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Kategorie: Belletristik

P.N.Elrod: Vampirdetektiv Jack Fleming

P.N.Elrod: Vampirdetektiv Jack Fleming

Titel: Vampirdetektiv Jack Fleming
Autor: P.N.Elrod
Nosferatu 1402 / Festa-Verlag ( Nov. 2002 )
Amerikanische Orginalausgabe : Blood List (1990)
Übersetzer : Heiko Langhans
Broschiert – 256 Seiten – Festa
Erscheinungsdatum: 2002
ISBN: 3-935822-56-1
Genre : Dark Fantasy
Erhältlich bei Amazon

„Der Wagen hatte mindestens vierzig Meilen drauf, als der vordere rechte Kotflügel mir gegen die linke Hüfte drosch, mich von der Straße schleuderte und als schlaffen Haufen auf einen Busch aus dicken windzersausten Gräsern beförderte.“

So fängt der Roman „Vampirdetektiv Jack Fleming“ von Patricia Nead Elrod an. Er spielt in Chicago Anno 1936. Jack wird angefahren und anschließend erschossen. Doch er stirbt nicht. Er überwältigt seinen Attentäter und reist in den nächstgelegenen Ort.
Nach und nach stellt Jack Fleming seine Andersartigkeit fest. Er ist ein Vampir. Nicht im Spiegel zu sehen, die Nacht verbringt er in einem riesigen Koffer gefüllt mit Heimaterde. Er kann sich entstofflichen, um sich vor Kugeln in Sicherheit zu bringen oder einfach verschlossene Türen zu durchdringen.
Doch seine jüngste Vergangenheit bleibt ihm ein Rätsel. Fest steht, er wurde umgebracht. Eine Mafiagang aus Chicago hatte ihn wegen einer mysteriösen Liste in die Mangel genommen. Details seines Todes, oder der Tage vorher, bleiben im Dunkeln. Nach und nach erinnert er sich.
Einst in New York lebend, hatte der Journalist Jack Fleming eine Liebesbeziehung zu Maureen, die er im Zuge von Recherchen kennen und lieben gelernt hat. Sie ist ein Vampir und lässt ihn zur Ader. Doch nicht aus reinem Hungergefühl, sondern als Höhepunkt einer Leidenschaft. Jack weiß von ihrem Wesen und hofft, nach seinem Ableben ihre Wesensart zu teilen, um sein Leben für immer mit ihr zu verbringen.
Doch Maureen flüchtet, da jemand auf ihre Fährte gefunden hat und sie vernichten möchte. Fünf lange Jahre hat Jack nichts mehr von ihr gehört und beschließt, in Chicago ein neues Leben zu beginnen. Dies gelingt, doch nicht so, wie er es erwartet hatte.
Auf der Suche nach seinen Mördern lernt er Charles Escott kennen, ein Privatdetektiv, der schon immer vom Übersinnlichen fasziniert war. Sie beschließen zusammen zu arbeiten. Escott beginnt die Ermittlungen zu Flemings Fall und stößt schon schnell auf ein Wespennest.

Hatte ich schon erwähnt, ein Fan schwarzer Krimis zu sein? Oder ein Liebhaber von Vampirgeschichten?
Der vorliegende Roman vereinigt Beides. Das Krimigefühl der Al Capone- Zeit, wie es z.B. in den Romanen von Frederic Brown oder Max Allan Collins lebendig wird. Die detailreiche Beschreibung des Lebens der dreißiger Jahre in Amerika, geprägt von Mafiabanden, Glücksspiel und schönen Frauen.
Dazu kommt der Vampir-Mythos. Elrods Vampir schläft am Tag in Heimaterde, da die Sonne der todbringende Feind ist. Er kann seinen Körper verstofflichen, außerdem ist er übermenschlich stark und schnell. Normale Waffen können ihn nicht töten, nur das gespitzte Eichenholz in sein Herz, oder fließendes Wasser können ihm neben dem Tageslicht den Garaus machen.
P.N.Elrod schafft es mühelos, den Leser in seinen Bann zu ziehen. Es fällt schwer, den Roman zur Seite zu legen und die lebendig gewordene Welt eines imaginären Chicagos zu verlassen. Fleming ist kein Supervampir, sondern ein normaler Mensch, der sich seiner Fähigkeiten erst nach und nach bewusst wird. Auch seine Gegner sind normale Menschen, soweit man das von gnadenlosen Mördern behaupten kann.
Die gelungene Mischung aus Schwarzem Krimi und Vampirgeschichte macht Lust auf mehr. Eine erfrischende Abwechslung zu den üblichen Geschichten, in denen es um die Rettung oder Veränderung der Welt geht.

