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Kategorie: Biografie

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

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Daniel Schreiber ist ein sensibler, feinfühliger Autor. Das hat er in allen seinen Büchern bewiesen.

Hier schreibt er über die Zeit der Verluste, die unser Leben begleiten.
Ob Menschen, Orte oder Dinge, die wir lieben: alles ist vergänglich! Wir müssen uns mit dem Schmerz der Verluste auseinandersetzen und sie bewältigen.

Schreiber ist in Venedig, einer Stadt, die ihm mit ihren Geräuschen, den Plätzen und der Kunst zutiefst berührt. Er ist hingerissen von seinen Kunstbetrachtungen, von menschlichen Begegnungen und den Gesprächen, die er dort bei Gelegenheit führt.

Rückblickend erinnert er sich an Heidelberg, wo er einen Anruf seiner Mutter erhielt. Er weiß, dass ihn eine sehr schmerzliche Nachricht erwartete: der Tod seines Vaters! Da er jedoch eine Bühne für eine Lesung betrat, rief er die Mutter erst am Morgen zurück. Es kommt ihm so vor, als sei er vor der Nachricht geflohen. Nun ist das Erwartete eingetreten.

Daniel Schreiber ist ein sehr gefühlvoller Mensch, der innige Beziehungen pflegt zu Menschen, die ihm nahestehen. Dazu gehörte sein Vater.
Wie er seinem Schmerz Ausdruck verleiht, das ist anrührend.

Hier in Venedig, gibt er sich seinen Erinnerungen an den Vater, die Mutter und den Beziehungen zu ihnen hin. Den Alterungsprozess seines Vaters hat er genau reflektiert und mit Erschrecken die Monate des Wiedersehens beschrieben, wenn er nach längerer Abwesenheit nach Hause kam. Er ist ganz elegisch bei den Erinnerungen, die auch zahlreiche andere Verluste seines Lebens einschließen. Hinzu kommen der Klimawandel, die Pandemie und der Ukrainekrieg, die eine vermeintlich stabile Welt ins Wanken gebracht haben. In Gesprächen mit einer Freundin haben sie sehr krass diese so genannten „Zeitenwende“ realisiert.

Das Büchlein regt auch den Leser an, sich der eigenen Vergänglichkeit und der erlittenen Verluste zuzuwenden. Zuweilen vergehen Geschehnisse einfach; man verliert Freunde, weil sich die Lebenswege trennen. Eltern und Geschwister treten ein wenig in den Hintergrund. Was bleibt, sind Erinnerungen und die Spuren, die eine jede Zeit hinterlässt.

Insgesamt ist das Erzählte von Trauer durchzogen. Insofern ist die Erzählung besonders geeignet für Leser, die ähnlich traurige Erlebnisse zu verschmerzen haben.

In einem ausführlichen Anhang wird auf Literatur verwiesen, die Schreiber herangezogen hat, um seine Ideen und Vorstellungen über Trauer und Verlust zu belegen.

Daniel Schreiber
Die Zeit der Verluste
Hanser Berlin, 3. Auflage, November 2023
144 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446278001
ISBN-13: 978-3446278004
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Maarten Asscher: Das Haus meiner Kindheit

Maarten Asscher: Das Haus meiner Kindheit

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Das Haus der Kindheit: das ist das Haus der Großeltern von Maarten Asscher.

Dieses Haus stand in England, in Kew, nicht weit von London.
Detailliert berichtet der Autor über die Räumlichkeiten und über die Lebensgewohnheiten der Großeltern.
Man spürt, wie heimelig er sich fühlte und wie froh ihn das Zusammensein mit dem Oa, wie er genannte wurde, und Oma Roosje stimmte.

Fast Proust gleich geht es um die Gerüche und Geräusche im Hause. An Oma Roosje wurde mit den liebevollsten Gedanken erinnert. Sie war klug, lebendig und voller Tatendrang.

Die Erzählung ist ganz auf die Großeltern fokussiert. Wenig nur hört man von seinem Elternhaus in Holland. Es gab aber etwas, was den Jungen in späteren Jahren neugierig machte. Die Großeltern sind jüdisch, und im Krieg gab es Verfolgungen. Von Tanten und Onkeln ist die Rede, die in die KZs in Deutschland deportiert wurden und nie zurückkehrten. Wo waren die Großeltern, wie verlief ihr Schicksal?

