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Schlagwort: Familie

Alex Schulman: Vergiss mich

Alex Schulman: Vergiss mich

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„Vergiss mich“ ist ein autobiografischer Roman, der zu Herzen geht. Alex Schulman geht noch einmal zurück in die Vergangenheit. Er hofft, dass sich seine Mutter in eine Entzugsklinik einweisen lässt, dass alles besser wird, denn er möchte ihr noch einmal nah sein. So wie früher. Doch wann war das eigentlich? Und wann hat sie aufgehört, eine liebevolle Mutter zu sein?

Und so sinnt der Autor nach, versucht sich an seine früheste Kindheit zu erinnern. Schöne Erinnerungen werden lebendig, was außergewöhnlich ist für so ein kleines Kind. Doch dann, als die Mutter anfängt zu trinken, wird alles anders. Er und seine zwei Brüder wachsen auf mit einer alkoholkranken Mutter und passen sich so gut es geht an, um nicht darunter zu leiden, um nicht ihre unkontrollierbare Wut auf sich zu ziehen. Auch der Vater kann seine Frau nicht vom Trinken abhalten. Er spricht nicht einmal darüber. Dabei ist so offensichtlich, dass etwas nicht stimmt. Lisette Schulman kann ihre Krankheit nach außen hin lange verstecken, aber nicht zu Hause.

Aus ihrer Liebe zu den Kindern wird Verachtung und der Vater kann die fehlende Liebe nicht ausgleichen. Der Autor, er beschreibt im Buch seine Sichtweise und Gedanken sehr emotional, leidet unter ihrer Ignoranz spürbar, nicht selten ist er für seine Mutter einfach unsichtbar. Die Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart. Vielleicht wird ja alles anderes, wenn sie einen Entzug gemacht hat. Vielleicht ist dann wieder eine normale Beziehung möglich und sein innerer Konflikt löst sich auf. Er hat so viele Fragen und glaubt, wenn er Antworten hat, die Vergangenheit aufarbeiten und verstehen zu können, auch sich selbst besser verstehen zu können und seine Emotionen.

Dass Axel Schulmann die Vergangenheit selbstkritisch in autobiografischer Form aufarbeitet, statt einen Roman mit fiktiven Personen daraus zu machen, verleiht dem Buch eine ungeheure Tiefe und ist sehr berührend. Das muss man ertragen können. Aber so ist das Leben, es schreibt nicht nur schöne Geschichten.

Rezension von Heike Rau

Alex Schulman
Vergiss mich
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
256 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, 15. Mai 2025
ISBN-10: 3423284803
ISBN-13: 978-3423284806
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Johann Scheerer: Play

Johann Scheerer: Play

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Johann Scheerer beschreibt in seinem neuen Roman das Leben eines Musikproduzenten zwischen Arbeit, Kunst und Kindern.

Der Icherzähler beginnt schmissig mit einer Fahrt auf dem Fahrrad, Gespräch mit einem Kunden und Lena, seiner Frau, mit der er sich um die Termine bei der Kinderbetreuung streitet. Er ist redegewandt, geduldig, lakonisch und sehr gefordert.

Lange Passagen mit Verhandlungen zwischen seinen Musikerkunden und ihm zeigen einen fantasievollen Unternehmer, der seine exzentrischen und teilweise sehr narzisstischen Kunden zu nehmen weiß. Es geht um Fachgespräche, wie man etwas aufnimmt, wie man es „promotet“, wie man Musiker zusammenführt usw. Zahlreiche Fachausdrücke aus der Musikerszene sind nicht immer für den Laien verständlich.

Es gibt dazwischen tiefe Einblicke in das Familienleben. Früh schon hat der Titelheld drei Kinder. Die Geburt des ersten Sohnes zeugt von rührendem Mitgefühl für seine gebärende Frau. Von Beginn an nimmt er seine Rolle als Vater ernst. Er teilt sich mit seiner Frau die Erziehungs- und Betreuungsarbeit. Den Kindern ist er ein aufmerksamer Vater und spricht mit ihnen auf Augenhöhe. Einerseits werden sie in ihren Bedürfnissen respektiert, andererseits leitet doch er sie durchs Leben. Er ist warmherzig und sehr liebevoll.

