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Schlagwort: Trauer

Julia Stagg: Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf

Julia Stagg: Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf

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Dieser Roman ist der unmittelbare Nachfolger des ein Jahr zuvor erschienenen Romans „Monsieur Papon oder ein Dorf steht Kopf“ Er beginnt etwa wenige Tage nach der Handlung des ersten Romans. Hautnah kann der Leser den Mikrokosmos in einem Bergdorf in Frankreich erleben. Während im ersten Roman die Einwohner des Dorfes Fogas durch den Zuzug eines englischen Ehepaares, die die Dorfschenke betreiben wollen, erschüttert, so werden die Einwohner in diesem zweiten Roman auf ein neues durcheinandergewirbelt.

Fabian, der Neffe von Josette, die die Inhaberin des kleinen Tante-Emma-Ladens ist, hat in Paris studiert und gearbeitet. Nun kehrt er nach Fogas zurück. Zurück deshalb, weil er als Kind jedes Jahr von seinen Eltern hier hergeschickt wurde, um die Sommerferien zu verbringen. Deshalb ist ihm das Dorfleben nicht unbekannt. Nach all dem Trubel in der Metropole Paris sehnt er sich nach dem Landleben und hat die großartige Idee, seiner Tante beim Betrieb des Tante-Emma-Ladens unter die Arme zu greifen. Diese Idee kommt natürlich nicht von ungefähr, schließlich ist aus den Erbschaftsunterlagen von Jacques, dem verstorbenen Onkel, herauszulesen, dass Fabian die Hälfte des Ladens geerbt hat. Weil sich Josette nicht im komplizierten Erbschaftsrecht auskennt, war sie nie auf den Gedanken gekommen, dass ihr der Laden nicht allein gehörte. Getreu dem Sprichwort „Neue Besen kehren gut“ hat der junge Banker ganz frische und mutige Ideen, den Laden im Dorf wieder in Schwung zu bringen. Selbstverständlich kommt er nicht auf die Idee, irgendjemanden, und schon gar nicht seine Tante, zu fragen, ob sie damit einverstanden sei. Dass er damit alle Vorurteile der Dorfbewohner gegenüber den Großstädten unterstützt, fällt ihm nicht im Traum ein.
Parallel dazu erleben wir die Geschichte von Stephanie, die auch vor kurzer Zeit in das Dorf gekommen war mit ihrer Tochter Chloé. Keiner ahnt, dass Stephanie vor ihrem Mann geflüchtet ist, um mit ihrer Tochter den ständigen Wutausbrüchen ihres ewig betrunkenen Ehemanns zu entgehen. Stephanie hatte sich in Fogas bereits ein neues Heim aufgebaut und sich hervorragend in die Dorfgemeinschaft eingearbeitet.
Doch Stephanie und Fabian geraten des Öfteren mächtig aneinander. Zwischen den beiden scheint sich eine Mauer des Unglücks aufgerichtet zu haben.

Wie schon im ersten Roman hat sich die englische Schriftstellerin auf einen kleinen Trick zurückgezogen, um die Geschichte mit einem zusätzlichen zwinkernden Auge erzählen zu können: Der Geist von Jacques, dem verstorbenen Inhaber des Tante-Emma-Ladens, lebt noch in diesem Dorfladen. Meist sitzt er auf dem Kaminsims. Doch manchmal starrt er auch aus dem Fenster. Jacques ist eigentlich für alle Dorfbewohner unsichtbar außer für zwei von ihnen. Seine Witwe Josette kann ihn sehen und mit ihm sprechen genauso wie die kleine Chloé, Stephanies Tochter. Dieser Geist gibt oft Anlass zu amüsanten Szenen, wenn sich Fabian beispielsweise wundert, dass seine Tante ständig irgendwelche Selbstgespräche führt. Oder wenn Jacques Stephanie warnen möchte. Dazu schreibt er etwas in den Staub. Aber als Geist kann er nicht mit seinen Fingern im Staub schreiben, sondern er muss pusten. Und das bringt den Geist im wahrsten Sinne des Wortes außer Atem. Aber nicht nur dieser Trick ist es, der das Buch besonders reizvoll macht, sondern auch die stets wechselnde Perspektive, aus der die einzelnen Szenen geschildert werden, ist wunderbar gelungen. Nahezu alle wichtigen Dorfbewohner in dieser Geschichte kommen einmal zu Wort, um aus ihrer Sicht die Dinge zu erzählen. Damit der Leser damit nicht zu sehr überfordert wird, ist in jeder neuen Szene im ersten Absatz jeweils der Name der erzählenden Figur aufgeschrieben. Eine schöne Vorgehensweise, die ich so in anderen Romanen noch nicht entdeckt habe.

Volle Punktzahl für einen wunderschönen Roman, der in Frankreich spielt. Wer den Spielfilm um die „Schtis“ kennt, kann sich etwa eine Vorstellung von diesem Roman machen, wer den Film der „Schtis“ liebt, der wird auch dieser Roman lieben.