Fazit : Mich hat der Roman beeindruckt, für Liebhaber realitätsnaher Geschichten ein unbedingtes Muss. Es besteht Suchtgefahr. Wer jedoch auf der Suche nach Superlativen ist, in dem die Bösen immer mächtiger und fremdartiger werden, sollte vielleicht die Finger von „Jack Fleming“ lassen.
Einziges Manko ist die Gutartigkeit des Jack Flemings. Ein wenig mehr Undurchsichtigkeit, einen nicht ganz so aufrichtigen Charakter, hätte meiner Meinung nach besser gepasst. So wird dem Leser Jack schon fast zu sympathisch.
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Tim Parks: Doppelleben

Tim Parks: Doppelleben

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Richter Savage kann sich glücklich schätzen. Er ist seit zwanzig Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Auf der Karriereleiter ist er trotz seiner dunklen Hautfarbe ganz oben angekommen oder vielmehr deshalb. Endlich erfüllt sich auch der Traum vom eigenen standesgemäßen Haus. Richter Savage ist nun in einem Alter, in dem er etwas ruhiger angehen lassen will, wenigstens nach außen hin und vor allem vor seine Frau, die zumindest die Seitensprünge, die er gestanden hat, großzügig vergessen will. Doch daraus wird nichts. Eine verflossene Geliebte taucht auf, bittet ihn um Hilfe. Und Hilfsbereitschaft kann man Richter Savage nun wirklich nicht absprechen. Er ist kein Drückeberger. Aber hier hätte er sich besser raushalten sollen. Ehe er weiß, wie ihm geschieht, landet er zusammengeschlagen im Krankenhaus. Seiner Frau und auch der Polizei ist er einige Antworten schuldig. Sein Doppelleben fliegt auf. Und dann geraten auch noch brisante Informationen an die Presse. Aus dem mächtigen Mann wird ein Lüstling. Richter Savage lernt nicht aus seinen Fehlern, er erkennt sie nicht einmal als solche an. Immer tiefer gerät er in einen Strudel aus seinen Lügen und setzt alles, was ihm wichtig ist aufs Spiel.

Die Geschichte turbulent zu nennen, ist noch untertrieben. Fassungslos liest man vom wahrheitsliebenden Richter, der gleichzeitig ein notorischer Lügner ist. Die Geschichte ist tragisch und sehr menschlich. Trotzdem kann man sich das Schmunzeln beim Lesen nicht verkneifen, schreibt der Autor doch mit viel Ironie und ordentlichen Seitenhieben auf die Ehe und die Gesellschaft.
An den Stil des Buches muss man sich aber erst gewöhnen. Es wird sehr schnell erzählt. Der Autor spart mit Anführungszeichen bei wörtlicher Rede und auflockernden Absätzen. Die Übersetzung wirkt an manchen Stellen etwas eigenartig.