Die Ehe geht schief und nach wenigen Jahren gesellt sich Sara zu der kleinen Familie. Aus der Erzählung geht hervor, dass sie eine starke Persönlichkeit ist. Mit ihr bekommt der Held die Tochter Pia. Also gilt es Schule, Kita und Beruf unter einen Hut zu bekommen.

Schließlich muss er einen besonders eigenwilligen, drogensüchtigen Künstler auf einer 8 wöchigen Tournee durch die USA begleiten.
Scheerer versteht es großartig, die Happenings, denen sein Held hier begegnet, zu beschreiben. Die älteren Kinder nimmt er mit auf die Reise, da er anders keine Betreuung für sie findet. Sie schlafen in den Studios, und, ob Tag oder Nacht, zwischen den Rufen „Papa, wo bist du?“ und der Arbeit mit der Musik hetzt David, so heißt der Protagonist, hin und her. Er
behält trotz all‘ des Trubels die Nerven und bleibt sogar immer freundlich und von unendlicher Geduld.

Dieses Buch unterhält auf anspruchsvolle Weise, da es u.a. zwischen dem Wert künstlerischer Arbeit und den anerkannt als „Arbeit“ deklarierten Berufen einen langen Disput zischen David und einem anderen Kitavater gibt.

Wirklich: Scheerer ist gescheit, witzig, klug und humorvoll. Unschwer erkennt man in der Hauptfigur autobiographische Züge von Johann
Scheerer wieder.

Er ist der Sohn von Jan Philipp Reemtsma und hat bereits zwei Romane über häusliche Ereignisse und seine Pubertät geschrieben. Alle seine Bücher sind sehr lesenswert!

Johann Scheerer
Play
Piper, April 2025
320 Seiten, gebunden
IBN-10: 3492073409
ISBN-13: 978-3492073400
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Martina Behm: Hier draußen

Martina Behm: Hier draußen

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Lara und Ingo haben sich einen Traum erfüllt, haben die Großstadt verlassen und sind mit den Kindern aufs Land gezogen. In Fehrdorf ist das Leben noch ruhig und beschaulich. Für Ingo bedeutet es aber auch, dass er pendeln muss. Und im Berufsverkehr braucht er für die Strecke doch länger als gedacht. Lara, die im Homeoffice arbeitet, ist mit den Kindern oft allein. Und mit den anderen Dorfbewohnern in Kontakt zu kommen, ist gar nicht so einfach.

Das Haus bietet viel Platz, so wie gewünscht, aber es hat Mängel, die dann doch mit der Zeit immer mehr ins Gewicht fallen. Es ist schlecht zu heizen. Dann passiert Ingo auch noch ein Unfall mit einer weißen Hirschkuh. Das gab es schon mal, ist lange her. Aber der Aberglaube, dass so etwas Unglück bringt und vielleicht sogar den Tod innerhalb eines Jahres, hält sich hartnäckig. Immerhin ist der Dorfjäger mit im Boot.

Im Buch geht es aber nicht nur um Lara, Ingo und ihre Kinder. Der Blick fällt auch auf andere Bewohner des Dorfes. Was bringt die Einheimischen dazu, zu bleiben? Und was hat die Zugezogenen dazu bewegt, aufs Land zu ziehen? Haben sie sich integrieren können? Wie auch immer, die Sache mit der weißen Hirschkuh bringt die Landidylle aus dem Gleichgewicht. Wer weiß schon, in welche Weise sich die Prophezeiung erfüllen wird.

Ich fühlte mich mittendrin beim Lesen. Die Autorin hat viel hineingepackt, beschreibt das Landleben vielschichtig durch den Wechsel der Perspektiven. Dabei schlägt sie einen eher gleichmütigen Ton an, setzt dabei aber auch ironische, traurige oder hoffnungsvolle Akzente. So vielfältig wie das Leben eben ist. Hier fließt so viel an Gedanken, Stimmungen, Empfindungen und Ansichten der Dorfbewohner ein. Einerseits ist da die Liebe zur Heimat zu spüren, andererseits zeigt sich, dass das Landleben alles andere als einfach ist. Lebensträume erfüllen sich selten und mancher Lebensentwurf wirkt festgefahren.

