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Schlagwort: Grausamkeit

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

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Adeline Dieudonné hat eine düstere Familiengeschichte ersonnen.
Oder ist sie nicht erfunden und enthält gar ein Stückchen Wahrheit?
Auf jeden Fall geht es darum, wie man in der Umgebung äußerst grausamen Umgangsformen ein Eigenleben behält und überlebt.

An einer Stadtrandsiedlung nahe an einem Wald wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit Bruder, Mutter und Vater. Es ist das beste Haus einer ansonsten unscheinbaren Reihenhaussiedlung, doch innen wohnt das Grauen.

Aus den Augen des Mädchens als Icherzählerin schält sich das Bild einer vollkommen desolaten Eltern- und Ehebeziehung heraus. Der Vater, ein passionierter Jäger und Alkoholiker, führt ein eisernes und herrisches Regime über seine Frau und die beiden Kinder.
Das 10 jährige Mädchen tröstet sich mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder über die schlimmsten Stunden hinweg. Noch! Denn die Jahre vergehen und Gilles, der kleine Bruder, eifert nach einem schrecklichen Erlebnis dem Vater nach und wird ein böser Tierquäler. Die Mutter ist ein desolates, gequältes Etwas. Sie wird von der Tochter als „Amöbe“ bezeichnet.

So beginnt eine Geschichte, die in ihren Einzelheiten Grausamkeiten birgt, von denen man sich als normaler Sterblicher keine Vorstellung machen kann. Bei jeder Abweichung von den Vorgaben des Vaters oder einfach aus schlechter Laune heraus wird geprügelt und gebrüllt. Da kann als Grund schon ein nicht genehmes Essen herhalten. Von körperlicher bis zu seelischer Gewalt scheint nichts unmöglich.

Der Vater ist körperlich stark und steckt voller Wut, die regelmäßig ihre Abfuhr sucht. Das Opfer ist zumeist die Mutter. Sie ist klein, unscheinbar und wirkt hilflos den Brutalitäten des Vaters ausgeliefert. Das Abendbrot, zu dem alle am Tisch sitzen, weil es sich so „gehört“, wird schweigend und in Angst eingenommen. Man ahnt den kommenden Wutausbruch des Vaters, vor dem sich die Kinder schnell in ihre Zimmer flüchten.

Man erfährt nichts über die Ursachen dieser unglücklichen Menschen.

Die Icherzählerin schafft es erstaunlicherweise, ein inneres und äußeres Eigenleben tief verborgen hinter einem dichten Schleier versteckt zu führen. Bis auch sie vom Vater zum Freiwild und Opfer gemacht wird.

Diese Geschichte reißt mit und nimmt mit!

Wie man dem Ende aller Ereignisse entgegenfiebert, das wird gekonnt und hoch kompetent von der Autorin angepeilt. Zuvor sieht man sich einer Vielzahl von grausamen Ereignissen konfrontiert.
Das reicht von Verfolgung über Schläge bis zu Psychoterror, und das Blut fließt in Strömen.

Natürlich gibt es auch einige gute Menschen z.B. einen Physikprofessor, der sich des hoch begabten Mädchens annimmt und sie in seine Wissenschaft einführt. Auch er und seine Frau aber haben ein schreckliches Schicksal hinter sich.

Sind es vielleicht zu viele der grausamen Ereignisse?
Ich denke, die Autorin überzieht absichtlich, um auf Misstände in Familie und Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Adeline Dieudonné schreibt einen brillianten Stil und zeigt empörende Ereignisse, die an Hitchcock, Astrid Lindgen und Stephen King denken lassen.
Sie steigert mit ihren scharf beschriebenen Beobachtungen die Spannung bis zur Unerträglichkeit. Es stockt einem zuweilen fast der Atem.

Der Debütroman wird schließlich zum Fanal des Aufstands gegen Unterdrückung und Gewalt. Es bleibt kein Auge trocken, während uns die Macht und körperliche Überlegenheit des Mannes der Schwäche der Frauen gegenübergestellt wird. Der Freiheitsgedanke zur Überwindung der Unterdrückung nimmt Gestalt an, als die Tochter sich in adäquater Weise zu wehren beginnt.
Am Ende bleibt: Stille.