Rezension von Heike Rau

Tim Parks
Doppelleben
440 Seiten, gebunden
Antje Kunstmann Verlag, München
ISBN: 3-88897-323-6

Martin R. Dean: Meine Väter

Martin R. Dean: Meine Väter

Als Roberts Stiefvater Neil gestorben ist, beschließt er mit der Vaterlüge ein Ende zu machen. 40jährig und nun selbst schon Vater will er herausfinden, wer sein leiblicher Vater ist. So viele Jahre hat er dessen Existenz verleugnet, nicht zuletzt weil seine Familie ihn dazu gezwungen hat. Nun will er Licht in das Dunkel seiner Kindheit bringen. Verdrängte Gedanken und Selbstverleugnung haben dazu geführt, dass Robert immer wieder von Krankheiten geplagt wird, denn der fehlende Vater hat in seiner Seele eine Wunde entstehen lassen, die nicht heilen will und ihn immer wieder an Bett fesselt.
Doch Roberts Euphorie wird gebremst, als er seinen Vater in einem Pflegeheim vorfindet, in schlechter Verfassung, der Sprache nicht mehr mächtig.
Es ist wie in einem Alptraum. Roberts Wunsch endlich mehr über seinen Vater und sich selbst zu erfahren, läuft ins Leere.
Aber es gibt noch andere Wege, einen Menschen kennen zu lernen. Und so begibt sich Robert mit seinem Vater auf eine Reise in die Vergangenheit, an Schauplätze, die Erinnerungen wach rufen sollen.

Eine bewegende und aufwühlende Vater-Sohn-Geschichte, in die der Leser sofort hineingezogen wird. Der Autor erzählt sehr ausführlich und mit Feingefühl, so dass die inneren Konflikte der Hauptperson Robert, der nicht länger Sohn eines unbekannten Vaters sein will, sehr gut nachvollziehbar sind.

Rezension von Heike Rau

Martin R. Dean
Meine Väter
Ein Beziehungsdrama zwischen Vater und Sohn
ISBN:3446202668
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Mario Fortunato: Die Liebe bleibt

Mario Fortunato: Die Liebe bleibt

In der schönen Tradition der großen italienischen Erzähler wie N.Ginzburg,
G. Bassani und I.Svevo erzählt uns M.Fortunato die Geschichte einer Familie in einem kleinen Ort in Süditalien.
An einem winterlichen Morgen wird der Kinderarzt Italo Blasi ermordet aufgefunden. Niemand weiß etwas über den Mord, und er bleibt unaufgeklärt. In geheimnisvoller Weise scheint die Familie des Apothekers Elia Sciaki mit der Sache etwas zu tun zu haben. Aber viel erfahren wir nicht.
Elia wurde zwar der Prozess gemacht, da man ihn des Mordes verdächtigte. Aber er wird mangels Beweises freigesprochen.
Anna, Tochter von Lea und Elia Sciaki, ist merkwürdigerweise neun Monate nach der Ermordung des Kinderarztes geboren.
Viel später dann hat Anna offensichtlich eine Affäre mit ihrem Schwager. Bekam sie ein Kind von ihm?
So vieles bleibt nur angedeutet und ungesagt! Das aber macht den geheimen Reiz des Buches aus: der LeserIn kann die eigene Phantasie bemühen und darf selber seine Schlüsse aus dem ganzen Geschehen ziehen.
Aus unterschiedlichen Perspektiven, mal der des unbekannten Erzählers, mal der von Anna, der jüngsten Tochter von Elia und Lea, und mal eines Neffen von Anna, –ist der möglicherweise ihr Sohn ?—ersteht vor uns die Welt einer zahlreichen Familie mit Großeltern, Geschwistern, Onkeln, Tanten und Neffen. Ferien in den Bergen und Baden am Meer wechseln ab mit Begegnungen und Festen.
Nicht ganz erklärlich sind zuweilen die Beziehungen der verschiedenen Personen untereinander, denn auch Freunde tauchen gelegentlich auf. Es stellt sich jedoch heraus, daß das letztendlich unwichtig ist.
Es geht um die Liebe, um die Beständigkeit von Familienbeziehungen, um erotische Anziehung, Abhängigkeiten und unerfüllte Sehnsüchte, die den Ton bestimmen. Dazu verspürt der Leser die Luft, die Landschaft, das kleinbürgerlich enge Leben, aber auch die Weite und Kultur italienischen Lebens. Die untergründige Spannung, mit der ich auf Enthüllungen wartete, die Klarheit in die von einem Kriminalfall ausgehende Handlung bringen könnte, löste sich allmählich auf; für die Erzählung ist die Aufklärung des Falles am Ende gar nicht so wichtig, sondern wichtig ist die tiefe Anhänglichkeit innerhalb der Familie, die erlebte Gemeinsamkeit, und am Ende die Lösung von Bindungen, die das Alter und der Tod mit sich bringt. So erscheint die Erzählung gleichsam wie eine Parabel auf das Leben.
Die Geschichte ist meisterhaft erzählt. Kenner und Liebhaber Italiens sollten sie sich nicht entgehen lassen!
Claudine Borries

