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Schlagwort: Heimat

Hugo Hamiltom: Palmen in Dublin

Hugo Hamiltom: Palmen in Dublin

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In einem langen Monolog lässt uns der Icherzähler in diesem Roman an seinen Gedanken, Reflexionen und Erinnerungen teilnehmen.
Es gibt keinen nachvollziehbaren Handlungsstrang.
Er mag Anfang dreißig sein, als er mit seiner Frau Helene und zwei kleinen Töchtern nach einem langen Berlinaufenthalt nach Irland zurückkehrt. Wo ist er zu Hause? In Deutschland oder in Irland?
Man hört davon, dass sein Vater Ire und die Mutter Deutsche waren. Zu Hause wurde Deutsch oder Englisch gesprochen. Der Vater mochte Englisch nicht. Er zog die gälische Sprache vor.
Erklären sich daraus die zahlreichen schwierigen Gefühle, die diesen Mann in seinem Leben umtreiben?

Nun, man muss sich auf Gedankenfetzen, wechselnde Orte und Begebenheiten einstellen, wenn man sich diesem sehr anerkannten Autor in seinem Roman nähern will.

Der Held der Geschichte bleibt den ganzen Roman hindurch auf der Suche nach einem Zuhause. Krampfhaft sucht er in Dublin Fuß zu fassen. Er ist arm und hat Schulden. Mühsam quälen seine Frau Helene und er sich durchs Leben. Ihre Existenz steht auf tönernen Füssen. Zahlreiche Verwandte tauchen auf und verschwinden wieder. Es gibt Bindungen von Helene zu ihrer Mutter und zu ihren Geschwistern. Dann taucht die Mutter auf. Sie lebt in Kanada; doch viel mehr wissen wir nicht von ihr. Der Icherzähler verliert in einer anrührenden Szene seine Mutter.

Kleine Reisen mit den Kindern, Abende mit Freunden, eigene Erlebnisreisen und gesellschaftliche Alltagsgeschichten öffnen uns den Blick in eine Welt, in der es so recht keine Gewissheiten gibt.

Wo ist Heimat, wo komme ich her, und wo gehe ich hin sind die altbekannten Fragen, mit denen sich Menschen auf der Suche nach Klarheiten befinden. Unser Held bleibt ein Suchender, fast überall eher fremd als sich zugehörig fühlend.

Es ist eine Geschichte vom Abschiednehmen, vom Ankommen und wieder sich trennen, von der Schönheit der Natur und von der Fremdheit in großen Städten; nicht zuletzt handelt sie vom Aufbruch zu neuen Ufern, und dieser bietet Anlass zu Hoffnung.

Es ist eine nachdenkliche und besinnliche Geschichte.

Hugo Hamilton entstammt selber eine Mischehe: die Mutter war Deutsche, der Vater stammte aus Irland. Aufgewachsen ist Hamilton in Dublin, der Heimat seines Vaters, wo er heute lebt.

Hugo Hamilton
Palmen in Dublin
288 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, Juli 2020
ISBN-10: 3630873014
ISBN-13: 978-3630873015
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Sasa Stanisic: Herkunft

Sasa Stanisic: Herkunft

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Wie erinnert man sich seiner Herkunft?

Herkunft ist ein Hörbuch von höchst bemerkenswerter Eigendynamik.
Der Autor Sasa Stanisic stammt aus einem Land, das einmal ein Land, dann zwei dann viele waren. Ursprünglich hieß es Jugoslawien, das dann in so viele verschiedene Länder zerfiel.
In den Erinnerungen von Sasa Stasinic verwischen sich allerdings seine Herkunftsorte zu Serbien, Bosnien oder zuvor eben unter Tito Jugoslawien. Religionen sind ihm ganz fremd, und naiv macht er die muslimische Mutter daran fest, dass sie kein Schweinefleisch isst, quasi als eine Form der Diät.
Stanisic’s Großmutter kommt zunächst häufig zu Wort; doch alle Erinnerungen sind assoziativ, kreisen um Sommer, Winter, Vögel, Schlangen und das Gefühl von Heimat.
Auf die Frage „wo komme ich her“ gibt es nur die Antwort “von hier, du kommst von hier.“
Auch Gebäude geben die Herkunft an.Hier es gibt die Bessergestellten und dort die Ärmeren.