Stagg, Julia
Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf
348 Seiten, gebunden
Hoffmann und Campe, Hamburg
ISBN-10: 3455404316
ISBN-13: 978-3455404319

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013
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Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester

Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester

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Die in Düsseldorf lebende Schriftstellerin Gina Mayer entführt den Leser mit diesem Roman in die Zeit des Dritten Reiches. Im Mittelpunkt des Romans stehen die beiden Schwestern Anna und Orlanda. Anna, die ältere von beiden, arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus, während Orlanda als Sängerin eine Anstellung an der Düsseldorfer Oper hat. Nachdem sie diese verloren hat, entdeckt sie die Swingmusik für sich und wird Sängerin der Melody Girls. Sie wird hin und her gerissen von der Liebe zu dem Jazz-Geiger Leopold und dessen Freund Clemens, der ebenfalls an der Oper arbeiten. Als im Krankenhaus ein neuer Chefarzt erscheint, steigt Anna zur OP-Schwester auf. Seit der Machtübernahme der Nazis wird das Leben in Deutschland immer schwerer. Auch Orlanda wird mit einem Berufsverbot belegt, weil Swingmusik zur entarteten Musik gehört und die Melody Girls nicht mehr auftreten dürfen. Aber auch im Krankenhaus sind Ärzte und Krankenschwestern unterschiedlicher Meinung zu den Geschehnissen in Deutschland. Anna kann und will nicht allem zustimmen, was die Nazis anstellen. Als die Situation im Verlauf der Jahre immer schwieriger wird, schließt sich die religiöse Anna einer Gruppe an, die im Untergrund Widerstand leistet. Erst viel später erzählt sie ihrer jüngeren Schwester Orlanda davon. Die ist sofort hellauf begeistert und möchte so schnell wie möglich ebenfalls am Widerstand teilnehmen.

Sehr vielschichtig und mit vielen Details aus dem damaligen Düsseldorf, aber auch aus der Zeit des Dritten Reiches, wird von Gina Mayer einen anrührende Geschichte zweier Schwestern im Widerstand gezeichnet. Schwerpunkt liegt dabei ganz klar auf der Entwicklung der Figuren. Während einzelne Nebenfiguren noch einem klassischen Schwarzweißbild entsprechen, so ist dies bei den Hauptfiguren nicht mehr erkennbar. Sie bestehen aus unendlich vielen Grautönen. Auf diese Weise versucht die Schriftstellerin dem Leser nahezubringen, dass die Zeit des Dritten Reiches nicht einfach schwarz-weiß gesehen werden darf. Obwohl die Schwestern bei weitem nicht immer einer Meinung sind, gehen sie doch einen gemeinsamen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu. Bei den Freunden und anderen ist dies nicht mehr der Fall. Während der Jazzmusiker Leopold an seinem Berufsverbot beinahe zu Grunde geht, schafft es der Opernsänger Clemens bis in die höchsten Kreise und wird sogar von Göbbels hofiert. Eine gemeinsame Freundin Fritzi, die schon in ihrer Jugend ihren jüdischen Nachnamen abgelegt hat, weil sie nichts mit der jüdischen Religion zu tun hat, zeigt, dass auch Juden nicht in einen gemeinsamen Topf zu werfen sind. Annas Chefarzt ist ein Mensch, der durchaus Verständnis für das menschliche Miteinander aufbringt, der den Nazis aber keinen Widerstand entgegenbringt und eher, seinen Wohlstand und seine Karriere im Sinn, bei öffentlichen Anlässen den Nazis nach dem Mund redet. Diese Vielschichtigkeit von Figuren und Charaktereigenschaften wird von der Autorin in eine spannende Handlung gepackt und mit sehr vielen Bildern und Detailtreue in die Köpfe der Leser gepflanzt. Während der Leser lange Zeit im Glauben gelassen wird, dass die Fronten innerhalb dieser Figurenkonstellation ziemlich klar sind, gibt es zum Ende hin immer mehr Überraschungen. Die Hinundhergerissenheit zwischen den beiden Männern Leopold und Clemens zieht sich durch den gesamten Roman und immer wieder muss sich der Leser fragen, wie sich Orlanda am Ende entscheiden wird. Wird sie sich überhaupt entscheiden müssen, oder macht die Liebe ihr eigenes Spiel mit ihr?

Ein hinreißender Roman, der in Düsseldorf spielt und viel Liebe zur Musik durchschauen lässt. Ein Roman, der die Gefühle anspricht, und den Menschen von heute, die meistens die Zeit des Dritten Reiches nicht am eigenen Leib erfahren haben, emotional nahe bringt. Ein solcher Roman hat einfach die volle Punktzahl verdient.

Gina Mayer
Das Lied meiner Schwester
544 Seiten, broschiert
Aufbau, Berlin
ISBN-10: 3746628679
ISBN-13: 9783746628677
© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Nina George: Die Mondspielerin

Nina George: Die Mondspielerin

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Dieser Roman der inzwischen zu einigen schriftstellerischen Ehren gelangten Nina George ist bereits 2011 erschienen. In ihm lässt die Autorin bereits die sanften und sinnlichen Töne anklingen, durch die sie im Roman „Das Lavendelzimmer“ berühmt geworden ist. Er besticht durch seine gefühlvolle und besinnliche Art, Dinge und Geschehnisse zu beschreiben, als würde man in die Protagonistin hinein schauen.