Mario Fortunato
Die Liebe bleibt
Eine delikate Familien- und Kriminalgeschichte
ISBN:3803131766
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Lorna Landvik: Patty Jane’s Frisörsalon

Lorna Landvik: Patty Jane’s Frisörsalon

Patty Jane ist jung und voller Pläne für die Zukunft. Aber als sie hochschwanger ist, verlässt ihr Mann Thor sie ohne Vorwarnung. Patty Jane ist verzweifelt, aber sie bekommt Hilfe von ihrer Schwester Harriet und ihrer Schwiegermutter Ione, die ihren Sohn auch nicht verstehen kann. Trotz der Hilfe eines Privatdetektivs bleibt Thor spurlos verschwunden
Die traurigen Zeiten verlieren ihren Schrecken, als Harriet Avel kennen lernt, der wirklich in jeder Hinsicht eine gute Partie ist. Aber auch bei Harriet währt das Glück nur, bis Avel bei einem Flugzeugabsturz kurz vor der Hochzeit ums Leben kommt.
Trotz der schwierigen Situation geben die Frauen nicht auf und bauen sich mit einem besonderen Frisörsalon eine Existenz auf. Die „Flotte Locke“ wird bald der Mittelpunkt für die Frauen des gesamten Ortes und vertreibt Einsamkeit und Trauer ein wenig.
Doch das Leben ist alles andere als einfach. Harriet kann nicht vergessen, verzweifelt fast an ihrer schwierigen Situation und will sich nicht mehr helfen lassen. Mehr denn je ist die jahrelange freundschaftliche und familiäre Verbundenheit der Frauen gefragt.

Ein Buch, dass sich nicht so leicht in eine Schublade stecken lässt. Es ist eine Familientragödie, eine Liebesgeschichte, ein Frauenroman. Ein Buch das berührt, zu Tränen rührt, aufwühlt und trotzdem mit einem gewissen Humor geschrieben ist.

Rezension von Heike Rau

Lorna Landvik
Patty Jane’s Frisörsalon
Über das Leben und seine Stolpersteine
ISBN:3492235441
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Martin Page: Antoine oder die Idiotie