Stanisic liest seine Geschichten selber mit einem angenehmen, etwas rauchig oder beinahe heiser klingenden Tonfall. Fast hat man den Eindruck, seine Gedanken entstehen im Moment des Sprechens. Akzente entstehen in kurzen Sätzen, wechseln Zeit und Ort, einmal 1992, das Fluchtdatum, dann wieder 2018 in der Gegenwart.

Sasa Stanisic ist ein Wortakrobat und ein Trapezkünstler der Sprache. Voller Lebensfreude, z.T. auch melancholisch, dann wieder amüsiert und hingerissen klingen seine Worte und er landet bei Eichendorf, dem wehmütig- sehnsüchtigen Lyriker. Stasinic zuzuhören erzeugt Glücksgefühle, denn es gibt keine fortlaufende Handlung. Man lässt sich auf den Klang seiner Aussprache und seines Singsangs mit seinen momentanen Eingaben ein; er scheut sich nicht in Ansätzen Lieder zu singen.

Heidelberg ist die Station seiner Bildung und Ausbildung. Wie er diese Stadt beschreibt kommt einem vertonten Gemälde gleich.
Die Herkunft ist das Leitmotiv und sicher sind seine Erinnerungen tiefenscharf. Doch geht es auch um das Fremdsein, eine Identität des Wanderers zwischen dem Herkunftsland und dem jetzigen Wohnort Deutschland. Und Herkunft findet immer wieder auch seinen Platz bei der Großmutter. Er beschreibt sie als festen Hort in seiner Erinnerung bis hin zu Gegenwart: sie wird liebevoll und skurril skizziert, und man spürt eine stille Zärtlichkeit.

Nachdem ich zunächst ein wenig skeptisch war, mich auf die assoziative Melodie des Hörens einzulassen, geriet ich mehr und mehr in den Sog dieses lebendig pulsierenden Sprachgesangs. Zuletzt hat es mich vollkommen mitgerissen!

Man sollte das Buch in seiner wunderschönen Prosa lesen oder besser noch hören!

Sasa Stanisic
Herkunft
368 Seiten, gebunden
Audible Hörbuch
Der Hörverlag
ISBN-10: 3630874738
ISBN-13: 978-3630874739
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Daniel Schreiber: Zuhause

Daniel Schreiber: Zuhause

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Wie und wo finden wir den Ort der Heimat?

Daniel Schreiber beginnt seine Reflexionen über „Zuhause“ mit einem Gang durch das frühlingshafte London. Er beschreibt in poetischen und anrührenden Worten die vielfarbige Blumenpracht und das frische Grün des Frühlings. Bei seinen Überlegungen, was für ihn „Zuhause“ bedeutet, kommt er zu einer tiefsinnigen Betrachtung dessen, was dem Menschen Zuhause sein kann. Ist es ein Ort der Bestimmung? Führt Heimat und Zuhause zur Identitäts- und Sinnfindung? Bedeutet es den Ort, der Geborgenheit und Sicherheit verheißt?

In seinem Essay über seine Kinder- Jugend- und späteren Jahre gibt er seinen eigenen Weg preis, mit dem er sich lange Jahre auseinandergesetzt hat. Er wuchs auf der brandenburgischen Seenplatte auf, kann dem aber als Heimat später nichts mehr abgewinnen. Zu bitter waren die ersten Schulerfahrungen mit einer sadistischen und linientreuen Stasi- Lehrerin, die ihn quälte.

Aus dem zuerst so poetischen Beginn entwickelt sich zunehmend ein theoretisches und philosophisches Gedankenspiel mit ganz handfesten Berichten über eine Jugend, die mit dem Makel der Homosexualität behaftet war.

In der DDR war es verpönt, zu dieser Spezies Menschen zu gehören, wie ja überhaupt das Tabu der Homosexualität erst in den frühen siebziger Jahren auch im so genannten Westen Deutschlands eine Änderung erfuhr. Im Wechsel mit Erinnerungen an New York, London und weiten Reisen, eigenen Lebenserfahrungen und geheimen Ängsten weiht uns Schreiber in die Tiefen psychologischer Einsichten über das Wachsen und Werden seines Lebens ein.