Wir befinden uns in Paris an der Seine, in die sich Marianne hineinstürzt, um aus dem Leben zu scheiden. Sie hat es satt, an der Seite ihres Mannes weiterhin das graue Mäuschen zu spielen, sie hat es satt, nicht mehr zu wissen, wo sie im Leben steht, sie mag einfach nicht mehr und will einen Schlussstrich unter ihr Leben ziehen. Doch so leicht wird es der Deutschen nicht gemacht. Sie wird aus dem Fluss gerettet. Enttäuscht darüber dass ihr der gewählte Weg versagt bleibt, schlägt sie einen neuen Weg ein. Ihr Mann zeigt nach wie vor kein großes Interesse an ihr. Er begreift einfach nicht, wie sie sich fühlt. Mariannes neuer Weg führt in die Bretagne. Hier, in einem kleinen Ort, lernt sie viele nette Menschen kennen, die ihr eine zweite Chance zum Leben geben. Marianne lernt französisch sprechen und sie bekommt einen Job in der Küche eines kleinen Restaurants. Sie wird mit viel Wärme und Liebe in die kleine Gemeinschaft der Bretonen aufgenommen. Doch Marianne bleibt hin- und hergerissen zwischen ihrem alten Leben an der Seite ihres Ehemannes und dem neuen, freien Leben an der Seite eines Malers, in den sie sich verliebt, so wie sie bislang noch nie verliebt gewesen war.

Mariannes Gefühle fahren auf der Achterbahn und Nina George lässt den Leser ganz tief eintauchen in die Gefühlswelt der Protagonistin. Das Schwanken zwischen dem alten und dem neuen Leben wird unheimlich nachvollziehbar und authentisch. George hat einerseits einen Blick und ein Ohr für das feinsinnige in den Beziehungen der Menschen untereinander, andererseits ist sie dank ihres handwerklichen Könnens in der Lage, diese Feinsinnigkeit so akkurat in ihre niedergeschriebenen Worte zu legen, dass dem Leser nichts anderes übrig bleibt, als mit allen Sinnen das Geschehen mitzuerleben und die Gefühlswelt der Menschen nachzuempfinden.

Angenehm ist auch der Ausklang des Buches, in welchem in kurzen Abschnitten die Bretagne von A bis Z erläutert wird. Dem einen oder anderen mag dies eine Hilfe sein, im Nachhinein so manche Kleinigkeit im Roman mit anderen Augen zu sehen.

„Die Mondspielerin“ ist ein Entwicklungsroman, bei der eine von Lethargie und Gram gebeugte Frau jenseits der 50 den aufrechten Gang lernt und sich von ihrem bisherigen Leben lossagt und vom Ehemann emanzipiert. Es ist ein großartiger Roman für alle, die Frankreich lieben, die die Bretagne lieben, und die, die nicht auf actionreiche Szenen aus sind, sondern vielmehr auf das Kopfkino, welches sich bei feinfühligen Sätzen, wie die von George, etabliert. Ich komme nicht umhin und muss diesem Roman, genauso wie zuvor schon seinem Nachfolger, die volle Punktzahl geben.

George, Nina
Die Mondspielerin
Taschenbuch
Knaur, München
ISBN-10: 342650135X
ISBN-13: 978-3426501351

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Thomas C. Boyle: San Miguel

Thomas C. Boyle: San Miguel

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Der amerikanische Bestsellerautor T. C. Boyle hat sich mit diesem Roman der Geschichte zweier Familien angenommen, die auf der kleinen Pazifikinsel San Miguel vor der kalifornischen Küste lebten. Aufmerksam geworden auf diese Geschichte ist er während seiner Recherchen zu dem vorhergehenden Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“. Mit den beiden nacherzählten Familiengeschichten, die in unterschiedlichen Epochen spielen, die erste im 19. Jahrhundert und die zweite 50 Jahre später im 20. Jahrhundert, nimmt sich Boyle dem Phänomen des immer weiter nach Westen strebenden Pioniers an. Wir finden den über 400 Seiten starken Roman in drei Teile untergliedert vor. Die ersten beiden Teile, die um 1880 spielen, sind der Familie Waters gewidmet. Der dritte Teil rückt dann in die Zeit ab 1930 vor, ragt bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein und erzählt die Geschichte der Familie Lester. Die kleine Kanalinsel, auf die die beiden Familien ziehen, ist geprägt von kargem Land. Kaum Vegetation ist lediglich Schafzucht in diesem minimalistischen Lebensraum möglich. Der Autor stellt zu Recht die Frage, was bewegte diese Menschen, auf diese Insel zu ziehen. Während Marantha Waters und ihre Tochter Edith nur dem Ruf von Maranthas Ehemann folgen und das Gefühl haben, auf der Insel wie in einem Gefängnis zu leben, geht Elise Lester mit ihrem Mann aus freien Stücken auf die Insel und lebt sehr gerne auf dieser Insel.

