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Schlagwort: Geschichte

Joseph Roth: Hiob

Joseph Roth: Hiob

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Es gilt in dem vorliegenden Roman von Joseph Roth einen der großartigsten Schriftsteller der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts aus dem jüdischen Milieu Ostgaliziens neu zu entdecken oder wiederzuentdecken.

Der LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag hat den Roman neu aufgelegt und damit in den Blick des geneigten Lesepublikums gerückt.

Hiob, die biblische Leidensfigur des Alten Testamentes, findet sich in der Figur des Mendel Singer im Roman wieder. Er ist jüdisch-orthodoxer Thoralehrer in einem fiktiven Dorf in Ostgalizien.

Man fühlt sich sofort in die ärmliche Schule mit dem frommen Rabbi versetzt, wenn man die ersten Zeilen liest. Mendels Frau und seine drei Söhne mit der Tochter Miriam gehören als Familie dazu.
Das Leben ist karg und die Lebensbedingungen hart.
Der jüngste Sohn Menuchim ist zudem ein Krüppel, der nicht recht gedeihen will.

Mendel Singer muss viel Leid erfahren in seinem Leben. Ein Sohn geht zum Militär, der andere entzieht sich und wandert aus nach Amerika. Miriam aber lässt sich mit den Soldaten ein und bringt Schande über ihn.

Schließlich wird Mendel mit Frau und Tochter von seinem Sohn Schemarjah, der sich jetzt Sam nennt, für ein besseres Leben nach Amerika geholt. Menuchim müssen sie zurücklassen.

Der erste Teil des Romans ist ganz der Atmosphäre im Schtetl gewidmet. Nachbarn, Freunde und die kleinen Freuden des Alltags sind bildreich beschrieben. Man hört viel Wehklagen und Seufzen aus dem Werk. Deborah führt den Haushalt, und Mendel beklagt sein Schicksal, das ihm in Gestalt seiner vier Kinder so viel Kummer verursacht.

Im zweiten Teil folgt der große Aufbruch nach Amerika!

Amerika ist so ganz anders als das bisherige Leben der beiden Alten! Sie können sich an die neue Umgebung und das aufstrebende Land mit seinem hektischen Gebaren nur schwer gewöhnen. Als Deborah vor Gram stirbt, und Miriam einen psychischen Zusammenbruch erleidet, bleibt Mendel alleine im Hause seines Sohnes Sam zurück. Sehnsucht und Schuldgefühle gegenüber dem Sohn Menuchim bedrücken sein Gemüt. Er wird schließlich im Angesicht des vielen Unglücks von Glaubenszweifeln geplagt, auch darin dem biblischen Hiob gleich.

In großen Zügen ist das die Geschichte. Nur andeutungsweise wiedergeben kann man die wunderbaren Worte, die fast an biblische Texte erinnern, mit denen Joseph Roth seine Erzählung aufzeichnet. Es ist eine archaische Sprache, in der von Impressionen die Rede ist, die das Seelenleben verdüstern. In eindrucksvollen Satzgebilden werden Stimmungen, Geräusche und Gerüche nachvollziehbar. Die seelischen Erschütterungen und Überraschungen sind so anrührend, dass man unwillkürlich mitfühlt.

Der Erzählstil bleibt vielseitig, einfach und prägnant; alleine die Figuren und hier besonders Mendel in seiner ganzen menschlichen Hilflosigkeit, dem Schicksal ausgeliefert, geben das Geschehen wieder.

Zum Ende hin ereignet sich ein unglaubliches Wunder!

Der letzte Satz des Erzählers versinnbildlicht die Art der Darstellung sehr genau: „Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder“.
Dem ist nichts hinzuzufügen.

Joseph Roth starb 1939 mit 44 Jahren in Paris auf der Flucht vor den Nazis vermutlich an Alkoholsucht.

Joseph Roth
Hiob
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag, April 2022
120 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3965425714
ISBN-13: 978-3965425712
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Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

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In dem vorliegenden Roman von Susanne Abel geht es um die Familie Monderath. Sie ist durch vielfältige Verstrickungen eine wahre Schicksalsfamilie!

Das Paar Gretchen und Konrad sind die Hauptakteure.
Gretchen war mit Konrad Monderath verheiratet. Im Jahr 2016 ist er schon lange tot, und sie ist alt und dement. Tom, der gemeinsame Sohn, ist 47 Jahre alt. Er lebt und liebt in Köln, wo er eines Tages Besuch von einem Halbbruder erhält. Er wusste nicht, dass es ihn gibt, hat das aber durch Recherchen herausgefunden. Henk van Dong ist Holländer. Er sieht ihm ähnlich wie ein Zwilling, was zu allerlei Vermutungen im näheren Bekanntenkreis von Tom führt.