In langen Passagen und Monologen kommt Maarten Asscher der Geschichte der Familie auf die Spur.
Oa, der Großvater, besaß neben der holländischen auch die englische Staatsbürgerschaft.
Es hat ihm bei seinen Bemühungen,1940 mit der Familie nach England zu fliehen, nicht geholfen.
Er war bei einem internationalen Shell Konzern angestellt. Da glaubte er sich als Halbjude sicher.
Doch beide Großeltern wurden 1942 nach den Haag und noch später ins Lager in Westerborg verschick. Die Repressionen wurden immer schärfer. Die Flucht gelang ihnen nicht.

Durch seine Nachforschungen gelingt dem Autor, zu rekapitulieren, wie seine Großeltern später nach England kamen.
Ein abenteuerlich fingierter „Arisierungsprozess“ brachte den Großvater mit seiner Familie aus der Zwangsevakuierung wieder in sein Haus zurück. Gleich nach dem Krieg zog es ihn in seine Heimat nach England.

Einmal mehr erfährt die Nachwelt, wie schrecklich die Nazizeit auch für Juden in dem besetzten Holland war. Der Großvater strich die Erinnerungen an 1940 – 1945 aus seinem Gedächtnis, so dass seine Enkel nur die schönsten Seiten der Kindheit mit den Großeltern erinnerten.

Wie so viele Geschichte aus der Nazizeit reiht sich auch diese Erzählung dazu!

Maarten Asscher
Das Haus meiner Kindheit
Luchterhand Literaturverlag, Oktober 2023
256 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630876536
ISBN-13: 978-3630876535
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Volker Weidermann: Mann vom Meer

Volker Weidermann: Mann vom Meer

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Es gibt zahlreiche Bücher über das Leben der Familie Mann und einzelner Familienmitglieder.
Volker Weidermann hat uns mit seinem Buch über Thomas Mann und seine Liebe zum Meer noch einmal einen weiteren Blick auf die Person dieses ungewöhnlichen Schriftstellers eröffnet.

Mit Weidermanns feinfühliger Beobachtungsgabe sehen wir zunächst auf das Schicksal von Thomas Manns Mutter. Die Schilderung ihrer exotischen Herkunft aus dem fernen Brasilien mit allen möglichen Freiheiten und herrlichen Schilderungen ihrer Kinderjahre in bunter Natur sind berückend.

Durch den Tod ihrer Mutter wurde das Leben von Julia da Silva-Bruhns schon in frühen Kinderjahren aus der Bahn geworfen. Nach Deutschland versetzt beginnt ein nicht sehr glückliches Leben für sie. Sie wird genötigt, einen ungeliebten Mann zu heiraten, eben jenen Konsul Mann, der als Vorbild für Th. Manns berühmtesten Roman „Buddenbrooks“ gilt.

Die harte, als konservativ geltende und im 19. Jahrhundert verhaftete bürgerliche Haltung in allen Lebensfragen wird durch die Erzählungen von Thomas Mann sehr drastisch spürbar. Erziehung, Auftreten, Umgang mit den Menschen und folgsame Erfüllung der gestellten Aufgaben: es herrscht ein strenges Regiment! Eltern wie Kinder hatten sich danach zu richten.

Volker Weidermann kann sich in die inneren Gefühlswelten der Protagonisten gut hineinversetzen. Die Mutter hat sich eine harte Schale zugelegt, wenn sie auch die Kinder mit ihren Erzählungen in ferne Traumwelten zu entführen trachtete. Die Kinder widersetzen sich den strengen Regeln. Hier ist zumeist von den beiden Erstgeborenen Heinrich und Thomas Mann die Rede.

Die Liebe zum Meer ist ein Aspekt, der Manns ganzes Werk durchzieht, aber in dieser Weise noch nie in den Fokus gerückt worden ist.
Sie bot an vielen Stellen Glücksmomente für ihn! Bei zahlreichen Gelegenheiten rund um die Meere empfand Thomas Mann Liebesgefühle für schöne Jünglinge, die in seinen Erzählungen ihren Niederschlag fanden. Volker Weidermann ist ein vorzüglicher Kenner von Thomas Manns Werken und Wirken. Er stellt gekonnt Bezüge zwischen Leben und Werk her.