Beide Familien haben tatsächlich existiert und es liegen Dokumente über deren Leben auf der Insel vor. Das besondere Verdienst Boyles ist es, die real existierenden Familien in eine fiktive Handlung eingebettet zu haben, um sie plastischer vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen. Erst durch die Handlungen und Dialoge, wie sie nur in einem fiktiven Roman, zudem von einem wortgewandten Schriftsteller wie T. C. Boyle und seinem präzise und ebenso wortgewandten Übersetzer Dirk van Gunsteren machen die Verhältnisse und das Leben auf dieser Insel spürbar. Auch die Herausarbeitung von Figuren, wie sie vom Schriftsteller bezeichnet werden, sind nur in einer fiktiven Geschichte möglich. Dies macht die Charakterstudien der beiden Familien äußerst lesenswert.

Wer mit dem Roman jedoch ein spannendes Abenteuer wie „Drop City“ oder „Amerika“ erwartet, der wird enttäuscht werden. Harte Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen zwei Menschengruppen stehen nicht im Vordergrund. Wohl aber eben solch harte Konflikte zwischen den Bewohnern dieser Insel und den Naturgewalten. Diese brechen herein in Form von Stürmen, in Form des Zweiten Weltkrieges, in Form von Krankheiten. Mit San Miguel kann man sich einlassen auf einen eine historische Fiktion. Es besticht durch die vom Autor gewohnten präzisen Charakterstudien und detailreichen Beschreibungen der Landschaft, die Heimat des Inselfuchses ist, der nur auf dieser und fünf anderen kleinen Kanalinsel lebt.

Obwohl das Leben auf dieser Insel einem Abenteuer gleicht, ist der Roman kein Abenteuerbuch und man muss sich auf den Inhalt einlassen. Nichtsdestotrotz ist es hervorragend geschrieben und hat meine volle Punktzahl verdient. Ich freue mich auf ein Treffen mit dem Autor, wenn er in den nächsten Wochen durch Deutschland lesetourt.

Boyle, Thomas Coraghessan
San Miguel
Hanser, München
ISBN 9783446243231

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013
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Klaus Kordon: Das Karussell

Klaus Kordon: Das Karussell

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Der 450 Seiten starke Roman erzählt eine Familiengeschichte über zwei Weltkriege hinweg. Zunächst wird in parallelen Handlungssträngen von den beiden Kindern Herbert Josef Lenz und Elisabeth Gerber erzählt. Herbert, genannt Berti, ist das Kind einer Vergewaltigung. Seine Mutter war als Dienstmagd von ihrem Dienstherrn vergewaltigt worden. Kein Wunder, dass er von ihr nur halbherzig geliebt wird und sie ihn in ein Waisenheim abschiebt. Als die Mutter später wieder einen Mann findet, hat Berti erst recht keinen Platz mehr in ihrem Leben. Das Waisenhaus wird von einem strengen Pater und einem strengen Lehrer geleitet. Gutes hat Berti von diesen Leuten nicht zu erwarten. Schon als kleines Kind von sechs Jahren, als der Erste Weltkrieg 1914 ausbricht, fragt er sich unentwegt, warum seine Mutter ihn nicht zuhause aufwachsen lässt. Sie kommt ihn zwar oft besuchen, aber das ist nicht das, was er sich wünscht. Die Frage, ob er ein ungeliebtes Kind ist, nagt sehr stark an ihm. Aber er lernt, sich im Heim durchzusetzen und wird zu einem so genannten Rüpel, letztendlich zu einem wahren Prügelknaben. Immer wieder kommt er bei Wasser und Brot in den Karzer oder muss sich über den Prügelbock legen und wird windelweich geprügelt.

Parallel dazu wird die Geschichte von Elisabeth Gerber, genannt Lisa, erzählt. Lisa wächst im Harz, in Thale, als Tochter des Sohns eines Fleischermeisters auf. Die Mutter hatte sich die Hochzeit mit einem Kleinbürger erkämpft, was deren Vater, Hüttenwerker und überzeugter Sozialdemokrat, gar nicht gerne sah. Jedoch spätestens nach der Geburt von Lisa ergab er sich in sein Opadasein mit einem bürgerlichen Schwiegersohn. Ihre Mutter betreibt eine Wirtschaft, doch mit dem Ersten Weltkrieg bricht das Unheil für die kleine Familie ein und der Vater wird in den Krieg berufen. Von nun an musste sich die Mutter mit Lisa und ihren drei Geschwistern alleine durchschlagen, denn der Vater kehrte aus diesem Krieg nicht zurück.

Der Autor hat einen besonders schönen Stil gefunden, diese in Geschichte, die wie eine Familienbiografie anmutet, niederzuschreiben und zu erzählen. Eigentlich wird die Geschichte aus der Perspektive von Bertis Sohn erzählt. Doch dem stehen nur zwei Kapitel zur Verfügung: der Anfang und am Ende der Epilog. Erst im Epilog erfährt der Leser, wie der Erzähler, der ja gar nicht alles miterlebt haben kann, an die Informationen über seine Familie gelangte. Dazwischen wird das gesamte Buch von einem auktorialen Erzähler vermittelt. Über Jugendzeit und Kindheit der beiden Protagonisten Lisa und Berti bis weit in die erste Ehe hinein verläuft die Handlung beider bis zur Hälfte des Buches separat und parallel voneinander. Man erfährt vom Aufwachsen beider über die grausamen Umstände mit denen sie fertigwerden mussten, auch die schönen Momente, die sie im Leben hatten. Man erfährt, wie Lisa einen Menschen heiratet, obwohl sie ihn vielleicht nicht liebte, aber der ihr ein Zuhause bot, und den sie bis über seinen Tod hinaus respektierte. Man erfährt auch von Berti, dass er eigentlich kein Schläger werden wollte. Aber dass er doch ein großes Stück seines Lebens in diesem Waisenhaus verbrachte und sich dort durchsetzen musste, was wiederum dazu führte, dass er sehr wohl austragen konnte, um sich zu verteidigen.