Martin Page: Antoine oder die Idiotie

Martin Page Antoine oder die Idiotie Wagenbach ISBN 3 8031 31677
S.135

Martin Page, Jahrgang 1975, hat mit der vorliegenden Erzählung eine äußerst geistreiche, hintergündige Geschichte über die Abgründe des menschlichen Daseins und Denkens vorgelegt.
Wer hat nicht schon mal daran gedacht, daß zu viel Denken , Wissen und Verstehen zu Vereinzelung, Außenseitertum und folgerichtig zu Isolation führen kann?
Hier versucht einer, diesem Teufelskreis des Daseins als Wissender und Intellektueller zu entkommen.
Atoine ist der Protagonist der Geschichte. Seine Familie stammte zur Hälfte aus Burma. Seine Großeltern väterlicherseits waren in den dreißiger Jahren nach Frankreich gekommen auf den Spuren einer Vorfahrin , die 700 Jahre zuvor Europa entdeckt hatte! Schon dieses klingt, als stünde die Welt auf dem Kopf.
Seine Mutter war Bretonin und Strandaufseherin des Umweltministeriums.
Im Alter von 18 Jahren hat Antoine seine liebevollen und fürsorglichen Eltern verlassen, um in der Haupstadt sein Glück zu suchen. Da er vorurteilsfrei und von wachem Verstand ist, bleibt er unter den Massen ein Heimatloser.
Sein bester Freund Aslee hat als Säugling als Versuchsobjekt für neue Babynahrung von Nestlé gedient, die mit Phosphor angereichert war. Nun läuft er nachst leuchtend durch die Welt.
Ein anderer Kumpel, Nachbar im achten Stockwerk seines Wohnhauses, trägt ihn die Treppe hinauf , da Antoine zu unsportlich ist, um die acht Stockwerke immer zu schaffen.
Antoine verdient sich das Geld für die Miete seiner schlichten Wohnung mit der Übersetzungsarbeit an der Suche nach der verlorenen Zeit ins Aramäische. Der Verlag geht leider Pleite, womit seine Geldquelle versiegt.
Die Mietzahlungen kann er einstellen, da der Vermieter an Alzheimer leidet.
Im Konflikt zwischen dem Versuch, ein unmoralischer, der Welt angepasster Mensch zu werden und sich um den Vermieter zu kümmern, entscheidet er sich für letzteres. Dieser Konflikt setzt sich fort. Mal bangt Antoine um den wissenschaftlichen Frotschritt zu Heilung für Herrn Brallaire, mal sorgt er sich, daß damit seine Finanzmisere offenkundig würde.
Um von seinem Verstand loszukommen, der ihn “ arm, ledig und deprimiert sein läßt“,versucht Antoine sich zuerst als Alkoholiker, besucht danach eine Schule zum Erlernen des Selbstmordes, um sich schließlich ganz der Aufgabe zu widmen, das eigene Denken aufzugeben und sich der Idiotie zu verschreiben. Ein Hilfsmittel bei diesem Vorhaben ist die von seinem Kinderarzt verordnete Medizin Heurozack. Damit gelingt es ihm , die Welt gelassener und ruhiger zu betrachten , und nicht alles und jedes Ding zu hinterfragen.
Er sucht ein Fitneßstudio auf, pflegt sein Äußeres und wird mehr und mehr zum Durchschnittsbürger, bis er zuletzt als Krönung seiner Laufbahn zum Börsenmakler wird.
Am Ende wirdwird die Geschiche ein wenig irreal. Der Autor kann die kultivierte und feinsinnig-skurrile Erzählung nicht bis zum Ende durchhalten.

In Ansätzen aber hat er uns die Welt gezeigt , wie sie ist: voller Widersprüche, Ungereimtheiten, Ungleichheit. Arm und reich und klug und dumm: beide Seiten des Lebens bestehen nebeneinander . Keine Seite ist ohne die andere denkbar.
Alles läuft darauf hinaus, den Sinn des Lebens zu ergründen, der aber nicht zu finden ist.

In wahren Gedanken-und Wortkaskaden und mit einem kunstfertigen Sprachgberauch wird die Welt von Antoine, und damit unsere Welt, in diesem Buch beschrieben. Nicht in gleichmäßigem Fluß verläuft die Erzählung, sondern versetzt mit den satirischen, überzeichneten Selbst-und Fremdbeobachtungen des Antoine erleben wir die Widersprüche und Irrwitzigkeiten, mit denen das Leben ausgestattet ist.
Das Buch ist heiter, voll spritziger Komik, philosophisch und hintergründig und bereitet einen großen Spaß beim Lesen.
Claudine Borries
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Günter Grass: Im Krebsgang

Günter Grass: Im Krebsgang

Rückwärts krebsen, um Voranzukommen

Günter Grass‘ „Im Krebsgang“

In seinem neuen Roman beschreibt Nobelpreisträger Günter Grass die größte zivile Schifffahrtskatastrophe – größer noch als die der Titanic. 9.000 Menschen, schätzt man, starben am 30. Januar 1945 in der eiskalten See vor Stolpermünde. Kritiker werfen Grass jetzt vor, mittels seiner Novelle das Leid der Holocaust-Opfer und -Überlebenden zu relativieren und die „Transformation einer Täter- in eine Opfergesellschaft“ zu betreiben. Denn: Bei den Toten handelt es sich um Deutsche auf der Flucht vor den Russen gegen Ende des 2. Weltkrieges.