Der Roman ist etwas für starke Nerven und überaus spannend.
In Frankreich ist er begeistert aufgenommen worden.

Adeline Dieudonné
Das wirkliche Leben
240 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, April 2020
ISBN-10: 3423282134
ISBN-13: 978-3423282130
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Leila Slimani: Dann schlaf auch du

Leila Slimani: Dann schlaf auch du

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Ein grausiges Psychogeschehen eröffnet sich dem Leser mit diesem Roman.

In der Wohnung in einem ruhigen Pariser Vorort werden ein totes Baby und ein sterbendes kleines Mädchen gefunden. Die Mutter der beiden Kinder kommt fröhlich und nichts ahnend nach Hause. Beim Anblick ihrer Kinder bricht sie schreiend zusammen.

Eine dritte Person, offensichtlich Kindermädchen und Täterin zugleich, hat versucht, sich zu töten. Letzteres ist ihr nicht gelungen.

Mit einem grausamen Auftakt beginnt Leila Slimani die Geschichte einer unglaublichen Persönlichkeitsentwicklung.

Im Mittelpunkt der Handlung steht das Kindermädchen Louise.

Myriam und Paul, ein bis dahin glückliches Paar, haben nach der Geburt ihrer zwei Kinder eine Kinderfrau gesucht, die nach allem, was sie über Louise hörten und sahen, perfekt war. Sie haben sich alle Mühe gegeben, die Beste unter vielen anderen auszuwählen.

Nach anfänglicher Begeisterung gleitet man in Betrachtung dieser Person in eine unglaubliche Geschichte hinein.

Leila Slimani entwickelt das Psychogramm einer abstrusen und sehr ungewöhnlichen Persönlichkeit in Gestalt von Louise.

Die langsame Veränderung, in der Louise zuerst die Kinder und später auch die Eltern einwickelt und sich allen gegenüber nach und nach unentbehrlich macht, zeugt von psychopathischer Struktur mit einleuchtendem Muster.

Angefangen von kleinen Auffälligkeiten zeigt Louise sehr bald paranoide, ängstliche und von übertriebener Fürsorge gekennzeichnete Merkmale ihrer Persönlichkeit. Man spürt, dass mit Louise etwas nicht stimmt, kann es aber nicht benennen.

Die Eltern sind zunächst noch begeistert von der Fürsorge und Sorgfalt, mit der Louise den Haushalt führt, die Kinder versorgt und selbst den Eltern stets zu Diensten ist. Langsam aber entgleist die Fürsorge und führt zu einer penetranten Intimität und Eigenmächtigkeit mit zwanghaften Zügen in der Persönlichkeit der Hauptfigur.

Leila Slimani weiß die richtigen Akzente zu setzen und den Spannungsbogen trefflich zu steigern. Die Szenen werden nach und nach düster und bedrohlich. Man möchte mit dieser Art Mensch eigentlich nichts zu tun haben und mag doch nicht aufhören, sich dem grausigen Geschehen in der Rückschau zu nähern.

Insgesamt ist dieser Psychothriller die ganze Zeit überschattet von der alles beherrschenden offensichtlichen seelischen Not einer Frau, die durch unglückliche Herkunft und Verluste mit dem Leben kaum noch fertig wird. Sie saugt sich fest, um aus dem Leben anderer ihre emotionalen Spannungen zu bewältigen. Als sie damit scheitert, wird sie zur Mörderin.

Bemerkenswert ist die Form des Romans, in dem der Schluss vorweggenommen wird, um das Augenmerk ganz auf die psycho- pathologische Seite der Hauptprotagonistin zu fokussieren.

Leila Slimani stand mit diesem Buch lange auf Platz 1 der französischen Bestsellerlisten und erhielt dafür den Prix Concourt.

Leila Slimani
Dann schlaf auch du
224 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, August 2017
ISBN-10: 3630875548
ISBN-13: 978-3630875545
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Carolina De Robertis: Perla

Carolina De Robertis: Perla

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Argentiniens Militärdiktatur und die Folgen.