Es mag der Tod der Hirschkuh sein, der einen Wandel bewirkt. Der Aberglaube ist tief verwurzelt und kann Unheil für das Dorf bedeuten. Das schärft die Sinne und die Aufmerksamkeit. Vorkommnisse werden anders bewertet. Und einige fragen sich, wie es wäre, aus dem Trott auszubrechen oder mit Familientraditionen zu brechen, schließlich ist das Leben endlich. Und so bekommt die Handlung eine ganz eigene Dynamik.

Rezension von Heike Rau

Martina Behm
Hier draußen
469 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, März 2025
ISBN-10: 3423284781
ISBN-13:‎ 978-3423284783
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Colm Tóibín: Long Island

Colm Tóibín: Long Island

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Der bekannte irische Autor Colm Tóibín hat eine hinreißende Liebesgeschichte erfunden.

In Fortsetzung seines Romans „Brooklyn“ lebt die gebürtige Irin Eilis in Long Island mit ihrem Mann und zwei wohl geratenen heranwachsenden Kindern.

Alles scheint glücklich und zufrieden bis Eilis erfährt, dass ihr Mann Toni mit einer Kundin ein Kind gezeugt hat. Er ist Installateur. Seine italienischstämmige Familie mit Geschwistern und Schwiegermutter lebt im Umkreis, so dass Eilis sich von der Familie umgeben weiß. Diese verlangt von ihr, das Kind der anderen im Familienkreis aufzunehmen.
Ihre irische Familie und eine große Liebe hat sie vor zwanzig Jahren in Irland zurückgelassen.
Jetzt packt sie entschlossen ihre Koffer, um ihre alte Mutter in Irland zu besuchen, denn sie hat nicht die Absicht, sich um ein fremdes Kind zu kümmern.

Tóibín baut eine lange Geschichte auf, in deren Verlauf man hineingezogen wird in das irische Leben in einer kleinen Stadt. Mit Spannung erlebt man die verschiedenen Verbindungen, in denen sich die einzelnen Protagonisten befinden. Es ergeben sich so allerhand Verwicklungen dabei.

Hin- und hergerissen ist Eilis zwischen ihrer amerikanischen Familie und Irland, wo sie eher in das enge dörfliche Leben eintaucht.

Intrigen und Klatsch zwischen scheuen Kontakten beherrschen das Geschehen.

Wunderbar spürt man die spröde irische Landschaft, das kalte Meer und die Stimmung zu den verschiedenen Jahreszeiten. Dazwischen die aufwühlenden Gefühle zwischen den Liebenden Eilis und Jim, die zu keinem wirklichen Entschluss für ein weiteres Leben zu zweit finden können.

Mit psychologischem Feingefühl und tiefem Verstehen für die anstehenden Konflikte führt uns der Autor zu den Lebenswegen der verschiedenen Hauptfiguren. Auch die Nebenfiguren aber sind zur Charakteristik der Situation wichtig. Sie scheinen dem wahren Leben entnommen. Fragen tun sich auf, die keine Antworten erfahren. Auf diese Weise bleibt Neugier gepaart mit weiteren Fragen. Das macht den Reiz der Erzählung aus: dass Fragen offenbleiben! Dadurch bekommt das, was wichtig ist, ein größeres Gewicht.

Dass es starke und schwache Charaktere sind, die uns begegnen, ist eklatant. Alles ereignet sich so, wie es im richtigen Leben sein könnte.

Unterschwellig neben allen Schilderungen des Lebens bleibt die Frage: wird Eilis wieder mit Jim zusammenfinden?

Die heimlichen Treffen, die heimlichen Absprachen: alles bleibt in der Schwebe. Der Leser wird stark auf die Folter gespannt und bleibt es bis zum Schluss, dessen Ende hier nicht verraten werden soll.

Der gleichbleibende Fluss der Erzählung beschert dem Leser ein ungetrübtes Lesevergnügen.

Ein gelungeneres Buch habe ich lange nicht gelesen. Familiengeschichte, Liebesgeschichte und Ländergeschichte: es ist alles enthalten und Spannung pur, wenngleich die Gefühle immer verhalten bleiben.

Colm Tóibín kann man durchaus als Meister seines Fachs bezeichnen.