Der Ich-Erzähler, Journalist, der sich hier in fremden Auftrag an die Arbeit macht, das Schicksal des ehemaligen Passagier- und Ferienschiffes „Wilhelm Gustloff“ zu beschreiben, hat wenig Lust, die alte, eigentlich vergessene Geschichte von der Schiffskatastrophe aufzugreifen. Viel zu sehr ist die Katastrophe Teil seines eigenen Lebens, denn sie ist auch die Geschichte seines Lebens: Geboren, in dem Moment, wo die Torpedos des sowjetischen U-Bootes die „Wilhelm Gustloff“ zerfetzen. Immer wieder hat er seine Lebensgeschichte aus dem Mund seiner Mutter Tulla Pokriefke – Lesern der Danziger Trilogie bestens bekannt – hören müssen.

Wenngleich widerwillig begibt sich der Ich-Erzähler doch auf Recherche und stößt im Internet auf die Homepage www.blutzeuge.de der Schweriner Kameradschaft. Er verfolgt fasziniert, aber mit der Distanz des Alters den Chat zwischen dem (angeblichen) Juden David und dem jungen Neonazi und nähert sich „im Krebsgang“ den Ereignissen vom 30. Januar 1945 und ihren Protagonisten.

So wird nicht nur die Geschichte des Flüchtlings Tulla Pokriefke erzählt, auch die Biographien des sowjetischen U-Boot Kapitäns Alexander Marinesko, der drei Stalin gewidmete Torpedos auf die „Wilhelm Gustloff“ abfeuert, von Namensgeber Wilhelm Gustloff selbst und natürlich von dessen Mörder, dem Juden David Frankfurter, der am 4. Februar 1936 vier gezielte und tödliche Schüsse auf Gustloff abgibt, werden aufgerollt.

Frankfurter wollte mit dem Mord an Gustloff allen Juden ein Zeichen setzen: Gegenwehr ist möglich. Tatsächlich aber hat er Gustloff, seinerzeit in der Schweiz für die NSDAP tätig, dadurch zum Blutzeugen gemacht, dessen Namen nun ein „Kraft-durch-Freude“ Ferienschiff zieren darf, das später zunächst zum Lazarett- und schließlich zum Kasernenschiff umgerüstet wird. So sterben am 30. Januar 1945 nicht nur Tausende von Flüchtlingen – darunter viele Kinder – , sondern auch Kriegsverwundete und Marinehelferinnen.

Ständig „im Krebsgang“ zwischen Gegenwart und Vergangenheit will der Erzähler sich ganz „an Bord der ‚Gustloff‘ denken“, um die Katastrophe vor den Augen seiner Leser lebendig werden zu lassen. Dabei zeigt sich, dass die Katastrophe – mit fatalen Folgen – bis in die Gegenwart hineinwirkt. Der Betreiber der Homepage www.blutzeuge.de ist kein geringerer als des Ich-Erzählers eigener Sohn Konny, Enkel der Tulla Pokriefke und von ihr ebenso willig wie detailliert, subjektiv und „bis zum Geht-Nicht-Mehr“ mit der Geschichte der „Gustloff“ abgefüttert. Dabei ist Konny kein tumber Schläger. Dennoch kommt es vor dem verwitterten, quasi nicht mehr existenten, Gedenkstein für Wilhelm Gustloff in dessen Heimatstadt Schwerin, wo auch Tulla sich nach Ende des Krieges niedergelassen hat, zum Showdown.
Konny trifft sich dort mit seinem Chatpartner, dem Juden David, und erschießt ihn kurzerhand. Es kommt zum Prozess – zu dem vor Gericht und zu dem Prozess der inneren Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit seiner Rolle als Vater.