Insgesamt sollte man beim Lesen tunlichst ein guter Kenner der Romane und Erzählungen von Thomas Manns Werken sein. Der Autor weiß in seiner Charakteristik des Schriftstellers die passenden Passagen zur rechten Zeit zu zitieren. Manns sexuelle Vorliebe für Männer ist bekannt. Doch werden hier die inneren Konflikte, die diese Neigung für ihn bedeutete, noch einmal herausgehoben.
Sein weitblickendes Genie und die Tiefe seiner Beobachtungen ließen ihn seine eigene Zerrissenheit nie vergessen.

Vieles wird dem Leser bekannt sein, anderes bietet ganz neue Blickwinkel.
Mit strenger Kontrolle und Disziplin hat der Schriftsteller sein Leben gemeistert, um am Ende glücklich zu sein.

Mann vom Meer versetzt einen auf vielerlei Weise zurück in die Jahre seit 1900, in die Krisen, politischen Verwerfungen und die Folgen, mit denen Menschen aus der Lebensbahn geworfen und zu immer neuen Anfängen gezwungen wurden.

Volker Weidermann hat Thomas Mann als den beschrieben, der sein Leben durch alle Zeiten im Griff behielt und das Lebensende gerühmt und zufrieden erleben konnte.

Es gibt ein Glossar und geordnete Kapitel, mit denen der Autor seiner Linie folgt: TM als Mann vom Meer.

Volker Weidermann
Mann vom Meer
Kiepenheuer&Witsch, Juni 2023
240 Seiten, gebunden
ISBN-10: ‏ 3462002317
ISBN-13: 978-3462002317‏
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Edvard Hoem: Die Hebamme

Edvard Hoem: Die Hebamme

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Der Autor hat sich mit diesem Buch der Lebensgeschichte seiner Ururgroßmutter Marta Kristine Andersdatter Nesje angenommen, geboren 1793. Er hat Dokumente ausfindig gemacht, aus Kirchenbüchern Details übernommen, die Aussagen über sie und ihr Umfeld machen, und die geschichtlichen Hintergründe und damaligen Traditionen recherchiert, um daraus eine Geschichte zu konstruieren, die ich als sehr gelungen und einfühlsam empfinde.

Marta Kristine ist die älteste Tochter des Schuhmachers Anders Knudsen und seiner Frau Karen. Sie ist an vielen Dingen interessiert und hinterfragt selbstbewusst, was sie nicht versteht.

Schon in der Schule begegnet sie Hans und es scheint, als haben beide eine gemeinsame Zukunft vor sich. Tatsächlich werden die beiden ein Paar, doch es sollen viele Jahre ins Land gehen, bis Hans ein Häuschen am Fjord baut und sie es beziehen. Den Wunsch, Hebamme zu werden, hat Marta Kristine frühzeitig, aber ihn durchzusetzen ist eine andere Sache. Pastor Stubbe ist es, der ihr einen Weg eröffnet. Allerdings wird diese doch sehr kurze Ausbildung nicht von allen werdenden Müttern anerkannt. Sie setzen lieber auf Frauen aus ihrem Umfeld, die bei der Geburt unterstützen.

Wieder vergehen Jahre und es eröffnet sich die Möglichkeit, im von der Westküste Norwegens weit entfernten Christiana, eine umfassende Weiterbildung zu absolvieren. Nur hat sie zu diesem Zeitpunkt schon eine Familie. Dennoch entschließt sie sich dafür und lässt Mann und Kinder zurück. Es ist ihr wichtig und auch unbedingt notwendig, etwas zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen zu können. Doch die Mütter haben kaum das Geld, sie zu bezahlen. Es sind schwere Zeiten und Hans wird immer schwermütiger, hat er im Krieg seine Kameraden sterben sehen.

Das Buch schließt ab mit dem Tod von Marta Kristine, die mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen leben musste und viele Schicksalsschläge zu verkraften hatte. Der Autor beschreibt den Alltag, das Dorfleben und bezieht hier die Jahreszeiten mit ein.

Die Geschichte der Hebamme ist sehr eindrucksvoll, tiefgreifend und detailreich geschrieben, durchwoben von Melancholie. Man wird gefangen genommen von Marta Kristines Lebensweg, den sie sich erkämpft hat, und der sehr zu Herzen geht. Sie war eine fortschrittliche Frau und offen für neue medizinische Kenntnisse, die sie als Hebamme nutzen konnte. Diese längst vergangene Zeit lebt mit diesem Buch noch einmal auf und ich habe mich beim Lesen ein bisschen wie eine Zeitreisende gefühlt.