Colm Tóibín
Long Island
Carl Hanser Verlag, 13. Mai 2024
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446279474
ISBN-13: 978-3446279476
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Frida Skybäck: Schwarzvogel – Der erste Fall für Fredrika Storm

Frida Skybäck: Schwarzvogel – Der erste Fall für Fredrika Storm

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Frederika Storms Oma Gun beobachte bei einem Spaziergang eine junge Frau, die in Panik auf den zugefrorenen See läuft. Sie versucht sie durch lautes Rufen und entsprechenden Gesten aufzuhalten, denn sie weiß, dass das Eis noch nicht trägt und sie nicht überleben kann, wenn sie in das Eis einbricht. Doch nichts hilft, die junge Frau ertrinkt.

Frederika ist gerade erst aus Stockholm zurück. Hier hat sie als Ermittlerin gearbeitet und tut dies nun auch in der Mordkommission Lund. Als Partner wird ihr der etwas eigentümlich wirkende Henry Calment zugeteilt. Der Fall um die ertrunkene Frau ist ihr erster gemeinsamer Fall, denn diese weist Verletzung auf, die sie sich nicht selbst zugefügt haben kann. Frederika kennt sich aus in der Gegend, sie ist hier aufgewachsen und ihre Familie ist auf dem Hof in Harlösa nach wie vor ansässig. Oma Gun ist eine wichtige Zeugin, wie Frederika überrascht feststellen muss. Bald stellt sich heraus, dass sie die Tote Nomi Pedersen heiß und als Putzfrau bei Frederikas Cousin gearbeitet hat.

Die Ermittlungen führen also in das Umfeld ihrer Familie und die Vergangenheit lebt wieder auf. Frederikas Mutter ist vor vielen Jahren verschwunden und ihr Vater will nicht darüber sprechen. Aber es wird immer deutlicher, dass er mehr weiß, als er zugeben mag. Schließlich taucht der Name eines Mannes auf, der sowohl mit Nomi Pedersen als auch mit Frederikas Mutter in Verbindung gebracht werden kann.

Frederika ist eine Ermittlerin, die sich nicht unbedingt an Regeln hält, ganz im Gegensatz zu ihrem Partner Henry Calment. Ohne Rücksicht zu nehmen, gräbt sie immer tiefer in der Hoffnung, irgendetwas herausbekommen zu können, das weiterhilft. Tatsächlich sind es die kleinen Hinweise, die den Krimi immer wieder voranbringen oder ihm eine neue Richtung geben. Zeugen und Verdächtige lügen oder verschweigen nun gerne mal etwas, um sich zu schützen oder in einem besseren Licht dazustehen.

Auch Familienangehörige bekommen Frederikas Hartnäckigkeit zu spüren. Im Umgang mit ihrer Familie verliert sie deutlich Sympathiepunkte, zumal öfter mal beim Lesen der Verdacht aufkommt, dass sie nicht die richtigen Rückschlüsse zieht. Die Autorin erzählt langsam, detailreich und gibt dem Krimi Raum, sich zu entwickeln. Spannung lässt sie aus der Situation heraus entstehen. Das Ende ist überraschend.

Frida Skybäck
Schwarzvogel – Der erste Fall für Fredrika Storm
448 Seiten, broschiert
‎dtv Verlagsgesellschaft
ISBN-10: 3423263687
ISBN-13: 978-3423263689
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Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

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In dem vorliegenden Roman von Susanne Abel geht es um die Familie Monderath. Sie ist durch vielfältige Verstrickungen eine wahre Schicksalsfamilie!

Das Paar Gretchen und Konrad sind die Hauptakteure.
Gretchen war mit Konrad Monderath verheiratet. Im Jahr 2016 ist er schon lange tot, und sie ist alt und dement. Tom, der gemeinsame Sohn, ist 47 Jahre alt. Er lebt und liebt in Köln, wo er eines Tages Besuch von einem Halbbruder erhält. Er wusste nicht, dass es ihn gibt, hat das aber durch Recherchen herausgefunden. Henk van Dong ist Holländer. Er sieht ihm ähnlich wie ein Zwilling, was zu allerlei Vermutungen im näheren Bekanntenkreis von Tom führt.

Die Autorin lässt die Brüder auf Spurensuche nach dem Vater der beiden gehen.
Nun beginnt in zwei Zeitabschnitten einmal die Geschichte von Tom 2016, und die Geschichte Konrads vom Kind bis zum Soldaten im Zweiten Weltkrieg von 1933-1943.