Zu Beginn des Jahres 2001 lebt in Buenos Aires in Argentinien ein junges Mädchen namens Perla. Sie ist eine verwöhnte Tochter aus gutem Hause. Eine dunkle Wolke scheint jedoch das friedfertige Leben mit ihren Eltern zu überschatten. Der Vater ist Marineoffizier. Er ist liebevoll aber unnahbar. Die Mutter ist von betörender Schönheit und leicht exzentrisch.

Inzwischen ist Perla Studentin, und ihre Eltern sind vereist. Eines nachts erscheint in ihrem Wohnzimmer eine unheimliche Figur. Nackt, schwach, durchnässt und nach Brackwasser stinkend liegt ein Mann auf dem Wohnzimmerteppich.
Man weiß nicht: ist hier Fantasie oder Wirklichkeit am Werk?

Rückblickend erleben wir Perla noch einmal in der Schule zusammen mit ihrer liebsten Freundin Romina, die sich eines Tages unerklärlicherweise von ihr abgewandt hat.

Viel ist in ihren Gesprächen mit Freunden und Freundinnen von den „Verschwundenen“ die Rede. Die Zeit der Militärdiktatur von 1976 -1983 hat Spätfolgen hinterlassen, die noch nicht vergessen sind. Tausende von Männern, Brüdern, Frauen und Söhnen wurden damals als Regimegegner abgeholt und tauchten nie wieder auf. Man erfuhr auch nie, wohin sie gekommen waren. Die Mehrzahl wurde auf grausame Art und Weise ermordet.

In diesem Buch verschwimmen die Zeiten vom Vorgestern zum Heute. Perla erkennt erst langsam, in welcher Weise die Militärdiktatur Menschen, ob schuldig oder unschuldig, verfolgt, entführt und aus deren Leben gerissen hat. Frauen gehen nach dem Ende der Diktatur jahrelang mit weißen Kopftüchern demonstrieren, um auf die unhaltbare Vergangenheit aufmerksam zu machen und nach ihren verschwundenen Brüdern, Männern, Schwestern, Müttern und Vätern zu suchen.

In langen Passagen erfährt Perla, welche Bedeutung der nasse Mensch in ihrem Wohnzimmer für ihr Leben bedeutet.

In ihrem Roman verarbeitet Carolina De Robertis die tragischen Umstände, die in Argentinien s. Zt. die ganze Gesellschaft in ein Chaos gestürzt hatte. Waisenkinder aus der Hinterlassenschaft der „Verschwundenen“ wurden häufig von korrupten Militärs und anderen als eigene Kinder angenommen.

Die Geschichte ist dramatisch. In ihr verlieren sich Liebende und andere finden sich wieder.

Die Last und die Bürde ist für manche zu schwer. Auch Perla muss erkennen, dass sie ein falsches Leben geführt hat.

In poetischen und zuweilen visionären und apokalyptischen Bildern beschwört De Robertis die Vergangenheit herauf. Mit ihrem Erzählstil vergegenwärtigt sie das Phänomen einer Grausamkeit, die dramatischer nicht sein könnte.

Perla
Carolina De Robertis
336 Seiten, broschiert
FISCHER Taschenbuch, Juni 2014
ISBN-10: 3596194466
ISBN-13: 978-3596194469
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Édouard Louis: Das Ende von Eddy

Édouard Louis: Das Ende von Eddy

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Geboren im Elend und auferstanden…

Mit ungeheurer Sprachgewalt zieht uns dieser Roman von Édouard Louis in seinen Bann. Hier spricht einer aus Erfahrung vom Abgrund des Daseins.

Hoch im Norden Frankreichs befindet sich ein Dorf in der Picardie, in dem die Handlung angesiedelt ist. Die Männer arbeiten in der Fabrik, und die Frauen haben sich um die zahlreichen Kinder zu kümmern und müssen das Überleben der Familie sichern. Ein „Fehler“ in ihrer Entscheidung kann das ganze Budget über Bord werfen. Die Mutter erkannte nicht, … “das, was sie ihren Fehler nannte, ganz im Gegenteil durch ein Regelwerk vollkommen absehbarer Mechanismen bedingt war, geradezu ausweglos von vornherein festgelegt.“ (S.64)