In einem Exkurs beschreibt er die Wanderjahre seiner Vorfahren durch Flucht und kriegsbedingte Vertreibung.

Aussagen von Philosophen, Soziologen und Psychoanalytikern bereichern die praktischen Einsichten, zu denen er in seinen Reflexionen kommt.

Es ist ein angenehm offenes aber keinesfalls indiskretes Bekenntnis, mit dem Daniel Schreiber über seine dunklen Stunden und die Suche nach dem wahren Zuhause aufwartet.

Die poetischen Passagen sind besonders reizvoll, weil sie unmittelbar eine zu Ort oder Stadt passende Stimmung wiedergeben.

Jeder mag ähnliche Erfahrungen und Entwicklungen erlebt haben, die in einer sich ändernden Welt mit großer Mobilität zu Entfremdungen und Neuorientierungen führen mag.

Daniel Schreiber
Zuhause
144 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, Februar 2017
ISBN-10: 3446254749
ISBN-13: 978-3446254749
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Jonathan Safran Foer: Hier bin ich

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich

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Mit einem großen Familienroman tritt der vielfach ausgezeichnete amerikanische Autor J. S. Foer nach langer Pause wieder an die literarische Öffentlichkeit.

Es handelt sich in seinem neuen Roman um eine jüdische Familie, die aus vier Generationen besteht und in Washington D.C. lebt.

Julia und Jacob aus der mittleren Generation sind das Ehepaar, das im Mittelpunkt der Handlung steht. Er ist Schriftsteller und sie Architektin. Sie sind seit 16 Jahren verheiratet und Eltern von drei Söhnen: Sam, Max und Benjy. Diese machen nicht nur Freude, und Julia und Jakob sind sich oft uneins in Fragen der Erziehung.

Von Beginn an stark reflektierend zeigt uns der Autor ein Paar, das die jungen Jahre der Leidenschaft hinter sich gelassen hat.

Natürlich geht es neben anderem auch um Sex und die Veränderung von Sex in der Ehe.

Zwischen Julia und Jacob hat sich mit den Jahren eine gewisse Scheu entwickelt, ihre geheimen Wünsche zu äußern und auszuleben. In Passagen der Rückschau erleben wir die beiden noch neugierig und experimentierfreudig. Doch der Alltag mit Kind und Kegel hat längst die erste Phase der Begegnung und Entdeckung überlagert. Rücksichtnahme auf die Kinder und die Bedürfnisse des anderen haben einen jeden von ihnen in ein Zwangskorsett versetzt.

Gedanken, wie man sich Freiheit und Unabhängigkeit wünscht, sind dem Anfangsstadium der Verliebtheit gewichen.

In meisterhafter Weise handelt J.S.Foer die langsame Entfremdung zwischen den beiden ab. Es ist schwer auszuhalten, wie man sich bemüht, zusammen zu bleiben und sich doch voneinander entfernt.

In langen und endlosen Gesprächen aller Beteiligter quälen sie sich durch ihr Leben. Die Figuren in dem Roman reflektieren und verdrängen zugleich, so dass sich ein tiefer Zwiespalt offenbart: kann man loslassen, und wohin soll das führen?

Heimatlos zu sein ist nicht erstrebenswert. Und doch ist das der tiefere Gehalt der Geschichte: wir alle suchen Zugehörigkeit und müssen diese mit dem Bewusstsein ertragen, dass wir trotz aller Verbundenheit Individuen mit eigenen Gewohnheiten und Wünschen bleiben.