In dem Roman wird Vergangenheits-und Gegenwartsgeschichte verarbeitet.
1933 beginnt Hitlers Herrschaft mit all’ den Folgen, die jene Jahre prägten: Naziideologie, Judenhass und Verfolgung, Ermordung und Eliminierung Behinderter. Nicht zuletzt folgt der Zweite Weltkrieg. Die Schwester von Konrad, ein mongoloides Mädchen, fällt dem Vernichtungswahn zum Opfer, und Franz, der ältere Bruder von Konrad, fällt 1942 im Krieg.
Konrad wird nach Militärzeit und Gefangenschaft Arzt und findet in Gretchen seine große Liebe. Letztere hat ein verborgenes Geheimnis, dass ihr Leben begleitet und beschwert.

Charaktere unterschiedlicher Mentalität und Geisteshaltung finden sich in den Figuren der Protagonisten wieder.
Vom Nazi bis zum aufgeklärten Nachkriegskind werden alle Seiten vergangener und gegenwärtiger Zeiten berührt.

Die Spannung steigt nach der Hälfte des Romans, als Kinderwunsch und Unfruchtbarkeit an der Realität zu zerbrechen drohen. Die Ärzte Konrad und ein Onkel verstricken sich in Gesetz und Ärzteordnung.

Worum also geht es in diesem Roman?
Ein wenig schleicht sich der Eindruck ein, dass hier die großen Fragen der Menschheitsgeschichte in einen Roman gepackt wurden: Liebe, Betrug, Trauer, Kinderwunsch und Verleugnung, politische Gegensätze und Krieg. Es wird gut erzählt und viel gesprochen. Man kann der Autorin eine fantasiereiche Fabulierkunst nicht absprechen. Die zahlreichen Erzählstränge lassen den Leser*in nicht los, so dass man gebannt dem Suchen nach der Wahrheit folgt.

Der Schreibstil ist schlicht und mit zahlreichen Kraftausdrücken bestückt.
Alles in Allem kann man von einem unterhaltsamen und im Aufbau durchaus spannenden Familienepos sprechen, das sicher viele Liebhaber der leichten Literatur erfreuen wird.

Susanne Abel
Was ich nie gesagt habe
dtv Verlagsgesellschaft, Juni 2022
560 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423290234
ISBN-13: 978-3423290234
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Bettina Flitner: Meine Schwester

Bettina Flitner: Meine Schwester

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Bettina Flitner begibt sich mit diesem Buch auf Spurensuche in die Vergangenheit. Es geht um ihre Familie, ihre Eltern, die Schwester und Großeltern. Ihre Eltern hatten sich in einer Zeit des Aufbruchs aus verkrusteten Strukturen in ein antibürgerliches und sexuell freies Leben begeben.

Anstoß zum Buch war der Suizid ihrer Schwester, die sich wie die Mutter mit 47 Jahren das Leben genommen hat.

In wechselnden Zeitebenen beschreibt Bettina Flitner ihr Kinderleben und ihr Erwachsenendasein. Ihre Schwester, um die es im Wesentlichen in diesen Aufzeichnungen geht, war schon früh ein gestörtes Mädchen mit Hungerattacken und innerer Unausgeglichenheit.

B. Flitner hat eine ungebrochene Gabe, in ihren Erinnerungen die täglichen Gegebenheiten trocken, nüchtern und auch gelegentlich karikierend darzustellen. In ihrer Erzählweise wirkt sie fröhlich, unbeschwert und ohne Ängste. Mit ihrer wenig älteren Schwester hatte sie ein enges Verhältnis. Sie heckten zusammen so manchen Schabernack aus. Auch die Großeltern spielen keine geringe Rolle und werden mit ihren skurrilen Eigenheiten beschrieben.

Sie beschreibt klar und schnörkellos, was sich täglich in ihrem Leben änderte. Viele Umzüge gehörten dazu und wechselnde Partner:innen der Eltern. So lebt eines Tages Frau Tasch mit in der Familie. So wie sie gekommen ist, verschwindet sie auch wieder. Ab und zu flüstern die Kinder „das ist seine Neue“, wenn wieder mal ein fremdes weibliches Wesen am Tisch Platz nimmt.

Etwa um 1970 ging es für eine Weile nach Amerika. Neugierig und munter beschreibt die Autorin ihre Schuleindrücke, die fremde Stadt New York mit ihren Geräuschen und Ausflüge zu einer „Landkommune“ etc. Dort geht es bunt, lustig und sehr freizügig zu.