In teils humorvollen Episoden werden viele Lebensabschnitte dieser beiden Personen geschildert. Der aufmerksame Leser wird erwarten, dass sich die Wege von Lisa und Berti irgendwann einmal treffen müssen. Sie werden auch einen gemeinsamen Weg beschreiten. Nahezu anrührend wird das Bemühen der beiden umeinander aufgezeigt.

Der sehr authentisch wirkende Roman ist ein Musterbeispiel für alle diejenigen, die sich berufen fühlen, aus ihrem eigenen Leben oder aus dem Leben naher Verwandter berichten zu müssen. Es gibt sehr viele Lebensgeschichten, sehr viele Lebensberichte aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und davor. Aber meistens sind diese Berichte Tatsachenberichte, die einfach und schnörkellos erzählt werden. Als solche lassen sie jedoch oft die Spannung vermissen. Dem ist nicht so bei dem vorliegenden Roman. Dieser Roman ist dramaturgisch inszeniert, auch wenn viele Elemente davon autobiografisch oder biografisch sein sollten, ist zu spüren, dass an der Dramaturgie gefeilt wurde, damit die Leser nicht nur an die Informationen gelangen, sondern auch noch Spaß dabei haben. Ein einfühlsamer, bewegender Roman mit einem Ende, wie es sie auch geben mag. Von mir gibt es dafür fünf Sterne.

Kordon, Klaus
Das Karussell
Hardcover
Beltz & Gelberg, Weinheim
ISBN-10: 3407811144
ISBN-13: 978-3407811141

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Anne Tyler: Abschied für Anfänger

Anne Tyler: Abschied für Anfänger

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Abschied für Anfänger ist ein stiller Roman mit Potenzial zu Gewaltigem. Die aus Minnesota stammende Schriftstellerin hatte 1989 für ihren Roman „Atemübungen“ bereits den Pulitzerpreis erhalten. Man kann also davon ausgehen, dass sie mächtig etwas vom Schreiben versteht.

Bereits der Titel dieses neuen Buches deutet an, dass es in der Geschichte um Abschied geht. Und Abschied hat immer etwas mit Trauer zu tun. Der Titel deutet noch etwas anderes an. Das „für Anfänger“ scheint einer Artikelreihe eines Ratgeberverlages zu entstammen. Damit wurde der Nagel auf den Kopf getroffen. Im Buch werden viele weitere solcher Buchtitel genannt, beispielsweise „Weinratgeber für Anfänger“, „Hundetraining für Anfänger“ oder „Schwangerschaft für Anfänger“. Das kommt daher, weil der Protagonist und seine Schwester den Druckkostenzuschussverlag ihres Vaters nach dessen Tod weiterführen.

Aaron Woolcott, der Ich-Erzähler dieser Geschichte, ist der Lektor der Anfänger-Reihe im Verlag. Aaron erzählt in amüsanter Weise den Lesern die Geschichte seiner Ehe. Grund hierfür ist der Unfalltod seiner Frau Dorothy. Sie wurde im eigenen Haus von einem umgestürzten Baum erschlagen. Aaron ist Mitte 30 und bereits Witwer. Nur schwer wird er damit fertig. Da nützen auch die Hilfen und Ratschläge vieler Menschen um ihn herum nichts. Kaum einer scheint bis zu ihm durchzudringen. Dies alles und wie er die robuste Ärztin Dorothy, die ihre Tasche immer diebstahlsicher über Schulter und Brust hängen hatte, kennen gelernt und geheiratet hat, erzählt Aaron. Und er erzählt, dass Dorothy nach ihrem Tod zurückgekehrt ist. Keiner seiner Angehörigen, Nachbarn und Kollegen hat sie gesehen, außer er selbst. Dabei ist er sich aber auch nicht sicher, doch wie sonst hätte er sich mit Dorothy nach deren Tod unterhalten sollen? Dem Protagonisten fällt der Abschied von seiner Frau sichtlich schwer.

Nun könnte man denken, es müsste sich bei diesem Thema um einen depressiven Roman handeln. Dem ist allerdings ganz und gar nicht so. Aaron, der körperlich leicht behindert ist und etwas stottert, scheint sich über alle Hilfsbereitschaft der Menschen um ihn herum zu amüsieren. Es hängt ihm zum Halse raus, wie sie ihn, den frischen Witwer, bemuttern. Er will davon nichts wissen, sie aber auch nicht vor den Kopf stoßen. Während sie ihm also gut gemeint eine gekochte Mahlzeit nach der anderen bringen, kippt er sie quasi hinter ihren Rücken gleich in den Müll.