Rezension von Heike Rau

Edvard Hoem
Die Hebamme
Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer
352 Seiten, broschiert
Unionsverlag, März 2023
ISBN-10: 3293209726
ISBN-13: 978-3293209725
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Helga Schubert: Der heutige Tag

Helga Schubert: Der heutige Tag

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Eine Frau begleitet ihren Mann auf seinem letzten Lebensabschnitt. Seine Demenz ist offensichtlich. Wie geht man damit um?

Helga Schubert beschreibt im Wechsel mit ihrer Gegenwart, wie sie mit ihrem Mann zusammengelebt hat, wie ihre Liebe entstand und Bestand hatte und wie das „Heute“ aussieht.

Derden, wie sie ihn nennt, ist alt, krank und abhängig von ihr wie nie zuvor in ihrem langen gemeinsamen Leben.

Die Anfänge ihrer Ehe waren holprig; beide hatten Ehen hinter sich und Kinder aus diesen vergangenen Ehen. Während sie ihr Leben alleine schon bald gestaltet, zieht es ihn immer wieder zurück zu seiner Ehe und dem Familienleben. Sie konnte dem alternativlos ein Ende setzen. Nun sind sie seit 58 Jahren zusammen und lieben sich immer noch!

Das ist eine lange Zeit, um sich nah zu sein und zu bleiben. Es scheint ihnen gelungen, ein glückliches gemeinsames Leben gemeistert zu haben. Er malt, sie schreibt, doch das jetzige Leben mit Pflege und allen Begleiterscheinungen eines vergänglichen Lebens hat nochmal eine ganz neue Dimension.

Es gibt wunderbare Berichte über ihr Leben auf dem Land in einem stillen Bauernhaus in Mecklenburg, das Ruhe und Beschaulichkeit verspricht.

Die Düfte und Geräusche der natürlichen Umgebung sind berückend. Man vergisst vorübergehend ganz, was die Pflege ihres Mannes  für die Autorin an Beschwerlichkeiten mit sich bringt. 

In ihrem Alter, 83, sieht sie bei Freunden und Bekannten Veränderungen mit den unterschiedlichsten Merkmalen. Es gibt weit verbreitet Demenz, Heimunterbringungen, Todesfällte; auch späte Liebe mit über neunzig Jahren kommt vor! Sie selber ertappt sich gelegentlich bei eigener Vergesslichkeit. Die ganze Wahrheit des Altwerdens wird sichtbar. Es gibt glückliche Momente, das ja. Sie bestehen in der Stille, dem Gesang einer Amsel, dem Betrachten der Blumen im Sommer, und für Helga Schubert im Schreiben am Laptop. Doch alles wird überlagert von der schwer zu bewältigende Pflege für ihren schwer kranken und viele Jahre älteren Mann.

Wie viel Geduld das erfordert!

Eine zärtliche Geste hier, ein Hauch von Verzweiflung da: die Autorin berichtet hautnah, wie es sich lebt im Angesicht des langsamen Untergangs von Geist und Körper!

Die Liebe und die Nähe, gemeinsamer Humor und das Lachen: das alles gilt es zu bewahren und doch den nahenden Abschied nicht zu verleugnen. Wie schwer das fällt, bis er zur unabänderlichen Wahrheit wird!

Es ist ein schönes Buch, ein melancholisches auch, doch alles durchdrungen von einer langen Liebe! 

Helga Schubert
Der heutige Tag
dtv Verlagsgesellschaft, März 202
272 Seiten, gebunden
ISBN-10: ‏342328319X
ISBN-13 :978-3423283199
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Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

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Diese autobiographische Erzählung beinhaltet auch für den Leser eine glückliche Erfahrung!