In der Art wie B. Flitner ihre Kindheit und Jugend schildert, meint man zu spüren, dass sie sich in ihrem Inneren immer ein wenig auf Abstand zur Familie befand. Einzig die Schwester Susanne war lange Zeit ihr Kumpel und bester Freund. Diese fand sich wohl weniger leicht zurecht in dem ungeordneten Familienleben.

Dass die Mutter an Depressionen litt, zeigt die Autorin in wunderbaren Bildern. Es sind die schwarzen Vögel, die einer nach dem anderen kommen, um die zarte und empfindsame Mutter heimzusuchen. Den Vater beschreibt sie treffend mit den Worten“ Ein schwer zu fassendes Irrlicht, das mal hier und mal dort über einen morastigen Grund geistert“. (S.150) Mit diesen Worten wird die innere Distanz deutlich, mit der die Autorin ihre Familienmitglieder zu charakterisieren versucht.

D.h. nicht, dass sie nicht getroffen ist, als die Mutter stirbt.
Man spürt im Gegenteil ihr Mitgefühl mit dieser unglücklichen Frau.
Unmittelbar nachvollziehbar ist der Schock über den Tod der Schwester.

Alles in allem ist die Autobiographie in ihrer protokollarischen Darstellung reich an inneren Bildern, die Einblicke in ein unruhiges und wenig Halt bietendes Elternhaus öffnen.

Bettina Flitner ist Ehefrau von Alice Schwarzer und hat sich als erfolgreiche Fotografin einen Namen gemacht. Sie lebt in Köln.

Bettina Flitner
Meine Schwester
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2022
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3462002376
ISBN-13: 978-3462002379
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Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

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In der Autobiographie des bekannten Schauspielers Edgar Selge kann man die schrecklichen Zustände in einer bürgerlichen Nachkriegsfamilie nach dem 2. Weltkrieg kennenlernen. Wir schreiben das Jahr 1960.

Der Icherzähler ist 12 Jahre alt und lebt mit seinen drei Brüdern und den Eltern in einem Haus des Gefängnisdistrikts von Herford. Sein Vater ist dort Gefängnisdirektor.

Die Eltern betreiben Hausmusik in großem Rahmen. Mutter spielt Geige und Vater Klavier. Auch ausgewählte Gefangene dürfen gelegentlich an den in großen Räumen stattfindenden Hauskonzerten teilnehmen.

Maßgeblich im Hause sind die strengen Regeln des Miteinanders. In der Wahrnehmung eines 12Jährigen sind die häuslichen Lebensformen ein Schrecken ohne Ende. Mit ängstlichen Augen beobachtet der Junge, was um ihn her vor sich geht. Er kennt die Regeln, will sich aber nicht einfügen. Er übertritt ganz bewusst immer wieder die väterlichen Gebote, klaut und lügt, was ihm schreckliche körperliche Züchtigungen einträgt. Das Prügeln hat System. Die frömmelige und fast bigotte Atmosphäre trägt erschreckend sadistische Züge.
Man kennt alles das aus der schwarzen Pädagogik des 19. Jahrhunderts.
Die ängstliche Mutter und der alles dominierenden Vater bieten das Bild einer Gemeinschaft, in der der Vater das Sagen hat.

Im Gegensatz zu seinem Schauspielerkollegen Joachim Meyerhoff, dessen Bücher vor Witz und Komik sprühen, wirkt bei Edgar Selge alles strenger, kälter und abschreckend.

Selges Erinnerungen sind ernst, und man fühlt als Leser:in einen Schauer der Einsamkeit. Die älteren Brüder legen sich mit den Eltern an, kritisieren ihre deutschtümelnden Verhaltensweisen und das verklemmte, nationalsozialistische Gedankengut.

Die alles überragende Strenge beim Lernen, Musikspielen und im Umgang mit den Lehrern ist wahrlich bedrückend.

Edgar Selge muss eine schreckliche Jugend gehabt haben. Das sensible und still beobachtende Kind wittert überall die Gefahr der Bestrafung. Vor lauter Angst kann der Junge beim Lernen nicht folgen. Er flüchtet sich in Fantasiespiele, in denen er seinen Frust auslebt.