Anne Tyler, und mit ihr die Übersetzerin Christine Frick-Gerke haben eine äußerst anregende Sprache für den Ich-Erzähler Aaron Woolcott gefunden. Leiser Humor schwingt ständig mit, aber je weiter man sich dem Schluss nähert, umso großartiger wird dieser Humor, der so manches Mal zum lauten Lachen führt. Beinahe zum Running Gag mutiert das Wort „auftauchen“, denn sobald Dorothy die Bühne der Handlung betritt, taucht sie in der Handlung auf. Doch nicht genug, dass die Geschichte von einem stillen See zu einem tosenden Meer wird, präsentiert sie ein überraschendes Ende, welches den Leser zufrieden zurücksinken lässt, wenn er das Buch zu klappt.

Zum Abschluss einen winzigen Ausschnitt, in welchem Aaron erkennt, dass Dorothy nach ihrem Tod vielleicht noch viel öfter nach ihm gesucht hat.
„Ich wartete. Und wartete.
Tagelang blieb ich im Ausnahmezustand und wartete darauf, dass sie wieder kam.
Da Sie in unserer Straße aufgetaucht war, glaubte ich, sie würde dort am ehesten wieder auftauchen. Tatsächlich hätte ich mich dafür ohrfeigen können, nicht schon früher dorthin gegangen zu sein. War sie in all den Monaten auf der Rumor Road herumgeirrt und hatte sich gefragt, wo ich sei? Es war kaum zu ertragen, wenn ich in all die verpassten Gelegenheiten dachte.“

Ein sehr einfühlsames, keineswegs trauriges Buch von der Verabschiedung eines nahen Menschen. Die Traurigkeit kann man eigentlich schon vergessen, wenn man an der Ratgebertitel dieses Buches denkt.

Tyler, Anne
Abschied für Anfänger
Kein und Aber, Zürich
ISBN-10: 3036956425
ISBN-13: 9783036956428
© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Eine weitere Rezension zum Buch Abschied für Anfänger von Anne Tyler finden Sie auch unter Gedenkseiten.de.

David Grossman: Aus der Zeit gefallen

David Grossman: Aus der Zeit gefallen

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Todesvisionen und Schicksal…

Einer Art taumelnden und wehklagenden Gesangs gleich erinnern sich eine Frau und ein Mann ihres im Krieg gefallenen Sohnes.

Mit schweren Schritten, beinahe wie in einer unwirklichen Welt erleben beide das neue Leben. Denn es gibt eines vor und eines nach dem Tod des geliebten Kindes.

„…manchmal, wenn wir zusammen sind, klammert sich dein Leid an meinem fest, mein Schmerz ergießt sich in dein Blut, und plötzlich steigt aus uns das Echo eines unversehrten Körpers auf, des geheilten, und einen Augenblick lang meinen wir, er wäre hier.“

Es ist das Unsagbare, das hier in tastender Sprache nach einer Form sucht, in die man die Trauer kleiden könnte. Doch es geht nicht. Immer wieder stoßen die Worte an Grenzen, die einem bedeuten, dass hier unsagbares Leid geschehen ist. Ein Sohn in der Blüte seines Lebens ist fort, ausgelöscht für immer. Es gibt eine Vergangenheit, in der man sich noch an Gerüche und Geräusche des Kleinen erinnert, doch alle Erinnerung ist nur noch im Unwirklichen verankert. Mit schwebendem Stift, in einem vagen und hoffnungslosen Sprechgesang beschwört David Grossman das Unfassbare: sein Sohn ist tot!

Die Form des Geschriebenen findet nicht ihres gleichen. Im Wechsel kommen ein Chronist der Stadt und ein Zentaur zu Wort. Sie berichten und der gehende Mann sinniert über das Unsägliche. Hier die Erinnerung, dort das Festhalten, und wieder an anderer Stelle die fliehenden Gedanken, die im Unglauben verharren.

Einen vergleichbar tiefen Klang und einen klagenderen Gesang kann man sich nur in der griechischen Tragödie vorstellen. Mythisch und fern sind die Worte, die um immer den gleichen Gedanken zu kreisen scheinen: das Kind ist tot und der Vater lebt. Wie soll man weiterleben mit diesem Bewusstsein?

Der israelische Autor David Grossman hat im Libanonkrieg von 2006 seinen Sohn Uri an einem der letzten Kriegstage verloren. Wer vermag den Schmerz über einen solchen Verlust zu lindern? Wie soll man dem Sprache und Ausdruck geben?

Der Autor hat schon in seinem Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ einen Versuch gewagt, mit der Bürde dieses Verlustes umzugehen. Es gelingt nicht und kann nicht gelingen, wenn man sich die Sinnlosigkeit des Krieges und dessen Folgen vor Augen führt. Uri Grossman  wurde nur 20 Jahre alt.

Sprachlosigkeit in Sprache zu fassen: das ist in eine Kurzformel gebracht, was einem zu diesem Text am Ende einfällt. Sensibel, hoch emotional und tränenlos kommt der Text daher.