Gerade dass die Problematik der jugendlichen Rechtsradikalität bei Grass so sehr ins Private geholt wird und in einem Mord kulminiert, lässt „Im Krebsgang“ recht konstruiert erscheinen. Es wirkt aufgesetzt und als wolle Grass mit aller Macht den Bezug zur Gegenwart herstellen. Die Figur Konny bleibt blutarm – noch viel mehr aber die seines virtuellen Gegenspielers David, der natürlich kein Jude ist, sich aber in starkem Maße mit dieser Opferrolle identifiziert hat. Hier wird angedeutet, dass das permanente Darstellen der Deutschen in Schule und Elternhaus als Volk von Tätern nicht zwangsläufig zum Nazisein führen muss, sondern auch die umgekehrte Wirkung haben kann. Die Identifizierung mit den Opfern als Negation der eigenen nationalen Herkunft?

Der Stil in „Im Krebsgang“ ist sehr betulich, belehrend und antiquiert. Unendliche Kommasätze prägten zwar auch schon „Katz und Maus“ oder die „Blechtrommel“, aber im Gegensatz zu diesen Werken gelingt es Grass dieses Mal nicht trotz verschachtelter Sätze eine Atmosphäre und Figuren zu gestalten, die überzeugen und in den Bann ziehen. Originelle Metaphern, Bilder und Vergleiche – all das fehlt „Im Krebsgang“.

Pathetisch wird der Erzählgestus, wenn Grass sich als Auftraggeber des Ich-Erzählers ins Spiel bringt und sich selbst als „der Alte“ charakterisiert, der über seine Rolle als – in Danzig geborener – Schriftsteller selbst sagt: „Eigentlich (…) müsse jeder Handlungsstrang, der mit der Stadt Danzig und deren Umgebung verknüpft oder locker verbunden sei, seine Sache sein.“ Fast bekennerhaft geht es weiter: „Niemals hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen.“

Genau das aber, dass nämlich Grass nun dieses Thema zu seinem gemacht hat, wird ihm, wie etwa im Stern und Spiegel nachzulesen war, zum Vorwurf gemacht. Grass größte Kritiker werfen ihm (und anderen Autoren) vor, die „Transformation der Täter- in eine Opfergesellschaft“ zu betreiben und das Leid der Holocaust-Opfer und -Überlebenden mit derlei Schriften zu relativieren.

Damit aber macht man es sich zu einfach. Grass berichtet nicht nur von den mehreren tausend Toten unter den Flüchtlingen und Kindern, sondern weist immer wieder auch darauf hin, dass auch militärisches Personal – Marinehelferinnen, Kriegsverwundete und ein Militärkapitän – an Bord waren und dass die „Wilhelm Gustloff“ nicht eindeutig als ziviles Schiff zu erkennen gewesen sei, da sie ja im Kriegsverlauf zu einem Kasernenschiff umgerüstet worden war. Auch hat Walter Kempowski mittlerweile darauf aufmerksam gemacht, dass er bereits 1993 mit „Das Echolot“ ein „kollektives Tagebuch“ verfasst habe, dass auf etwa 100 Seiten das Schicksal der „Wilhelm Gustloff“ behandelt. Dennoch hat es eben erst die Person des Nobelpreisträgers Grass geschafft, diese Problematik so vehement ins öffentliche Bewußtsein zu bringen.

Was bleibt, ist das Gefühl, dass hier ein Autor versucht, seine – echt empfundene oder nur künstlerisch-intellektuell konstruierte – Mitschuld am Aufkommen neonazistischen Gedankenguts zu verarbeiten, wie es durchaus legitim ist. Das hat Literatur schon immer getan. Lösungen bietet „Im Krebsgang“ aber nicht. Trotz aller sprachlichen, erzähltechnischen und die Konstruktion betreffende Kritik, die Grass und „Im Krebsgang“ immer wieder vorgehalten wird, hat es die Novelle doch geschafft, eine Diskussion loszutreten, die „die Deutschen“ ein Mal mehr auffordert, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das ist vielleicht nicht das Geringste, was ein literarisches Werk schaffen kann.

Günter Grass
Im Krebsgang
Günter Grass krebst im Rückwärtsgang, um Voranzukommen – Die Deutschen und ihre Vergangenheitsbewältigung
ISBN:3882438002
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