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Schlagwort: Unglück

Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte

Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte

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Fremd in der eigenen Haut.

Geheimnisvoll und beunruhigend beginnt der vorliegende Roman von Milena M. Flasar, der uns in die Weisheit, das Leben und die Mentalität japanischen Lebens einführt.

Jeder kennt die Bilder der schweigenden Duldsamkeit, mit denen Japaner Naturkatastrophen und das bekannte Atomunglück in Fukushima hingenommen haben.

Hier begegnen wir zwei Männern, der eine jung, der andere alt, die sich täglich auf einer Parkbank begegnen. Sie schweigen. Erst nach und nach beginnen sie in wenigen Worten, später auch Sätzen, ein Gespräch mit einander.

Wie sind sie in ihre jetzige Lage gekommen?

Zwei Gescheiterte scheinen sich hier einander anzunähern. Stumm und in ihren eigenen Gedanken gefangen erfährt man erst allmählich von ihrem Schicksal. Mit assoziativen Einfällen und langsam sich öffnenden Herzen erfahren die beiden Männer, wie sie an den Rand der Gesellschaft geraten sind. Bei dem einen war der Tod eines Mitschülers die schockierende Ursache, beim anderen der Verlust der Arbeitsstelle.

Ohara Tetsu unterbricht als erster das lange Schweigen. Sein Gegenüber ist Taguchi Hiro. Letzterer ist ein verstörter Schüler, der die Schule abgebrochen hat und sein Leben in der Höhle seines Zimmers fristet. Hikikomori heißen diese Schüler, die der Welt den Rücken kehren und sich im Elternhaus verstecken. Sie bilden eine schwere Prüfung für Väter und Mütter, die nach außen den Schein wahren möchten und von einer langen „Auslandreise“ sprechen, wenn Angehörige oder Nachbarn nach dem Verschwundenen fragen.

Der „Salaryman“, ein ehemaliger Firmenangestellter, zeichnet sich durch korrekte Arbeitskleidung und eine Krawatte aus. Seine Frau soll nicht wissen, dass er arbeitslos geworden ist. Er ist ein liebevoller Ehemann, der jedoch dem Leistungsdruck der nachrückenden jüngeren Generation in der Firma nicht mehr gewachsen war.

Man weiß, dass Japaner in der Tat schweigsam sind, höflich und korrekt. Diese Männer, der alte und der junge, klagen und zetern nicht: sie nehmen stillschweigend ihr Unglück hin, dass jeden von ihnen zum einsamen Außenseiter gemacht hat. Erst allmählich lösen sich die Zungen, und die trostlosen Erfahrungen, von denen man hört, wollen schier kein Ende nehmen.

Der Leser bekommt ein Bild von dem Arbeitsdruck in den Firmen und erfährt von der öffentlichen Schande, die das Herausfallen aus allen Lebensmustern mit sich bringt. Geheimnisvoll und vielsagend beschreibt die Autorin, wie die beiden Außenseiter Konfliktsituationen und Schicksalsschläge vergeblich in den Griff zu bekommen trachten. Vor uns breitet sich ein fremde Mentalität und innere Verschlossenheit aus.

Besinnlich, nachdenklich und zart gesponnen entwickelt die Autorin ihren Romanstoff, der doch einen Teil japanischer Realität widerspiegelt.

Die Geschichten der beiden Hauptprotagonisten verdichten sich zu einer empfindsamen und traurigen Erzählung, in der sehr viel inneres Leid steckt. Mit poetischen Bildern untermauert M. M. Flasar noch die äußere Schönheit der Welt mit dem inneren Zerfall der Unglücksraben.

Eine stille, ruhige  und nachdenklich gestaltete Erzählung erwartet den Leser, der auf diese Weise ein Bild vom japanischen Leben bekommt.

Milena Michiko Flasar
Ich nannte ihn Krawatte
144 Seiten, gebunden
Verlag Klaus Wagenbach, Januar 2012
ISBN-10: 380313241X
ISBN-13: 978-3803132413
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Tim Krohn: Ans Meer

Tim Krohn: Ans Meer

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Sommerroman…

Ein unergründliches und belastendes Geheimnis trennt zwei Freundinnen, die sich in frühester Kindheit liebten. Die Familien der beiden besaßen ein Haus am Meer. An der Ostsee haben sie zusammen glückliche Kindertage verbracht. Doch eines Tages zerbrach die Gemeinschaft, und die Familien trennten sich.

Jetzt lebt Anna in Kiel und Josefa in Zürich. Beide haben sich zwölf lange Jahre nicht gesehen. Anna sucht schließlich erneut den Kontakt zu Josefa.

Bis es dazu kommt, wird das jeweilige Schicksal aller Beteiligten skizziert.
Josefa hat den zwölfjährigen Sohn Jens, den sie sehr liebt. Er drängt sie ungeduldig, zum Haus ans Meer zu reisen. Er möchte so gerne auf der Ostsee segeln! Doch Josefa ist taub auf dem Ohr. Sie will nicht zurück an den Ort ihrer Kindheit, wo es ein dunkles Geheimnis gab, das die Gemeinschaft aus glücklichen Tagen zerbrechen ließ.