Beeindruckend ist die nüchterne Darstellung, in der alles so wirkt, als passiere es gerade jetzt.
Insofern ist die Geschichte literarisch gut erzählt.
Das Buch liest sich in weiten Teilen wie die Inkarnation eines deutschnationalen, judenfeindlichen Bürgertums.
Einziger Lichtblick ist die Musik, die breiten Raum einnimmt, und der man sich mit Hingabe widmet.

Edgar Selge
Hast du uns endlich gefunden
Rowohlt Buchverlag, 4. Auflage, Oktober 2021
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498001221
ISBN-13: 978-3498001223
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Zeruya Shalev: Schicksal

Zeruya Shalev: Schicksal

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Zeruya Shalev hat die ganz große Begabung, die man ähnlich bei anderen israelischen Schriftstellern wie Amos Oz oder David Großmann findet: aus einer Vielzahl Assoziationen, träumerischen Erinnerungen und Gegenwartserlebnissen ein Geflecht von Beziehungsmustern sichtbar werden zu lassen.

In ihrem neuen Roman „Schicksal“ geht es um zwei Paare: Rachel und Menos und Atara mit Alex.

Rachel und Menos hatten sich 1948 in der Terrororganisation Lechi engagiert, die die Befreiung Israels aus der englischen Mandatsregierung zum Ziel hatte. Menos verschwindet schnell spurlos aus der Geschichte und aus Rachels Leben.

Die Icherzählerin Rachel ist inzwischen an die neunzig Jahre alt, als eine nicht mehr ganz jungen Frau zu ihr kommt. Wie sich herausstellt ist Atara die Tochter von Menos. Sie spürt der Geschichte ihres Vaters und seiner ersten Ehe nach.

Atara ist mit Alex verheiratet und hat mit ihm den gemeinsamen Sohn Eden. Beide hatten schon Kinder aus vorherigen Ehen. Die Beziehungen in dieser Familie sind kompliziert und konfliktträchtig.

So beginnt eine Erzählung, in der es um Krieg, Liebe, Verlust und psychisches Leid geht.

In der Erzählung laufen die Lebensgeschichten von Rachel und Atara parallel. Besonders Letztere ist in einem Netz aus Zweifeln und Selbstzweifeln gefangen. Als ihr Mann Alex sehr plötzlich und unerwartet stirbt, ist die Handlung weitgehend mit ihrem Schicksal und ihrer problematischen Ehe befasst.

Mühsam sind in der Folge die Zeitsprünge zwischen der Staatsgründung und dem späteren Israel. Man spürt die allgegenwärtige Gewalt kriegerischer Handlungen.

Nahe kommt einem in der Beschreibung von Zeruya Shalev die Landschaft, die Städte und das allgemeine politische Klima seit der Staatsgründung 1948, als es noch eine britische Mandatsbesatzung gab. Die Verfolgung, der Holocaust und die Jahrhunderte währende Ghettoisierung haben die Bewohner Israels zu Überlebenskünstlern und Kämpfern gemacht, die sich nie wieder einem Untergang ergeben werden.

Wenn der Roman auch zu Anfang interessante Einblicke in das Leben, die Geschichte und das Schicksals Israels verspricht, so kommt im Laufe der Erzählung Langweile auf. Zu wenig stringent und zu ausschweifend verliert sich die Autorin in langatmigen Schilderungen über die innerlichen Befindlichkeiten ihrer Protagonisten. Bei einer Autofahrt zu Rachel erlebt Atara lange Verzweiflungsausbrüche und unendliche Gefühlsberichte über ihre innere Zerrissenheit. Irgendwann fühlt man Überdruss, weil rein gar nichts vorangeht. Die Sprache ist schön, ästhetisch und ausdrucksvoll, gelegentlich fast biblisch; sie reicht aber nicht, den Roman zu einem anhaltend interessanten Leseerlebnis werden zu lassen.

Vom Ansatz her geht es um ein interessantes Familiengeflecht mit vielen Irrungen und Wirrungen, Enttäuschungen und Verlusten. Die Schilderung der Beziehungsdramen und Ataras Anklagen gegen sich und andere machen den Roman zu einem Stück tragischer Familiengeschichte.

Wer an dieser Art Psychodrama interessiert ist und ganz allgemein am Leben in Israel gerne teilnimmt, wird auf seine Kosten kommen.