Arno Geiger berichtet von den Anfängen seines Vorhabens, ein Schriftsteller zu werden.
In Wien, wo er sich eine kleine Wohnung gemietet hat, um zu schreiben, fällt ihm in einer Straße eines Tages ein Karton mit abgestellten Büchern in die Hände. Er wird neugierig und fängt an, auf seinen Streifzügen durch die Stadt Papiercontainer nach Lesenswertem zu durchstöbern. Es wird fast zur Sucht, sich mit dem Abfall zu beschäftigen. Zusammen mit seiner Freundin K. verkaufen sie auf Flohmärkten Übriggebliebenes und machen dabei Gewinn.
Was mit seiner Freundin als skurrile Zweisamkeit beginnt, geht später in ein rechtes Chaos über. Sie streiten sich, verlieren sich und haben andere Beziehungen. Über allem steht die Suche von Arno Geiger nach dem Erfolg. Der lässt zuerst lange auf sich warten.

Arno Geiger hat eine unübertroffene Gabe, seine Geschichten nüchtern und bar aller Angeberei zu erzählen. Seine Worte klingen oft trocken; sie stecken voller Selbstironie und kritischen Selbsteinsichten. Fast grenzt die Geschichte an eine Selbstentblößung, die jedoch von stillem Humor und gelegentlicher Drolligkeit geprägt ist.

Sein stetes Wollen steht in seinen Anfängen als Schriftsteller im Kontrast zu dem, was er zustande bringt. Er schreibt des Nachts am Küchenfensterbrett und kann sich über Stunden mit Wörtern plagen, die nicht so sind, wie er sie haben möchte. Ab und zu spricht er von einem „depressiven Intermezzo“, in dem er sich befindet, wenn er sich nicht vorstellen kann, wie die Zukunft für ihn aussehen wird.
Aber das Wunder geschieht: er erhält 2005 nach langen Jahren für seinen ersten geglückten Roman den deutschen Buchpreis!

Mit sensiblem Blick und wachen Geist beobachtet Geiger seinen eigenen Aufstieg, und er berichtet natürlich auch von seinem steten Wechsel vom erfolgreichen Schriftsteller zu seinem geheimen Glück, dem Lumpensammlerleben. Seine lieb gewordenen Streifzüge durch den Wiener Papierabfall gibt er beileibe nicht auf! Da kann man dann Bilder finden, in denen er sich ausmalt, wie Paparazzi ihn mit aus der Mülltonne herausragenden Beinen finden könnten. Wilhelm Busch lässt grüßen! Die Fähigkeit zur Reflexion aller an sich beobachteten skurrilen Anwandlungen ist unübertroffen und zeugt von seinem hervorragenden Erkenntnisvermögen, das eine gewisse Distanz zu sich selber ahnen lässt.

Ich, die Leserin, kann mich von den Sätzen und Worten und den alles hinterfragenden Gedanken nicht lösen. Seine Ehrlichkeit und auch die Zärtlichkeit, die er seinen alternden und kranken Eltern entgegenbringt, rühren ans Herz! Es geschehen immer wieder Ereignisse, die den Leser schmunzeln lassen. Auch ist man fasziniert von seiner Fähigkeit, Frauen zu finden, die ihm in ihrem Autonomiestreben in nichts nachstehen.

Arno Geiger ist ein passionierter Schreiber, der sein Publikum zu fesseln weiß. Eine vergleichbare Offenheit, ungekünstelt im wahrsten Sinne des Wortes, kenne ich nicht.
Ein Gewinn für alle, die das wahre Leben in der Literatur gespiegelt finden möchten!

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis
241 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Januar 2023
ISBN-10: 3446276173
ISBN-13: 978-3446276178
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Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

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Wer weiß schon, was in einem Menschen vorgeht, der langsam sein Gedächtnis verliert? Arno Geiger hat es erfahren und in eine literarische Form gebracht, die anrührend, klar und feinfühlig an die Geschichte seines Vaters heranführt.

Zuerst noch unbemerkt, tastend und irritierend bemerkt der Sohn Veränderungen im Verhalten des Vaters, die er nicht deuten kann. Er verbessert Sätze, wenn sie wirr erscheinen und versucht dem Vater auf die Sprünge zu helfen bei Fehleinschätzungen und Erinnerungslücken. Doch eines Tages dämmert dem Sohn, dass der Vater die Realität nicht mit den gleichen Augen sieht wie er selber. Er muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass sich der Geist des Vaters verändert, und er sein Leben aus dem Griff zu verlieren droht. Mit wachen Sinnen und einfühlsamem Bemühen lernt der Sohn, den Vater in seiner sich stetig verändernden Andersartigkeit zu akzeptieren. Die oft wiederholte Phrase „ich will nach Hause“ bringt Arno Geiger zu der Erkenntnis, dass „Zu Hause sein“ ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Geborgenheit und Vertrautheit ist, das sich nicht zuletzt in der Religion mit dem Begriff des Himmelreichs bezeichnen lässt.