Der Roman umfasst mehr als 600 Seiten. Szenenwechsel erfolgen schnell und unerwartet. Erzählung, Dialoge und unausgesprochene Gedanken wechseln in schnellem Tempo. Die weit verzweigten Familienverbindungen reichen bis nach Israel, in ein Land, dessen Konflikte und Vorgeschichte mit in den Roman einfließen. Traditionen bleiben bestehen, auch wenn man sehr weltlich ausgerichtet lebt. Man feiert die jüdischen Feiertage und bereitet sich auf die Bar Mizwa von Sam, dem ältesten Sohn von Julia und Jacob, vor. Mit dem Fortlauf der Handlung zeigt sich aber die zunehmende Brüchigkeit der Ehe seiner Eltern. Alles läuft auf eine Trennung hinaus.

Der Titel des Romans klingt fast biblisch: Hier bin ich (…und kann nicht anders…) Ja, zu einem langen Leben zu zweit gehört Ausdauer, zuweilen Anstrengung und Durchhaltevermögen. Dazu ist nicht jeder bereit, wenn sich die Wunschvorstellungen von Glück auf Dauer nicht halten lassen.

Autobiographische Erfahrungen haben den Autor J.Safran Foer zum  Entwurf seiner Romanfigur Jacob vermutlich beeinflusst. Er ist wie Jacob Schriftsteller, hat wie dieser Kinder und ist in seiner Ehe gescheitert.

Ein schwieriges, nachdenkliches und anstrengendes Buch mit ausufernder Handlung hat J.Safran Foer geschrieben, das vom Leser Durchhaltevermögen verlangt.

J.S. Foer war mit der ebenfalls herausragenden Schriftstellerin Nicole Krauss („Kommt ein Mann ins Zimmer“) verheiratet und lebt in New York.

Jonathan Safran Foer

Hier bin ich
688 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, November 2016
ISBN-10: 3462048775
ISBN-13: 978-3462048773
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Rebecca West: Die Rückkehr

Rebecca West: Die Rückkehr

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In einem Landgut südlich von London warten im Jahr 1916 Kitty und Jenny Baldry sehnsüchtig auf Bettys Mann Chris, der im ersten Weltkrieg in Frankreich an der Front kämpft.

Sie bekommen einen sonderbaren Besuch von einer ärmlich aussehenden Frau, die ihnen mitteilt, dass Chris verletzt sei und bald zurückkehren wird. Doch mit seinen Verletzungen habe es eine besondere Bewandtnis: er habe sein Gedächtnis verloren und lebe sein Leben, als sei er noch zwanzig Jahre alt. Er habe sich an sie, Margaret, gewandt, weil sie vor 15 Jahren eine innige Liebe verbunden hätten.

In malerischen und poetischen Sentenzen wird das hübsche Haus, die Farbenpracht überall und das weite Land beschrieben. Jenny ist die Cousine von Chris. Die beiden Frauen sind sehr beunruhigt, als Chris endlich zu Hause ankommt. Er ist in der Tat verworren; er erkennt seine Frau nicht, wohl aber seine Cousine Jenny. 15 Jahre seines Lebens scheinen wie ausgelöscht. Er sehnt sich nur nach seiner Liebe von einst!

Die Geschichte ergeht sich in merkwürdigen Windungen. Immer wieder wird die malerische Natur mit den wechselnden Lichtreflexen der Jahreszeiten heraufbeschworen und das sehr hübsche Anwesen, das von den zwei wartenden Frauen fein herausgeputzt worden ist. Es scheint wie eine heile Welt in einer doch in Wahrheit kaputten.

Der Kern der Geschichte dreht sich darum, wie ein Mensch in eine partielle Amnesie verfallen kann, um die Schrecken des Ersten Weltkriegs mit seinen grausamen Grabenkriegen in Frankreich zu vergessen. Chris’ Frau und Jenny starten vielerlei Versuche, ihren Mann und Cousin mit Hilfe verschiedener Ärzte aus seinem Kriegstrauma zu holen. Schließlich holt Jenny die frühe Liebe von Chris, eben jene Margaret, zum Haus der Baldrys. Nach 15 Jahren ist sie eine verbrauchte Frau, doch Chris sieht in ihr nur die Geliebte jener Jahre, als er zwanzig war.

Rebecca West wählt eine subtile und ästhetische Sprache, mit der sie den Leser bestrickt. In zarten Tönen widmet sie ich den Gefühlen der verschiedenen Protagonisten und erstellt das Bild einer fernen Welt. Die heile Welt des englischen Landadels steht der armseligen und bedürftigen Welt der Arbeiterklasse gegenüber.