Die Übersetzung von Anne Birkenheuer wird allenthalben als große Leistung gewürdigt.

Zeruya Shalev
Schicksal
Berlin Verlag: 2. Edition, Mai 2021
416 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3827011868
ISBN-13: 978-3827011862
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Annie Ernaux: Die Scham

Annie Ernaux: Die Scham

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Wie in ihren zahlreichen vorangegangenen Büchern, in denen sie sich mit Stationen ihres Lebens und besonders der Kindheit und Jugend befasst, behandelt Annie Ernaux auch in ihrem neuesten Werk einen Abschnitt aus ihrem Leben.

Hier geht es um „Die Scham“, ein besonderes Kapitel ihrer Erinnerungen.

Sie macht ihre Erkenntnisse in diesem Buch daran fest, dass ihr Vater die Mutter eines Sonntags „habe umbringen“ wollen. Wirklichkeit oder fantasierte Schrecken der Kindheit? Jedenfalls gehörte Brutalität nicht zum Alltag ihres Kinderlebens.

Zurück im Jahr 1952 beschreibt sie, was sie sah, und wie sie sich und andere erlebt hat.
Wunderbar präzise fängt Annie Ernaux Stimmungen ein, die genau in diese Zeit um 1950 gehören.
Wir wissen, dass ihre Eltern einfache Leute sind, und dass ihr der Absprung aus der Kleinbürgerlichkeit in die höheren Sphären des Bildungsbürgertums gelungen ist.
Mit dem Studium gelang es ihr, sezierend den Blick auf die Besonderheiten des kleinbürgerlichen Alltags zu richten.
Als sie zwölf Jahre alt ist, entwächst sie der Kindheit und wird zur Tochter, die weibliche Formen annimmt, Nylonstrümpfe tragen darf und noch vieles mehr. Es hindert die Eltern nicht, sie gelegentlich zu schlagen. Fast karikierend beschreibt sie die Tages- und Wochenverläufe: was „man“ wann isst, anzieht, welchen Tätigkeiten „man“ an welchem Tag nachgeht und wie „man“ sich zu benehmen hat. Es ist ein fest gefügtes Programm, aus dem es kein Entkommen gibt

Vorurteile über das, was gut und böse ist, und wie „man“ sich zu benehmen hat, gehören zur Summe der bitteren Bilanz, die Annie Ernaux auch in diesem Rückblick aufzeigt.

Sie ist gleichzeitig distanziert in ihren Betrachtungen und gefangen in ihrer Erinnerung. Ohne Umschweife und Einschränkungen oder Beschönigung schreibt sie darüber. Wie es im Umschlagtext treffend beschrieben ist
“Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit“.

Dieses Gefühl der Scham beherrscht die Erzählung.
Wie ausgeschlossen sie sich fühlte beim Besuch einer vornehmen Schule mit Menschen höherer Bildung und kultureller Lebensart, das ist fast beklemmend. Gegenüber ihren Mitschülerinnen sieht sie sich in ihrer Gefühlslage und der Lebensformen weit unterlegen.
Ihr Bekenntnis, dass sie sich entgegen ihrer eigenen Aufgeklärtheit nicht aus den Fängen dieser einschränkenden Vergangenheit ganz befreien kann, ist absolut echt. Schreiben mag ihr helfen, alle Erfahrungen prüfend zu hinterfragen; los wird sie die Erinnerungen nicht.

Annie Ernaux ist eine mutige Frau, die mit ihrer Selbsterforschung zur Aufklärung psychischer Befindlichkeiten und deren gesellschaftlicher Zusammenhänge beiträgt. Es steht mir nicht zu, darüber zu räsonieren, warum sie sich selbst in ihren Schriften immer wieder zum Objekt der Forschung macht. Selbsterkenntnis und gesellschaftliche Zustandsbeschreibung stehen beide im Zentrum ihres Interesses.

Im Klappenztext heißt es, sie bezeichne sich als „Ethnologin ihrer selbst“. So kann man die Geschichte sehen.

Hoch gelobt von der Kritik und mit zahlreichen Preisen bedacht lebt sie in Frankreich.

Annie Ernaux
Die Scham
110 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, 17. August 2020
ISBN-10: 3518225170
ISBN-13: 978-3518225172
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