Feinsinnig und nachdenklich folgt Arno Geiger den Veränderungen im Verhalten seines Vaters und lässt noch einmal dessen Herkunft Revue passieren. Das karge Dasein eines Buben aus einer kinderreichen aber armen Familie lassen nicht viele Hoffnungen und Illusionen auf kommendes Glück zu.

Als der siebenunddreißigjährige Vater eine viel jüngere Lehrerin heiratete, waren beider Erwartungen an die Ehe und das Familienglück so diametral gegensätzlich, dass das Ende dieser Ehe geradezu vorprogrammiert schien. Sie überdauert nur die Zeit des Heranwachsens der Kinder.

Gut erinnert sich Arno Geiger an die eigene Kinderzeit, die Großeltern und die Atmosphäre im Haus und an den fleißigen und arbeitsamen Vater in seiner Rolle als kleiner Beamter in dem Ort Wolfurt in Österreich. Die Natur und erhabene Landschaft mit Blick auf den fernen Bodensee sind wiederholt Anknüpfungspunkte für Arno Geigers eigene Heimatbetrachtungen. Wohltuend steht er in seinen Erinnerungen an den Vater hinter diesem zurück und spiegelt nur seine Gefühle im Wandel zu dem an Demenz erkrankten Vater. Ein anrührendes Stück Literatur zeigt eine Vater-Sohn-Beziehung, die den Sohn zurück zu seinen Wurzeln führt und zu einem Vater, dem er sich lange entfremdet sah. Versöhnlich und liebevoll begleitet er mit wachen Sinnen dessen langsames Verlöschen aus der Gegenwart und aus den Bezügen der Vergangenheit. Wie tröstlich ist das Wiedererkennen der Charakterstrukturen des Vaters auch in seinen trüben Stunden!

Arno Geiger zeigt ein hervorragendes Talent, sich den Gefühlen zu stellen und sie in Worte zu fassen, die ihn zurück zum Vater seiner Kindheit führen und zu dem aus der Welt verschwindenden alten Menschen, der ihm wieder so nahe gekommen ist.

Arno Geiger
Der alte König in seinem Exil
192 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, 13. Auflage November 2012
ISBN-10: 3423141549
ISBN-13: 978-3423141543
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Annie Ernaux: Der junge Mann

Annie Ernaux: Der junge Mann

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Mit dem neuesten Buch von Annie Ernaux erfahren wir eine weitere kleine Episode aus ihrem Leben. Andere hat sie schon in ihren vorangegangenen Büchern thematisiert.

Wie Mosaiksteinchen kommen sie einem vor. Nicht die große Biographie ist ihr Metier, sondern Einzelheiten, in denen sie mikroskopisch sezierend in der Welt der Werte und Moral nach ihrem Platz im Leben sucht.

Mit 54 Jahren hat sie ein leidenschaftliches Verhältnis mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten.
Durch die Beziehung zu dem so viel jüngeren Mann erinnert sie sich an ihre eigene Zeit noch als armes Mädchen und Studentin. Die Reaktionen der Umwelt und so vieles mehr werden minutiös beschrieben. Bösartige Blicke in Kaffees und Restaurants und Argwohn bei den gemeinsamen Auftritten in der Öffentlichkeit wecken ihre Aufmerksamkeit.
Sie war so lange das skandalöse Mädchen! Damit ist es nun vorbei!
Doch sie sieht bereits die kommende Trennung.

Es gibt zahlreiche Momente, von denen er nichts weiß, und in denen sie ihm weit voraus ist: Studentin sein, arm sein, eine Abtreibung im Visier mit der Trauer und der Einsamkeit, die sie dabei erfahren hat. Als sie ihm ein Bild zeigt von sich als junger Frau, wird er traurig. Er kennt sie doch JETZT und will nichts von ihrem vergangenen Leben wissen.

In Gedanken ist sie bei einem neuen Buch, das sie schreiben wird. Sie reflektiert jedes Detail ihres Daseins, sieht, wie die Momente vergehen und ihr Leben sich in Wiederholungen verliert.
Mit der Abtreibung, an deren Darstellung sie schreibt, beginnt die innere Ablösung von A.