Die Übersetzerin beschreibt in einem kurzen Nachwort, wie schwer es war, den Text zu übersetzen. Anne Birkenhauer, die in Israel lebt und arbeitet, hat in einem Seminar mit zahlreichen Übersetzern in verschiedene Sprachen am Klang und am Ausdruck des Textes gearbeitet. Sie hat David Grossman die Stimme gegeben, die dem Text am ehesten gerecht wurde. Jedes weitere Wort darüber hinaus verbietet sich!

David Grossman
Aus der Zeit gefallen
128 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Januar 2013
ISBN-10: 3446241264
ISBN-13: 978-3446241268
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A.F.Th. van der Heijden: Tonio

A.F.Th. van der Heijden: Tonio

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Trauer!

In unermesslicher Trauer und Beklemmung beginnt der Schriftsteller Th. van der Heijden seine Geschichte eines Requiems, das er dem Tod seines Sohnes gewidmet hat. Tonio ist an einem schönen Frühlingsmorgen im Mai 2010 von einem Auto überfahren worden. Er wäre gerade 22 Jahre alt geworden.

Angefangen von der Unglücksnachricht, die Unglauben verbunden mit der Hoffnung auf Rettung bei den armen Eltern auslöst, lässt der Autor die Jahre von der Geburt bis zum Schuleintritt noch einmal an seinem inneren Auge vorbei ziehen. Der Wechsel von den Gefühlen einer trostlosen Unfassbarkeit mit den frohen Erinnerungen an die Geburt und die ersten Jahre zeigt das Bild einer innigen Zugehörigkeit und tiefen Liebe zu dem einzigen Kind der Eltern.

In einem zweiten Teil geht es um die Jahre des Erwachsenwerdens mit all’ den schwierigen Trennungsproblemen, die das Alter der Adoleszenz mit sich bringt.

In einem unendlichen Reigen von Erinnerungen im Wechsel mit der traurigen Gegenwart erinnert der Autor sich seines Sohnes. Immer wieder treten Szenen des vergangenen Lebens vor das geistige Auge des Erzählers und schieben sich zwischen die Trauer der Gegenwart und die Erinnerungen an die zukunftsorientierte Vergangenheit. Freunde des Jungen werden ausgefragt nach den letzten Tagen und Stunden, und in seiner Spurensuche versucht der Vater zu ergründen, wie es zu dem unfassbar tödlichen Unfall kommen konnte. Die Trauer frisst die Eltern fast auf. Sie können sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ihr Sohn nie mehr zu ihnen kommen wird. Die versäumten Jahre werden quasi vorweggenommen, um zu zeigen, dass das Paar elternlos und ohne den Trost einer tradierten Weitergabe von Charakter und Gewohnheiten an Enkel und Enkelinnen sterben wird.

A.F. Th. Heijden versucht mit diesem Buch, sich den Kummer von der Seele zu schreiben. Es ist ein langes Requiem für seinen Sohn geworden. Fast sieht es so aus, als könnte ihm das Schreiben zu einer anderen Art von Zusammensein mit dem Sohn verhelfen.

Das Unglück aber ist tief und überschattet fortan den Alltag. Die Erinnerung kann niemals den Schmerz besiegen.

A.F.Th. Heijden
Tonio
671 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag; Auflage, 2. Auflage, November 2011
ISBN-10: 3518422596
ISBN-13: 978-3518422595
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Lionel Shriver: Dieses Leben, das wir haben

Lionel Shriver: Dieses Leben, das wir haben

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Am Scheideweg zum Tod.

Shepherd und Glynis sind ein Paar in der Mitte des Lebens. Er will sich nach dem Verkauf seiner Firma, der einen großen Ertrag brachte, ein gutes Leben machen. Ob seine Frau Glynis, die Kunstschmiedin, das mitmachen will, steht dahin. Denn ehe man an die Veränderungen eines neuen und anderen Lebens denken kann, entdeckt man bei Glynis Krebs, und sie wird schwer krank. All’ das schöne Geld zerrinnt unter den hohen Ausgaben für das amerikanische Gesundheitssystem, und zerrinnen werden auch alle Hoffnungen und Beziehungen, in denen sich das Paar bisher geborgen fühlte.

Neben den eigentlichen Hauptakteuren bilden die Verwandten und Freunde das Umfeld, in dem sich das gesellschaftliche und “normale“ Leben abspielt.

Begleitet von den Kümmernissen und verletzten Lebenshaltungen der Lebenden, stößt Glynis zu der wahren Erkenntnis vor, die ihr niemand mit noch so verlogenen Zurufen nehmen kann: im Angesicht des Todes werden alle irdischen Vorkommnisse in Politik und Gesellschaft nachrangig. Ihre gesunde Reaktion auf die ganz gewöhnlichen Banalitäten des Alltags ist Wut; Wut auch auf ihren Mann, der ihr in seiner aufopferungswilligen Fürsorge fast suspekt erscheint. Sie, die vom Tod gezeichnet ist, erträgt zuweilen seine entsagungsvolle Zuwendung kaum mehr.

Der Durchbruch zur Realität des bevorstehenden Abschieds und seiner Folgen für alle ist die einzige Wahrheit, die in diesem Roman zählt. Sie wird mit harter Konsequenz unsentimental bis zum Ende durchgespielt.