Leicht mysteriös steuert der Roman auf ein Ende zu, das tiefenpsychologische Kenntnisse erkennen lässt. Diese verbinden den Roman hoch aktuell mit einer Gegenwart, in der Kriege in zahlreichen Ländern die Bewohner in die Flucht treiben, vielerlei Traumata für die betroffenen Menschen mit sich bringen und sie zur Heimatlosigkeit verdammen.

Das dünne Bändchen von knapp 157 Seiten liest sich vermeintlich schnell ist aber doch so gehaltvoll, dass man sich Zeit dafür nehmen sollte. Es ist ein anspruchsvolles literarisches kleines Werk.

Der Roman von Rebecca West ist in England 1918 zum ersten Mal erschienen.
Sie gilt als einzige weibliche Autorin, die über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat.

Rebecca West
Die Rückkehr
160 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Mai 2016
ISBN-10: 3423280808
ISBN-13: 978-3423280808
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Natalia Wörner: Heimat-Lust

Natalia Wörner: Heimat-Lust

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Die bekannte Schauspielerin Natalia Wörner hat ein Buch geschrieben in Anlehnung an ihre Reflexionen über das, was „Heimat“ uns sein kann oder auch nicht sein kann.

Herausgekommen ist ein durchaus lesenswertes Buch. Detailreich und flott in der Sprache berichtet sie über die verschiedenen Geschichtsphasen ihres Heimatortes Stuttgart Cannstatt, wo sie die meiste Zeit ihrer Kindheit verbracht hat. Sie erzählt über Mutter, Großmutter und Vater. Ihre Jugend hat sie schon frühzeitig als Rebellin in verschiedenen Schulen und Orten, immer jedoch noch in der Nähe von Stuttgart, verbracht. Sie ist ein neugieriges Kind, tatkräftig, durchsetzungsfähig und geliebt von Vater und Mutter, die sich früh schon getrennt hatten.

„Zupacken“: dieses für sie charakteristische Verhalten zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Aufzeichnungen. Sie hat jede Gelegenheit beim Schopf gepackt, um weiter- und hochzukommen. Dabei ist es wohl weniger der Ehrgeiz als die Neugierde, die sie antreibt. Sie will unentwegt Neues erproben, Erfahrungen ansammeln und vorwärtsstreben. Da nimmt es nicht Wunder, wie viele Menschen mit bekannten Namen sich in ihren Erinnerungen wiederfinden. Von fast beneidenswerter Unabhängigkeit beseelt schreitet sie durchs Leben.

Stark, fleißig und munter scheint sie alle Hürden zu meistern, denn sie weiß aus jeder Erfahrung das Positive herauszuziehen. Es hat den Anschein, dass sie mit ihrem charismatischen Auftreten leicht die Herzen der Menschen gewinnt. Neben ihr zu bestehen, mag nicht immer ganz einfach sein!

Wenngleich ihre Aufzeichnungen von kluger Nachdenklichkeit zeugen, ist sie mit Sicherheit keine Grüblerin. Man fragt sich, ob sie Tiefen und Kummer kennt, denn davon spricht sie nicht. Ausgenommen sind davon ihre Erlebnisse bei dem schweren Tsunami in Thailand 2004, den sie hautnah miterlebt hat. Auch daraus aber ergab sich für sie flugs ein neues Engagement in der Gründung von Kinderhilfswerken.

Ihre inneren Verfassungen sollten vermutlich hier nicht Thema sein, denn ihr geht es wohl eher um die Verortung des Menschen an Orten und mit Menschen, die sie liebt und die sie lieben. Da sie von den geschichtlichen Veränderungen ebenso beredt zu berichten weiß wie von den Orten, an denen sie Station gemacht hat in ihrem Leben und von den Menschen, die ihr begegnet sind, bleibt die Lektüre immer unterhaltsam und wird nie langweilig.

Ihre Schilderungen bieten Gelegenheit, sie in ihrer Selbstwahrnehmung kennenzulernen.

