mit der Endstation Amerika gibt.
Cl.B.

Nicole Krauss
Die Geschichte der Liebe
Eine seltsame und wunderbare Irrfahrt des Lebens
ISBN:3498035231
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