Eine der stärksten Szenen in dem Buch ist der Ausbruch von Glynis, in dem sie die Lügen und den Eigennutz, die Verlogenheit der Tröstungen und die nachlassende Bereitschaft ihrer Freunde und Verwandten, sich ihrer überhaupt noch anzunehmen, herausschreit. Wie aber kann man es denn überhaupt noch jemandem Recht machen, der mit seinem körperlichen und seelischen Zerfallsprozess für die gesamte Umwelt die Grenzen des Erträglichen berührt?

Lionel Shriver hat in ihrem Buch über „Dieses Leben, das wir haben“, kenntnisreich und wissend berichtet. Selten hat man so realistisch, glasklar und hart gelesen, wie es sich anfühlt, zu sterben, wenn um einen herum das Leben weiter geht.

Alle die Eitelkeiten, Sehnsüchte und Pläne, ja selbst das Scheitern anderer Existenzen, sind nur die Begleitmusik zu einem Scheitern ganz anderer Art: nämlich den Tod als unbesiegbar zu erleben.

Lionel Shriver entwirft das Bild einer zerfallenden familiären und freundschaftlichen Gemeinschaft mit allen begleitenden Kalamitäten.

Es ist ein starkes und beeindruckendes Buch, mit dem die Autorin über ein allseits fälliges aber häufig tabuisiertes Thema berichtet.

Sehr empfehlenswert!

Lionel Shriver
Dieses Leben, das wir haben
544 Seiten, broschiert
Piper Taschenbuch, Juni 2012
ISBN-10: 3492274579
ISBN-13: 978-3492274579
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Tanja Weber: Sommersaat

Tanja Weber: Sommersaat

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Brandenburgische Atmosphäre wird geatmet, wenn man sich in dieses Buch vertieft. Es macht Spaß, eine Landschaft, einen Landstrich zu spüren, wenn man liest. Die von Tanja Weber erzeugten Bilder schaffen es, die Leser auf eine Reise zu schicken. Dabei scheint die Reise nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit zu gehen. Denn man mag kaum glauben, eine solche dörfliche Idylle noch heute anzutreffen. Aber das mögen Leute beurteilen, die nicht in einer Großstadt leben. Aber nicht nur die atmosphärischen Bilder sind überzeigend, auch die Brutalität der Täter wird in drastischen Farben gemalt.

In dem kleinen Dorf Brandenburgs mit dem Namen Germerow gibt es diese Idylle vor den Toren Berlins anscheinend noch. Der Postbote Johannes Stifter, der schon seit Jahren an seiner Dissertation in Philosophie arbeitet, wohnt in diesem beschaulichen Örtchen, in welchem es eine Kleingartenanlage und neben vielen Einfamilienhäusern einen Plattenbau gibt, und trägt hier tagein, tagaus die Briefe aus. Er kennt jeden der Empfänger, weiß, wie sie ticken, seine Nachbarn, wer mit wem kann und wer nicht. Sein größtes Interesse aber gilt einer Frau, die vier Kinder hat, von „aus dem Haus“ bis „noch beim Stillen“. Der Vater der beiden jüngsten, Micha, ist ein Taugenichts und selten bei der Familie. Annika Strelski verzichtet gerne auf ihn. Doch eines Tages findet der Briefträger ihn im nahegelegenen Wald tot auf, der Schädel zertrümmert. Stifter gerät in Verdacht. Die Kommissare, ein in der Gegend geborener Mann mittleren Alters und ein Bayer, der schon fünfzehn Jahre im Osten Deutschlands lebt und immer noch hinzulernt, sind ein skurriles Ermittlerduo. Aus ihnen erwächst eine eigenartige Komik und viele nette Episoden entstehen, wenn sich z. B. der alte Bayer über die Musikleidenschaft seines jüngeren Kollegen wundert.
Tanja Weber schafft es verblüffend gut, die Geschichte aus den Perspektiven der verschiedenen Figuren heraus zu erzählen. Besser gesagt, der Erzähler eignet sich in den einzelnen Szenen jeweils die Sichtweise einer der handelnden Figuren an. Dabei greift er die Sprache der jeweiligen Person auf und während er beim neunjährigen Adam noch sagen würde: das ist jetzt aber voll doof, kommt solch ein Satz in Zusammenhang mit einer erwachsenen Figur niemals vor.

Da die Autorin sehr früh den Täter präsentiert, fragt man sich als Leser zu diesem Zeitpunkt, was denn da noch kommen mag. Aber wer das Buch dann aus der Hand legt, wird nie erfahren, wie Spannung nach einem Finale funktioniert. Einfach nur packend und überraschend.

Man darf auf weitere Romane von Tanja Weber gespannt sein. Dieses Buch empfehle ich gerne. Und wer den allerersten Hit von Nina Hagen noch kennt, der wird beim Lesen nicht umhin kommen, das Lied mitzuträllern.

Tanja Weber
Sommersaat
350 Seiten, gebunden
Aufbau Verlag, Berlin
ISBN-10: 3351033613
ISBN-13: 978-3351033613

© Detlef Knut, Düsseldorf 2012
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