Sie erscheint dem Leser wie ein Glückskind, und das wünscht man ihr auch weiterhin.

Natalia Wörner
Heimat-Lust
256 Seiten, gebunden
Riemann Verlag, Juni 2015
ISBN-10: 3570501876
ISBN-13: 978-3570501870
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Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe

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Verstrahltes Dorf – und was nun?

Tschernobyl ist der Ort des Schreckens, an dem diese Erzählung ihren Platz hat. Das Atomkraftwerk in Tschernobyl war 1986 außer Kontrolle geraten, und die ganze Gegend, Fauna und Flora mit allen Lebenden war von der Verstrahlung durch Radioaktivität betroffen.

Jeder weiß, wie dramatisch die Gefahr für die Menschen dort und auch in weiter Ferne noch war, durch radioaktive Strahlen vergiftet zu werden. Baba Dunja ist nach einiger Zeit in das Dorf, das ihr Heimat bedeutet, zurückgekehrt. Ihre Kinder sind erwachsen und weit fort. Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig, wenn ihre Tochter auch nicht einverstanden ist, dass sie sich in diese Gefahrenzone begibt.

In knappen Worten und mit einem naiven Blick erzählt Alina Bronsky vom Leben in dem fast toten Dorf. Man bekommt einen lebhaften Eindruck davon, wie es sich ohne eine geordnete Verwaltung und damit einem gesicherten Leben dort wohnen lässt. Elektrizität, Wasser und Nahrungsmittel gibt es nur begrenzt. Die Heizung im Winter bleibt kalt.

Für größere Einkäufe, die Post und Rentenbescheide muss man sich in die nächste größere Stadt begeben. Es gibt aber durchaus noch Mitbewohner, die nach Tschernobyl zurückgekehrt sind. Dunja ist nicht alleine. Fast alle sind schon sehr alt! Die ungewöhnliche Alterspopulation macht das kleine Werk so einnehmend. Wo erfährt man schon, wie alte Menschen lieben, leben und hassen?

Die zarten Bande, die wenige Einwohner gelegentlich für einander empfinden, sind von einer besonderen Herzlichkeit. Ohne Humor und Witz läuft fast gar nichts!

In der Geschichte passiert nicht viel. Doch nimmt man die Stille wahr, die über allem liegt.

Alina Bronsky erzählt ruhig und mit trockenem Humor, wie es sich so weit entfernt von jeder uns vorstellbaren Zivilisation leben lässt. Allerdings ereignen sich auch sonderbare Dinge, die auf die russische Seele und die barbarischen Verhältnisse in Russlands Rechtssystem schließen lassen.

Man hält an Traditionen fest, ist sich zugetan oder mag sich nicht. Erzählt wird über russische Lebensart, über die Menschen in dem großen Land und den stoischen Gleichmut, mit der jeder/jede ihr Schicksal hinnimmt, so wie es gerade kommt.

Alina Bronsky
Baba Dunjas letzte Liebe
160 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, August 2015
ISBN-10: 3462048023
ISBN-13: 978-3462048025
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Colm Toibin: Brooklyn

Colm Toibin: Brooklyn

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In Irland herrschte in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Armut und Not. Viele Iren zog es daher nach Amerika, um dort ihr Glück zu versuchen. Rose Lacey wünscht ihrer Schwester ein besseres Leben und sorgt dafür, dass diese mit etwa zwanzig Jahren aus Irland nach Amerika auswandert.

Nach einer abenteuerlichen Überfahrt landet Eilis in New York, wo ihr der irische Priester Father Flood bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft behilflich ist. Sie findet eine Anstellung als Verkäuferin in einem Kaufhaus und landet in der Pension von Mrs. Kehoe. Dort leben schon einige Mädchen unter deren strengem Reglement. Das Leben für Eilis ist einfach, kärglich und bedürfnislos. Sie muss sich schwer anstrengen, um immer pünktlich, fleißig und gewissenhaft allen an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden.

In der ersten Zeit plagt sie das Heimweh, und die Sehnsucht nach ihrer Familie ist groß. Doch Eilis ist ehrgeizig und strebsam, und so gelingt ihr eines Tages der Zugang zu einem Fortbildungslehrgang für Buchführung und Handelsrecht. Ihre Prüfungen besteht sie glänzend.