Die Autorin lässt die Brüder auf Spurensuche nach dem Vater der beiden gehen.
Nun beginnt in zwei Zeitabschnitten einmal die Geschichte von Tom 2016, und die Geschichte Konrads vom Kind bis zum Soldaten im Zweiten Weltkrieg von 1933-1943.

In dem Roman wird Vergangenheits-und Gegenwartsgeschichte verarbeitet.
1933 beginnt Hitlers Herrschaft mit all’ den Folgen, die jene Jahre prägten: Naziideologie, Judenhass und Verfolgung, Ermordung und Eliminierung Behinderter. Nicht zuletzt folgt der Zweite Weltkrieg. Die Schwester von Konrad, ein mongoloides Mädchen, fällt dem Vernichtungswahn zum Opfer, und Franz, der ältere Bruder von Konrad, fällt 1942 im Krieg.
Konrad wird nach Militärzeit und Gefangenschaft Arzt und findet in Gretchen seine große Liebe. Letztere hat ein verborgenes Geheimnis, dass ihr Leben begleitet und beschwert.

Charaktere unterschiedlicher Mentalität und Geisteshaltung finden sich in den Figuren der Protagonisten wieder.
Vom Nazi bis zum aufgeklärten Nachkriegskind werden alle Seiten vergangener und gegenwärtiger Zeiten berührt.

Die Spannung steigt nach der Hälfte des Romans, als Kinderwunsch und Unfruchtbarkeit an der Realität zu zerbrechen drohen. Die Ärzte Konrad und ein Onkel verstricken sich in Gesetz und Ärzteordnung.

Worum also geht es in diesem Roman?
Ein wenig schleicht sich der Eindruck ein, dass hier die großen Fragen der Menschheitsgeschichte in einen Roman gepackt wurden: Liebe, Betrug, Trauer, Kinderwunsch und Verleugnung, politische Gegensätze und Krieg. Es wird gut erzählt und viel gesprochen. Man kann der Autorin eine fantasiereiche Fabulierkunst nicht absprechen. Die zahlreichen Erzählstränge lassen den Leser*in nicht los, so dass man gebannt dem Suchen nach der Wahrheit folgt.

Der Schreibstil ist schlicht und mit zahlreichen Kraftausdrücken bestückt.
Alles in Allem kann man von einem unterhaltsamen und im Aufbau durchaus spannenden Familienepos sprechen, das sicher viele Liebhaber der leichten Literatur erfreuen wird.

Susanne Abel
Was ich nie gesagt habe
dtv Verlagsgesellschaft, Juni 2022
560 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423290234
ISBN-13: 978-3423290234
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Carolina De Robertis: Perla

Carolina De Robertis: Perla

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Argentiniens Militärdiktatur und die Folgen.

Zu Beginn des Jahres 2001 lebt in Buenos Aires in Argentinien ein junges Mädchen namens Perla. Sie ist eine verwöhnte Tochter aus gutem Hause. Eine dunkle Wolke scheint jedoch das friedfertige Leben mit ihren Eltern zu überschatten. Der Vater ist Marineoffizier. Er ist liebevoll aber unnahbar. Die Mutter ist von betörender Schönheit und leicht exzentrisch.

Inzwischen ist Perla Studentin, und ihre Eltern sind vereist. Eines nachts erscheint in ihrem Wohnzimmer eine unheimliche Figur. Nackt, schwach, durchnässt und nach Brackwasser stinkend liegt ein Mann auf dem Wohnzimmerteppich.
Man weiß nicht: ist hier Fantasie oder Wirklichkeit am Werk?

Rückblickend erleben wir Perla noch einmal in der Schule zusammen mit ihrer liebsten Freundin Romina, die sich eines Tages unerklärlicherweise von ihr abgewandt hat.

Viel ist in ihren Gesprächen mit Freunden und Freundinnen von den „Verschwundenen“ die Rede. Die Zeit der Militärdiktatur von 1976 -1983 hat Spätfolgen hinterlassen, die noch nicht vergessen sind. Tausende von Männern, Brüdern, Frauen und Söhnen wurden damals als Regimegegner abgeholt und tauchten nie wieder auf. Man erfuhr auch nie, wohin sie gekommen waren. Die Mehrzahl wurde auf grausame Art und Weise ermordet.