Anna ist berufstätig und wünscht sich sehnsüchtig ein Kind von ihrem Partner Kalle. Leider wartet sie vergeblich, bis auch sie hinter ein Geheimnis kommt, das ihre Beziehung zu sprengen droht.
Man merk schon: das Buch steckt voller versteckter und verworrener Geschichten, und der Durchblick ist schwer!

Zahlreiche Spuren führen zu den einzelnen Figuren, die sich wie in einem Netz verfangen haben. Niemand weiß alles, jeder kennt nur Teile der Geheimnisse des anderen. Ungewöhnlich frühreif steht Jens, der zwölfjährige Sohn von Josefa, im Mittelpunkt der Erzählung. Aus seinen Augen schaut man zurück und sucht neugierig nach Spuren, die für ihn Unerklärliches verstehbar machen. Doch er und auch wir müssen lange warten, bis wir begreifen, wie es denn nun zu den Zerwürfnissen in den Familien gekommen ist!

Tim Krohn hat seinen Roman verschachtelt angelegt, so dass man sich getrieben fühlt, den einzelnen Spuren zu folgen, um endlich zu verstehen. Immer wenn man auf dem richtigen Erkenntnisweg zu sein scheint, muss man sich doch noch gedulden, bis man der Auflösung aller Rätsel näher kommt.

Der Autor hat einen leichten Roman verfasst. Auch alle unerklärlichen Todesfälle können die sommerliche Unbeschwertheit der Glücksmomente nicht überdecken. Lieben und geliebt werden, Treue und Untreue, Leidenschaft und Vergänglichkeit: alles kommt vor und man hat trefflich zu tun, der Aufklärung zu folgen. Wer der leichten Muse zugetan ist, der wird die kurzweilige Lektüre zwischen Krimi und Gesellschaftsroman genießen.

Tim Krohn
Ans Meer
328 Seiten, broschiert
Diogenes, Juni 2011
ISBN-10: 3257240767
ISBN-13: 978-3257240764
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Michael Degen: Familienbande

Michael Degen: Familienbande

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Unglücklich und einsam erlebte der jüngste Sohn von Thomas Mann und seiner Frau Katja seine Kindheitsjahre. Er muss ein unausstehliches Kind gewesen sein. Schon als Säugling greinte er unablässig und quälte Vater, Mutter und die Amme mit seiner Unruhe. 1919 wurde er als jüngstes Kind von sechs Geschwistern geboren. Nichts und niemandem konnte Bibi, wie er genannt wurde, etwas recht machen, und früh schon zeigte Thomas Mann eine tiefe Abneigung gegen das unerwünschte sechste Kind in seiner Familie. Bibi legte sich mit Schülern und Lehrern an, flog immer wieder von Schulen und war klug genug, mit seinen Argumenten die Erwachsenen in die Enge zu treiben. Sein liebster Bruder war Klaus Mann, genannten Aissi. Von dem 13 Jahre Älteren lernte er, was es mit Drogen und deren Folgen auf sich hat.

Da aber lebte die Familie schon in der Schweiz auf der Flucht vor den Nazis.

Bibi war hellwach und mit seinen Augen und Ohren überall. Er lernte Bratsche und Violine spielen, ist aber nach den Aussagen des Biographen Michael Degen nie wirklich fleißig und strebsam gewesen. Er störte gerne und scheint insgesamt ein fast schwer erziehbarer Junge gewesen zu sein. Verwunderlich war das nicht, denn Eiseskälte und Ablehnung erfuhr er von seinem Vater zeitlebens.

Michael Degen entwirft ein Bild der Familie Mann, das sehr wirklichkeitsgetreu die Lage schildert, in der man sich seit der Machtübernahme Hitlers befand. Die Schweiz bot vorübergehend Unterkunft, bis Thomas Mann mit seiner Familie nach Amerika ins Exil ging. Der Schriftsteller war ein alles beherrschender Familienmensch, zu dem Katja in treuer Anhänglichkeit hielt. Sie musste einen Balanceakt aufführen, um ihrem Mann die nötige Ruhe zu verschaffen und den Kindern eine behütende und lenkende Erziehung angedeihen zu lassen. Die Kinder waren jedoch allesamt eigenwillige, begabte und aufsässige Zeitgenossen, deren Erziehung unter den gegebenen Bedingungen kaum zu leisten war.

Über den Lebenslauf der ältesten Geschwister Klaus und Erika gibt es zahlreiche Zeugnisse, von Golo Mann gibt es Biographien, doch Michael Mann erfährt erst jetzt in der Biographie von Michael Degen seine Würdigung.
Man bekommt neue Einblicke in eine Familie, die außergewöhnlich war und in ihrem inneren Zustand Anlass zu immer neuen Interpretationen bot.
Erstmals wird mit aller Deutlichkeit klar, dass die frühe Ablehnung des Sohnes durch den Vater verheerende Folgen zeigte. Besonders die Söhne hatten unter der Übermacht und Gleichgültigkeit seitens ihres Vaters zu leiden. Die Teilnahmslosigkeit zeigt sich bei der Bestattung des Sohnes Klaus, bei der nur Bibi tief unglücklich anwesend war. Einmal mehr zeigt sich, dass ein Mann, der sich mit Familientragödien auskannte, wie er sie in den „Buddenbrooks“ beschrieben hat, in seiner eigenen Familie die Not der Familienmitglieder weder sah noch bei Schwierigkeiten abhelfen konnte.