Als kleiner, schmächtiger Junge wird Eddy schon von seinem Vater als Enttäuschung erlebt. Er ist kein „ganzer Kerl“ im Sinne der Gemeinschaft. Da muss man stark und durchsetzungsfähig sein. Von Jungen in seiner Schule wird er gehänselt und malträtiert. Seine feminine Seite fordert zu Quälereien heraus, die unmenschlich erscheinen. Sein Schwulsein macht ihm schwer zu schaffen, und der von ihm beschriebene Kampf gegen das Anderssein ist erschütternd. Grausamkeit ist Bestandteil in einer Gesellschaft, die beständig am Abgrund lebt. Hier herrschen raue Sitten in den Familien und in der Dorfgemeinschaft.

Kälte, Hunger, Alkohol und dürftigste Lebensbedingungen haben zu einer Verrohung der Umgangsformen beigetragen. Wut, Angst, Hass und Gewalttätigkeit prägen das Leben. Da ist der kleine, zarte Eddy Opfer nicht nur seiner Mitschüler, sondern gleich der ganzen Dorfgemeinschaft. Als Schwuchtel und Tussi wird er, der so gerne in Mädchenkleidern lebt und mit Puppen spielt, verhöhnt. Das ist ein schreckliches Leben. Archaische, patriarchale und gewalttätige Machtstrukturen machen das Leben und Überleben schwer.

Die Dürftigkeit der Behausungen und die Armut erinnern an die Romane von Émile Zola, der die Not der Fabrikarbeiter als Folge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in seinen Romanen heraufbeschworen hat.

Die Sprache ist rüde und ungepflegt. Eddy durchläuft alle Schikanen der Erniedrigung, bis er sich aus diesem Sumpf zu befreien lernt.

Dieser Roman ist von außerordentlicher Brisanz. Zeigt er doch das Elend der Menschen in den „Banlieue“, den Randgebieten um Frankreichs Großstädte herum und in den großen Industriezentren.

Die differenzierte Betrachtungsfähigkeit von Édouard Louis ist beachtlich und zieht einen absolut in Bann. Das Bild auf dem Klappentext zeigt einen empfindsamen und wachen jungen Mann. Er studiert inzwischen Soziologie in Paris. Sein altes „Ich“ hat er hinter sich gelassen. Sehr lesenswert!

Édouard Louis
Das Ende von Eddy
208 Seiten, gebunden
FISCHER, Februar 2015
ISBN-10: 3100022777
ISBN-13: 978-3100022776
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Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal?

Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal?

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Spurensuche und Identitätskrisen.

Als Kind einer zu jungen und armen Mutter auf die Welt zu kommen, ist häufig ein Unglück. Dieses Schicksal erleidet die Autorin Jeanette Winterson, die 1960 im Alter von fünf Monaten von Mr. und Mrs. Winterson adoptiert wurde. Die Familie lebt in Accrington nicht weit von Manchester entfernt. Aus den Erfahrungen ihres Lebens hat Jeanette Winterson einen höchst reflektierten, anregenden und klugen Bericht verfasst.

Mrs. Winterson ist eine frömmelnde, neurotische und in ihren Gefühlen schwer gestörte Frau. Überall wittert sie Boshaftigkeit, Ungehorsam und Sünde. In ihrem Umfeld argwöhnt sie darüber hinaus Unreinheit, Lüge und Betrug. Den Vater hält sie sich vom Leibe. Ohne Sex aber gibt es kein Kind! So muss ein angenommenes Kind ihren Fantasien und Bösartigkeiten standhalten.

Jeanette Winterson zeichnet das Bild einer kargen und entbehrungsreichen Kindheit und Jugend. Harte Strafen und    ausgesperrt werden gehören zu ihrem kindlichen Alltag. Aus ihren Worten spürt man die Rebellion und aufsässige  Verfassung, mit der sie sich durchs ihr Leben schlägt. Mit 16 Jahren verlässt sie dieses ungeheuerliche Elternhaus und führt fortan das Leben einer vagabundierenden, eigensinnigen und selbstbestimmten Frau.

Ohne psychische Verbiegungen bleibt eine solche Kindheit nicht!