Sehr allmählich fasst sie Fuß in der für sie so fremden Welt und lernt einen rührend anhänglichen und liebevollen Freund kennen.

Colm Tóibín findet den richtigen Ton und trifft den Stil, um zu vermitteln, wie es mit dem Leben in der Fremde denn so aussieht. Nicht besonders fröhlich scheint es da zuzugehen. Doch fleißig und anständig gelingt Eilis die Eingewöhnung in die für sie so fremde Welt. Die Epoche der Einwanderungen in Amerika birgt Gefahren und Hürden, die es zu nehmen gilt. Man spürt die Sehnsucht nach Heimat und die Anstrengung, sich neuen Lebensregeln zu stellen und sich einen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten. In Gestalt von Eilis wird die Diskrepanz zwischen alter und neuer Welt durchaus verstehbar. Liebevoll ausgestaltete Szenen belegen die tastenden Versuche, ein eigenes Leben zu beginnen und die Fäden zur alten Welt nicht ganz zu verlieren. Fremdheit, Distanz und Nähe, Anstand und Fleiß bieten die Grundlage, auf der sich der Wechsel von der alten zur neuen Welt gestaltet. Das bleibt nicht ohne Schmerzen, Verluste und Enttäuschungen. Eilis zeigt uns den inneren Kampf, mit dem sie sich aus der fernen Provinz in den Schmelztiegel unterschiedlicher Nationalitäten in Brooklyn begibt.

Sie meistert ihr Geschick, indem sie trotz diverser Anfechtungen ihren Weg geht.

Einfühlsam und tiefenscharf bietet uns Colm Tóibín in seiner Erzählung einen Eindruck von den Gefahren für Leib und Seele und von den Anstrengungen beim Wechsel zwischen verschiedenen Identitäten. Brooklyn ist ein Hexenkessel mit unterschiedlichsten Bevölkerungsanteilen und den entsprechenden Landessprachen. Hier trifft sich Freund und Feind und es gilt, die richtigen Partner fürs Leben zu finden. Diese Atmosphäre fängt Colm Tóibín hervorragend ein.

Der Leser folgt gebannt der Erzählung, die zu Herzen geht. Mut, Zuversicht und ein starker Charakter sind die Voraussetzungen, unter denen sich das Schicksal von Eilis entwickelt. An ihrem Schicksal nimmt man bis zum guten Schluss lebhaft Anteil.

Giovanni und Ditte Bandini krönen die Erzählung mit ihrer gelungenen Übersetzung.

Colm Toibin
Brooklyn
304 Seiten, broschiert
Deutscher Taschenbuch Verlag, Dezember 2012
ISBN-10: 3423141727
ISBN-13: 978-3423141727
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Tom Lier: Sommerhit

Tom Lier: Sommerhit

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Glück und Freude nach Kummer und Leid!

Dieser wunderbare, anrührende und zutiefst ans Herz gehende Roman schildert das Leben und die Erfahrungen eines Jungen von 14 Jahren. Falk Lutter gerät aus für ihn nicht ersichtlichen Gründen als Ostler in den achtziger Jahren in den Westen. Die Flucht hat die Familie zerrissen, denn Schwester und Vater fielen der Bürokratie und den Schergen des DDR Systems zum Opfer. Besonders Schwester Sonja hat die Flucht der Familie hart getroffen und ihr quälende Lebensumstände aufgezwungen.

Falk aber schlägt sich als dicker Junge mit den bösartigen Cliquenbrüdern seiner Klasse herum. Seine Mutter arbeitet hart und hat kaum Zeit, sich um die Lebensumstände ihres nunmehr einzigen Familienmitglieds zu kümmern. Aus der Sicht eines 14 jährigen sieht das Leben noch einmal ganz anders aus als aus den Augen der Erwachsenen.