Sex, Lust, Begehren und Schreiben verschwimmen zu einem gemeinsamen Prozess. Mit dem Ende des Buches ist das Ende der Beziehung in ihren Augen vorprogrammiert.

Hier wird wieder nur eine Episode beschrieben, in der Annie Ernaux erneut ihr Leben reflektiert.
Für die Lektüre dieses schmalen Bandes braucht es nur knapp zwei Stunden.
Fasziniert legt man das Buch zur Seite. Wieder ein gelungenes Stück Erinnerung mit tiefenscharfem Blick!
Im Grunde hat sie beim Schreiben immer ihr Leben zum Thema ihrer literarischen Betrachtungen gemacht. Das ist ihr hervorragend gelungen.

Annie Ernaux bekam 2022 den Nobelpreis für Literatur.

Annie Ernaux
Der junge Mann
Suhrkamp Verlag, Januar 2023
48 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3518431102
ISBN-13: 978-3518431108
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Kerstin Holzer: Monascella

Kerstin Holzer: Monascella

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Es war sicher nicht leicht, im Hause von Thomas Mann Kind zu sein! In der vorliegenden Biographie von Kerstin Holzer über Monika Mann wird das sehr deutlich.

Sechs Kinder hatten Thomas Mann und seine Frau Katia. Im Abstand von jeweils einigen Jahren kamen kurz hintereinander ein Junge und ein Mädchen zur Welt.

Über die Familie des berühmten Schriftstellers und über seine Kinder gibt es zahlreiche Bücher. Man weiss, dass die sechs Kinder unterschiedliche Begabungen hatten und unterschiedliche Lebenswege beschritten.

Am wenigsten bekannt war bisher Monika Mann, das vierte der sechs Mannkinder. Sie galt als Sonderling und trat wenig in Erscheinung. Bei der Flucht aus Europa 1940 während des 2.Weltkriegs verlor sie ihren Mann bei einem Schiffsuntergang, den sie überlebte.
Fortan und schon in ihrer frühen Kindheit galt sie als lästig. Als Jahre nach ihr noch Elisabeth geboren wurde, beschreibt Monika selber diesen Augenblick als „das Ende ihrer Kindheit“. Die Mutter mochte Monika schier gar nicht um sich haben. Nach einem Besuch 1953 schreibt Katia über sie, dass sie als Hausgast „unvorstellbar in ihrer Muffigkeit“ sei. Man ging sich lieber aus dem Wege.

Kerstin Holzer hat sich verdienstvoller Weise dieser Tochter von Thomas und Katia Mann angenommen und ihren Lebensweg nachgezeichnet.

Niemand liebte die Tochter/ Schwester wirklich. Erika und Klaus waren exzentrisch und brillierten in der Öffentlichkeit, Golo wurde Historiker, Elisabeth, das vom Vater besonders geliebte „Kindchen“, hatte als einzige wohl eine fröhliche und unbeschwerte Lebensart; Michael wurde Musiker und schenkte dem Vater den geliebten Enkel Frido.
Wo aber blieb Monika?

Kerstin Holzer beschreibt ein Leben, das unausgefüllt und chaotisch war.
Die Geschwisterzahl, der ruhebedürftige Vater und eine lieblose Mutter hatten ihr eine unglückliche Kindheit beschert. Sie irrt durchs Leben, schreibt kleine Feuilletons, die vom berühmten Vater nicht besonders wohlwollend beurteilt werden und will zwischendurch Pianistin werden. Alle ihre Vorhaben scheitern. Sie wird von der Familie als faul, träge, antriebsarm und lästig empfunden.

Bezugnehmend auf die Analytikerin Karen Horney kann Kerstin Holzer überzeugend darlegen, dass Monika von Beginn ihres Lebens an ungeliebt, vielleicht sogar unwillkommen, an einem tiefen Entwicklungsdefizit litt, dass sie zur Außenseiterin in der Familie verdammte.
Als sie nach langen Jahren schließlich Capri für sich als lebenslänglichen Aufenthaltsort entdeckte, dazu in Antonio Spadaro einen liebevollen Lebensgefährten, konnte sie endlich zur Ruhe kommen.