Intelligent und zielstrebig schafft J.W. dennoch den Sprung an die Universität Oxford und wird später zu einer angesehenen Schriftstellerin.

Den Beweis dafür liefert ihr Titel „Warum glücklich statt einfach nur normal“? Das sind die Worte der Mutter, die voller Hass auf die Tatsache reagiert hat, dass ihre Adoptivtochter Frauen liebt.

Jeanette Winterson zieht die Bilanz ihres Lebens, die von Zweifeln, Selbstfindungs- und Identitätssuche gekennzeichnet ist.

Differenziert und selbstkritisch beschreibt sie ihre Suche nach dem rechten Weg ins Leben. Ihre Adoptivmutter zeigt sich als grausame und selbstgerechte moralische Instanz. Mit Tiefenschärfe und klugen Blick reflektiert die Autorin ihr Geschick, das nur mit unerschütterlicher Stärke zu meistern ist.

Die klaren Worte und der stechend scharfe Blick der Autorin bringen einem ihr Schicksal ganz nahe. In einem furiösen Finale begibt sie sich auf Spurensuche nach ihrer wahren Herkunft. Es trägt sie in Gefühlswelten, die schwer zu verkraften sind.

Die Geschichte ist ein Leerstück aus der schwarzen Pädagogik, an der schon ganz andere Menschen zerbrochen sind. Nicht ganz von ungefähr denkt man an Charles Dickens bei der Lektüre.

Der herausragende Lebensrückblick bietet mannigfache Gelegenheit, sich der eigenen Zielsetzungen oder Versagungen zu erinnern.

Sehr lesenswert!

Jeanette Winterson
Warum glücklich statt einfach nur normal?
256 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, 2. Auflage, Januar 2013
ISBN-10: 3446241493
ISBN-13: 978-3446241497
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Kevin Powers: Die Sonne war der ganze Himmel

Kevin Powers: Die Sonne war der ganze Himmel

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Nie wieder Krieg!

Kevin Powers hat das ungewöhnliche Zeugnis einer Kriegsteilnahme mit allen Schrecken und Schmerzen in seinem Debütroman zum Thema genommen. Er ist in Gestalt des Icherzählers der Protagonist, der den Irakkrieg mit gemacht hat.

Zwischen den Jahren 2003, 2004, 2005 und 2009 beschreibt er seine Erlebnisse als Teilnehmer des kruden und grausamen Krieges im Irak. Fast kein Soldat wusste so richtig, was ihn beim Aufbruch in den Irak erwarten würde.

John Bartle und sein 18-jähriger Truppenkamerad Daniel Murphy ziehen mit Ängsten aber auch Erwartung in diesen Krieg, der sich ihnen bald schon als barbarisch, heimtückisch und sinnlos erweist.

Die beiden haben sich wie vielleicht viele andere freiwillig aus jugendlichem Überdruss und einer Laune heraus zur Army gemeldet. Diese Jungs sind fast noch Kinder, als sie sich zum Töten bereit fanden. Im nun anstehenden Kampf sehen sie erst, dass es ums Überleben geht und sonst nichts. Sie sehen die Leichen und erfahren eine bestialische Zerstörung an Körper und Seele und müssen sich in alles schicken.

Die Hitze, die Unwägbarkeiten und Überfälle in der Stadt Al Tafar sind schrecklich und werden nur ertragen, indem man sich hart gegen die Toten macht. John hat leichtsinnigerweise der Mutter von Murph versprochen, ihn heil wieder nach Hause zu bringen. Solche Versprechungen waren nicht haltbar, doch John konnte sich den Bitten von Murphys Mutter nicht entziehen. Dass alles ganz anders kommt als erwartet, zeigt erst den ganzen Wahnsinn des Krieges.

In einer Mischung aus Neugierde, Angst, Wut und dem Strudel der Kriegsereignisse zeigt John Bartle emotionsgeladen das Entsetzen im Angesicht von Zerstörung und Kampf.

Kevin Powers ist sprachmächtig und gewandt. Mit seinem feinsinnigen und urteilssicheren Wortschatz schildert er Heimweh, die Natur in seiner Heimatstadt Richmond/Virginia oder Sonnenaufgänge und stille Augenblicke im Irak.