Doch nach langen Zeiten der Ernüchterung und des Schattendaseins als verachteter Ostler gelingt Falk ein phänomenaler Aufstieg zu einem bekannten und anerkannten Poppsänger. Die Stunde der Rache naht, als sich die Klasse nach 30 Jahren zu einem Klassentreffen vereint. Hier kann Falk Lutter als nunmehr gewandelter und erfolgreicher Musiker die Zähne zeigen und aufdecken, was aus den Angebern, Quälgeistern und sadistischen Träumern geworden ist.

Als modernes Märchen kommt die Geschichte daher. Das Gute siegt, die zerrissene Familie ist wieder vereint und der gute Sänger Falk Lutter alias Martin Gold erlebt eine zufriedene Zeit.

Heimatgefühle, Liebe und ein wenig Glückseligkeit besiegen die Machos und Kriecher in diesem Roman, und es stimmt froh, dass das Gute letztlich über das Böse siegt.

Kein bisschen kitschig sondern lebensnah und freundlich zeigt uns dieser Autor, wie wenig es zum Glück bedarf; man muss es nur suchen und finden!

Tom Lier
Sommerhit
Kindle Edition
Print-Ausgabe: 400 Seiten
Aufbau Digital, Juli 2011
ISBN-10: 3352008140
ISBN-13: 978-3352008146
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Lena Gorelik: Lieber Mischa

Lena Gorelik: Lieber Mischa

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Jüdisches Leben und die ach so feine deutsche Freundlichkeit zu ihren jüdischen Mitbürgern!

In einem langen Monolog erzählt Lena Gorelik ihrem kleinen Sohn, was es mit dem Judentum auf sich hat.
Sie, die sich in ihren vorherigen Romanen vielfach mit dem Leben als Jüdin und mit Identitätsfragen beschäftigt hat, kann es auch jetzt nicht lassen! Wer Romane von Lena Gorelik kennt, weiß, dass sie mit Heiterkeit, Humor und Lachen ihr Leben und das ihrer jüdischen Mitbürger zu zeichnen versteht.

Verwandte mit ihren Eigenarten kommen zur Sprache, Mütter und Kinder und L. Gorelik erzählt von ihrem Leben in der Sowjetunion. Sie beschreibt jüdische Feste und setzt sie in Verbindung zu den Traditionen der jüdischen Geschichte.

Mit feiner Selbstironie nimmt sie das Judentum auf die Schippe und bleibt zugleich bei ihren jüdischen Wurzeln, die sie als Kind mit elf Jahren vermittelt bekam. So sagt sie ihrem gerade erst geborenen Sohn: „Lieber Mischa, der Du fast Schlomo Adolf Grinblum geheißen hättest, es tut mir so leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude….“
Wenngleich ihre Kritik am Judentum in feine Ironie getaucht ist, spürt man doch einen nicht geringen Stolz, zu dem „auserwählten“ Volk zu gehören. Witzig, geistreich, amüsant, sprudelnd vor Fantasie und niemals bösartig, liebenswert bis spöttisch sind ihre Schilderungen über das jüdische Leben, dem sie eine gewisse Lebensfreude zuspricht. Mit Intelligenz und Scharfsinn findet sie die Schwachstellen in der Gesellschaft der Nichtjuden und gibt dabei heitere Begebenheiten zum Besten. Umwerfend äußert sie sich über Philosemiten und Konvertiten, und so manch’ einer wird sich wie in einem Spiegel hier wieder erkennen können.

Man liest den Brief an ihren Sohn Mischa mit der gleichen Freude wie ihre früheren Romane und freut sich über den Humor, den gelegentlichen Ernst und die Weisheit, die aus ihren Worten spricht. Mit ihnen preist sie ihre jüdische Lebensart, und insgeheim kämpft sie für eine gerechte Sache: den Juden zu lassen, was zu ihnen gehört und das Leben der anderen bitte nicht mit dem jüdischen Leben zu vermengen.

Lena Gorelik gehört zu den so genannten „Kontingentjuden“, denen die Ausreise aus Russland nach Deutschland ermöglich wurde. Heute lebt sie mit Mann, Kind und Hund in München.

Lena Gorelik
Lieber Mischa
192 Seiten, gebunden
Graf Verlag, März 2011
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3862200124
ISBN-13: 978-3862200122
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