Insofern rundet sich das Bild der Familie Mann zu einem komplexen Drama. Nur die jüngste Tochter Medi wurde wirklich glücklich in ihrem Leben, alle anderen Kinder sind am Ende psychisch gescheitert.
Michael Degen kommt das Verdienst zu, hier eine letzte Wissenslücke über das Leben im Haus Mann zu schließen. Er hat die Aufgabe sinnvoll gemeistert.

Michael Degen
Familienbande
480 Seiten, gebunden
Rowohlt Berlin, März 2011
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3871346330
ISBN-13: 978-3871346330
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Kevin Power: Die letzte Nacht des Sommers

Kevin Power: Die letzte Nacht des Sommers

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Schicksalhaft, traurig und super spannend!

Die letzte Nacht des Sommers verbringen viele Studenten in einem Club. Als vier von ihnen spät in der Nacht den Club in Blackrock, County Dublin, verlassen, sind sie mehr oder weniger betrunken. Bei einer folgenden Schlägerei  töten drei von ihnen ohne ersichtlichen Grund einen vierten. Mit ein paar harten Tritten und Faustschlägen haben sie Conor Harris umgebracht. Niemand begreift, wie es zur Tat kommen konnte. Schon beim ersten Tritt ist Conor Harris tot. „Die drei Studenten, die wegen schwerer Körperverletzung ins Gefängnis kamen, heißen Stephen O’Brien, Barry Fox und Richard Culhane“. Lakonisch und einfach beginnt der Bericht über ein Verbrechen, für das es in der Wirklichkeit ein Vorbild gab.

Der Autor Kevin Power zieht diesen Krimi anders als üblich auf. Der Tathergang wird detailliert beschrieben, die Schuldigen sind ausgemacht und die Strafen verhängt.

Im weiteren Verlauf geht es um die Herkunft und das soziale Gefüge, aus dem die Mörder und der Tote kommen. Streng katholisch, reich und privilegiert ist Richard Culhane, der als Haupttäter ausgemacht wurde, der Sohn einer wohlhabenden Familie. Er ist ein schöner junger Mann, der seine Herkunft zu schätzen weiß. Alle jungen Männer haben zusammen eine Privatschule besucht, das Brookfield College in Blackrock. Sie sind die Söhne erfolgreicher Väter, die ebenfalls dieses College besucht haben und führen die Schultradition fort.

Immer wieder rollt die Szene der Todsnacht ab: der unbekannte Icherzähler, von dem wir erst sehr spät erfahren, wer er ist, berichtet aus verschiedenen Perspektiven, beschreibt die Mädchen und Jungen, die bei der Prügelei dabei gewesen sind, und erläutert ihre Herkunft. Sie stammen alle aus der oberen Mittelschicht. Es geht ihnen gut, die Jugendlichen sind wohl versorgt und leben ein leichtes und zufriedenes Leben. Nur langsam nähert sich der Autor seinem Plot: der Erforschung der Gründe, die zu Conors Tod geführt haben. Mit seiner Erzählweise entwickelt er eine psychosoziale Studie der Gesellschaftsschicht, aus der die Jugendlichen kommen. Alle Mädchen und Jungen dieser Schicht sind standesbewusst und selbstsicher. In der Tradition von Reichtum, Bildung, Herkommen und beruflich gesicherter Zukunft kommt ein Verbrechen wie das geschehene einfach  nicht vor. Die Schockstarre, unter der betroffene Mitschüler, Mitstudenten, Eltern und Lehrer leiden, ist merklich spürbar.

Sie kennen sich alle, sind Kollegen oder Mitglieder gemeinsamer Clubs und Sportmannschaften. Spannend und penibel umkreist der Autor in seiner erzählten Recherche alle Freunde, Bekannten und Verwandten des Toten. Man weiß, wer der Mörder ist. Doch Verschleierung und Aufklärungsfehler bringen die Untersuchungsbehörden nur schwer voran.

Kevin Powers geht den einzelnen Schicksalen nach und findet zuletzt Worte für die Tat und ihre Folgen, die schwer ans Gemüt rühren. Ohne Rührseligkeit beschreibt er ein Milieu, das durch Tradition und Herkunft verbunden ist, bis einer von ihnen durch seine Tat aus allen gesellschaftlichen Bezügen gerissen wird. Erschüttert und schmerzlich berührt erfährt man, wie das Schicksal jene bestraft, die sich gegen das Gesetzt stellen und die Kontrolle über das eigene Handeln verlieren.

Kevin Powers ist ein hervorragender irischer Autor, dessen Debütroman mit zahleichen Preisen geehrt wurde.

Kevin Power
Die letzte Nacht des Sommers
304 Seiten, broschiert
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462042483
ISBN-13: 978-3462042481
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