In Gestalt von John Bartle hat er wahrhaftig die Gabe, Emotionen der verschiedensten Schattierungen in differenzierter Weise auszudrücken. So ist er einmal nachdenklich, dann wieder aufgewühlt, melancholisch und anrührend in seinen Gefühlen dem jungen Murph und anderen Kameraden gegenüber. Die Wucht, mit der er die Grausamkeiten und die Heimtücke dieses Krieges aufzeigt, ist faszinierend. Da das Buch kein Heldenepos ist, sondern eine reine und wahrhaftige Bekanntgabe der eigenen Befindlichkeit im Zustand der Verzweiflung und Zerstörung, liest man gebannt und ergriffen, zu welchen Gefühlen dieser junge Autor fähig ist.

Man kann seinen Debütroman nur empfehlen. Henning Ahrens hat ihn treffend und sensibel übersetzt.

Kevin Powers
Die Sonne war der ganze Himmel
240 Seiten, gebunden
S. FISCHER, März 2013
ISBN-10: 3100590295
ISBN-13: 978-3100590299
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Didier Decoin: Der Tod der Kitty Genovese

Didier Decoin: Der Tod der Kitty Genovese

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Gewalttat und Untätigkeit: Psychogramm eines Verbrechens!

Als Kitty Genovese 1964 an den Messerstichen und Vergewaltigungen durch Winston Mosely starb, sahen mehr als 38 Zeugen ihre Not oder hörten ihre Hilferufe. Keiner alarmierte die Polizei oder einen Rettungswagen!

In meisterhafter Erzählkunst berichtet Didier Decoin von einem Verbrechen, das einer wahren Begebenheit nachempfunden ist.

Hier geht es nicht um die Suche nach einem Mörder oder in erster Linie um die Grausamkeit seiner Verbrechen, denn Kitty war nicht sein einziges Opfer. Es geht um die psychologischen Finessen, mit denen Decoin die Zeugen in den Focus der Tat rückt.

Wie verlaufen Verbrechen, wenn eine schweigende Mehrheit sich tatenlos innerlich abwendet und auf diese Weise erst einen Überfall ermöglicht, der an Grausamkeit kaum zu überbieten ist? In dem Krimi von Didier Decoin wird die Perspektive  aus einer ungewohnten Richtung beleuchtet.

Das Opfer steht fest. Der Täter steht fest. Seine Verbrechen werden zwar genauestens mit allen Details aufgeführt. Doch was ist mit den Zeugen?

Ein Dichter und seine Frau werden als erstes befragt. Sie waren zur Tatzeit nicht im Haus und treten hier als Berichterstatter auf.

Die Zeugenbefragung durch die Polizei zeigt mit makaberer Deutlichkeit, wozu Menschen fähig sind.

Je mehr Zeugen es gibt, desto unwahrscheinlicher wird die Anzeige, da jeder innerlich dem anderen die Aktivität zur Hilfe überlässt. Mit diesem Roman beweist Decoin einmal mehr, dass wir nicht Herr unseres Handelns sind, wenn wir uns in den Fängen eines gruppendynamischen Prozesses befinden. Dabei schiebt einer dem anderen innerlich die Verantwortung zu, auch um sich selber vor den Schrecknissen des Verbrechens zu schützen.

In einem Nachtrag wird auf das anerkannte Milgram-Experiment verwiesen. Der berühmte Sozialpsychologe Stanley Milgram forderte Studenten zur grausamen Bestrafung fiktiver Übeltäter auf. Die meisten von ihnen kamen dem Befehl nach, wenn sie von einer von ihnen geachteten Autorität dazu aufgefordert wurden. Es zeigt einmal mehr, dass Verbrechen ohne Menschlichkeit im weitesten Sinne keine Seltenheit sind.

Mit fesselnden Worten und einem gut konstruierten Plot gelingt dem Autor ein faszinierendes Szenario. Man schaut in die Fratze vom Verlust menschlicher Werte und ist erschrocken über den Ausfall von Teilnahme und Hilfsbereitschaft.