Karin Holzer hat einen offenen und unvoreingenommenen Blick auf Monika. Sie beschreibt sie mit Empathie und Einfühlungsvermögen. Monika hat ihren Außenseiterstatus erkannt und beklagt. Mit ihrem Aufenthalt auf Capri fand sie endlich Ruhe.

Das Bild dieser außergewöhnlichen Familie, die in der literarischen Welt durch den Schriftsteller Thomas Mann Berühmtheit erlangte, ist immer wieder spannend. Familien aber sind zu allen Zeiten im Bemühen um Einigkeit sehr häufig zum Scheitern verurteilt. In der Literatur gibt es zahlreiche Beispiele dafür.

Das Quellenverzeichnis ist aufschlussreich und zeigt die Sorgfalt, mit der das Buch konzipiert ist.

Eine klare Empfehlung!

Kerstin Holzer
Monascella
208 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, 2. Auflage, November 2022
ISBN-10: 3423290420
ISBN-13: 978-3423290425
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Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

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Ehen können die Hölle sein!

Im vorliegenden biographischen Roman bekommt man eine Ahnung davon.
Alex Schulman, der Autor, hat sich auf die Suche nach den Ursachen für seine Eheschwierigkeiten gemacht.
Der Satz seiner Frau:“ Ich weiß nicht, wie oft ich das noch ertragen kann “ gab den Anstoß, eine Therapeutin aufzusuchen. Er bemerkt, dass er eine stille Wut in sich trägt, eine Wut, die alles zu zerschlagen droht, was ihm Glück und Freude bedeutet.

Sein Großvater Sven Stolpe scheint ähnliche Symptome aufzuweisen. Er war zu seiner Zeit ein gefeierter Schriftsteller. Mit einer aufschlussreichen Analyse seiner Familiengeschichte kommt Alex den Schwierigkeiten auf die Spur. Anhand von Daten, Schriften, Artikeln und nicht zuletzt von Briefen eröffnet sich ein Familienporträt von einiger Dramatik.

Als Kind hat Alex die Großeltern 1988 besucht. Er erinnert sich, dass eine latente Wut vom Großvater ausging. Wie ängstlich und unterwürfig wirkte dagegen die Großmutter!
Alex findet heraus, dass Sven Stolpe 1932 kurz nach seiner Hochzeit mit Karin dem Liebesverhältnis seiner Frau mit dem Schriftsteller Olof Lagercrantz auf die Spur gekommen war.
Der Autor weiß diese Liebesgeschichte anrührend und einfühlsam zu beschreiben.

In Olof Lagercrantz hatte Karin einen liebevollen Mann gefunden, mit dem sie innige, heimliche Liebe verband. Längst hatte sie erkannt, dass ihr Mann an einer unstillbaren Wut litt. Sie zeigte sich, wenn er seine Frau bei jeder sich passenden Gelegenheit herabsetzt, diffamiert und kränkt. Auch weiß er die Fluchtversuche seiner Frau mit aller Gewalt zu verhindern. Die Angst vor ihm ist allgegenwärtig.

Im Verlaufe des Romans zeigt sich, wohin Menschen mit abartigen seelischen Störungen abdriften können. Ungelöste Konflikte vermögen in der Folge ganze Familien zu vergiften.
Sven Stolpe wird zum mörderischen Feind seiner eigenen Frau und deren Liebhaber.
Und Olof? Er schreibt seiner Geliebten in vierzig Jahren heimlich 23 Briefe und bleibt ihr in Liebe eng verbunden.

Alex Schulmann hat mit dem Familienporträt schriftstellerisches Können gepaart mit feinem Sinn für die Abgründe des Menschen gezeigt. In ungeahnter Intensität steigert er die Spannung, mit der man zum Zuschauer einer fast kriminellen Erpressung wird.

Tragisch, empathisch und tief berührt muss Alex erkennen, dass sich Zorn in die Seelen auch der Kinder aus dieser Verbindung gefressen hat. Die Zerwürfnisse zwischen den Geschwistern seiner Mutter nehmen folglich nie ein Ende.

Alex Schulman ist eine hervorragende Psychostudie mit dieser als Roman deklarierten Biographie gelungen.
Inzwischen ist er ein in Schweden sehr bekannter und anerkannter Schriftsteller.

Alex Schulman
Verbrenn all meine Briefe
dtv Verlagsgesellschaft, September 2022
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423290374
ISBN-13: 978-3423290371
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