Literarisch wunderbar aufbereitet erzählt Didier Decoin eine wahrhaft außergewöhnliche Kriminalgeschichte. Die Gliederung in Zeugenvernehmung, Gerichtsverhandlung und Tatgeschehen gibt der Handlung einen fast protokollarischen Charakter.

Der vielfach ausgezeichnete Autor lebt in Frankreich, und seine Übersetzerin Bettina Bach hat die Geschichte hervorragend ins Deutsche übertragen.

Didier Decoin
Der Tod der Kitty Genovese
240 Seiten, gebunden
Arche Verlag, Februar 2011
ISBN-10: 3716026603
ISBN-13: 978-3716026601
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Maria Àngels Anglada: Die Violine von Auschwitz

Maria Àngels Anglada: Die Violine von Auschwitz

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Wer diesen Ort des Grauens überlebt hat, der war begnadet.

„Und ich komme an einen Ort, wo alles Licht erloschen ist.“
Dante, Göttliche Komödie, Die Hölle
Mit diesen Worten im Vorspann befinden wir uns an einem Ort, an dem wirklich die Hölle beherbergt schien. Auschwitz 1941!

Hier krepierten und verendeten buchstäblich die Menschen, denen man im Holocaust jedes Recht auf Leben und alle Würde abgesprochen hatte. In Originaldokumenten aus dem KZ Auschwitz, verfasst und unterzeichnet von den jeweiligen Kommandanten des Lagers, kann man nachlesen, wie und in welcher Form man die Insassen quälen und schikanieren durfte, und auf welche Weise für welche Vergehen man sie liquidieren konnte.

Die Geschichte mit ihren äußeren Bedingungen, die jeden einigermaßen normalen und mit moralischen Grundsätzen vertrauten Menschen schaudern lassen, steht im auffälligen Kontrast zu dem musischen und sensiblen Hintergrund: wir haben es hier mit dem außergewöhnlichen jüdischen Geigenbauer Daniel zu tun. Er ist wie fast alle anderen polnischen Juden in die Mühlen des allgemeinen Untergangs geraten, als er als Geigenbauer im KZ durch Zufall in Erscheinung tritt. Die sadistischen Schergen des Unrechtregimes denken sich eine infame Böswilligkeit für den feinsinnigen aber gequälten KZ-Bewohner aus: bei einer Wette wird ausgemacht, dass er den Auftrag zum Bau einer Geige erhält. Gelingt das Unterfangen, geht eine Kiste Wein an den Lagerkommandanten. Verrichtet er die Aufgabe nicht zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber, wird er zu einem medizinischen Menschenversuch freigegeben.

Kann man sich eine grausamere menschliche Handlung auch nur ausdenken?

Eingebettet in die Musik Mozarts und in die Geschichte eines Konzerttrio, das lange nach dem Kriegsende auf Konzertreisen von dieser Geschichte hört, erlebt man noch einmal die unmäßigen Behandlungen der KZ Insassen, ihre erbärmlichen Unterkünfte, den Hunger, die Kälte und den tausendfachen Tod. Es macht einem das Herz gefrieren und lässt einen schaudern. Die wunderbare Sprache mit poetischer Kraft zeigt das herausragende Können der Autorin. Ihr feines Gespür für die Empfindungen der Menschen in aussichtloser Lage ist von anrührender Überzeugungskraft. Fassungslos steht man auch heute noch vor der Erbarmungslosigkeit, wie sie uns in diesem Buch vor Augen geführt wird. Und doch zeigt uns Maria Anglada mit ihrer Geschichte, dass außerhalb aller irdischen Erniedrigungen und Qualen die Musik eine Kraft enthält, die über allem anderen Tröstung und Zuversicht zu geben vermag.

Angerührt und ergriffen legt man das kleine Büchlein zur Seite. Die Autorin Maria Àngels Anglada und die Übersetzerin Theres Moser haben ein überragendes Meisterwerk geschaffen.

Romane wie diese bleiben für immer Mahnmale, die uns erinnern werden, was zu verhindern für alle Zukunft unsere Aufgabe bleiben wird.

Maria Àngels Anglada
Die Violine von Auschwitz
Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
ISBN-10: 363087326X
ISBN-13: 978-3630873268