In diesem Buch verschwimmen die Zeiten vom Vorgestern zum Heute. Perla erkennt erst langsam, in welcher Weise die Militärdiktatur Menschen, ob schuldig oder unschuldig, verfolgt, entführt und aus deren Leben gerissen hat. Frauen gehen nach dem Ende der Diktatur jahrelang mit weißen Kopftüchern demonstrieren, um auf die unhaltbare Vergangenheit aufmerksam zu machen und nach ihren verschwundenen Brüdern, Männern, Schwestern, Müttern und Vätern zu suchen.

In langen Passagen erfährt Perla, welche Bedeutung der nasse Mensch in ihrem Wohnzimmer für ihr Leben bedeutet.

In ihrem Roman verarbeitet Carolina De Robertis die tragischen Umstände, die in Argentinien s. Zt. die ganze Gesellschaft in ein Chaos gestürzt hatte. Waisenkinder aus der Hinterlassenschaft der „Verschwundenen“ wurden häufig von korrupten Militärs und anderen als eigene Kinder angenommen.

Die Geschichte ist dramatisch. In ihr verlieren sich Liebende und andere finden sich wieder.

Die Last und die Bürde ist für manche zu schwer. Auch Perla muss erkennen, dass sie ein falsches Leben geführt hat.

In poetischen und zuweilen visionären und apokalyptischen Bildern beschwört De Robertis die Vergangenheit herauf. Mit ihrem Erzählstil vergegenwärtigt sie das Phänomen einer Grausamkeit, die dramatischer nicht sein könnte.

Perla
Carolina De Robertis
336 Seiten, broschiert
FISCHER Taschenbuch, Juni 2014
ISBN-10: 3596194466
ISBN-13: 978-3596194469
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Thomas Hettche: Pfaueninsel

Thomas Hettche: Pfaueninsel

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Ausflug in die Geschichte einer längst vergangenen Welt…

Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird entzückt sein von der feinen Aufmachung und dem auf edlem Papier geschriebenen Roman. Schon bei den ersten Seiten überkommen einen Erinnerungen an Fontane mit seinen herrlichen Beschreibungen der Mark Brandenburg. Die Pfaueninsel liegt inmitten einer naturnahen Havellandschaft umgeben vom Wasser der Havel. Fauna und Flora nehmen breiten Raum in der Schilderung ein, denn es raschelt vom Schilf, das tief in den See hineinzuwachsen scheint, vom Gezwitscher der Vögel, dem Rauschen der Blätter und dem Wechsel der Jahreszeiten.

Man ahnt die Pracht und Herrlichkeit einer zu Beginn des 19.Jahrhunderts noch wundersamen Beschaulichkeit.

In diesem Gelände blühen neben den realen geschichtlichen Ereignissen mythische Figuren und Erlebnisse.

Preußenkönige haben sich hier einen Landsitz geschaffen, zu dem entsprechendes Personal gehört. Gärtner haben das Gelände urbanisiert und pflegen und hegen die königlichen Gebäude und Gärten. Marie und ihr Bruder Christian sind die hervorgehobenen Figuren, die sich in dieser Landschaft mit ihren bäuerlichen Gewohnheiten wohlfühlen. Beide sind zwergwüchsig und in ihrer Anomalie anziehend für die Leute des Personals und schockierend für die Königin Louise, die Marie als Monster bezeichnet. Gustav verliebt sich in das Schlossfräulein Marie, und sie schaut scheu auf ihn, den groß gewachsenen Gärtnersohn. Sie beherrscht mit ihrem Charme, ihrer besonderen Beobachtungsgabe und teils heiterer und teils melancholischer Gelassenheit das weitere Geschehen.

Die Insel entwickelte sich zu einem Zoo exzotischer Tiere und Planzen, zu denen die kleinwüchsiger Menschen oder Riesen ihren Beitrag leisteten

Mit den Figuren umspielt Th. Hettche seinen Roman über die Geschichte der Pfaueninsel, die uns weit in den Beginn des 19.Jahrhunderts zurückführt. Zwischen Befreiungskriegen und damit einhergehend politischen Umbrüchen aller Art, Gartenkunst und Schlossherrlichkeit erfährt man allerlei Wissenswertes über die Geschichte der Insel und ihrer Herrschaft. Bekannte Namen der Gartenkunst und der Architektur von Schinkel bis zu Lenné tauchen auf und zeigen uns die Baukunst und die Denkmalpflege in ihrer damaligen Pracht. Die Nähe zur Natur und die Verwirrung um die Protagonisten vermitteln uns den Eindruck einer entrückten Welt. Th. Hettche findet jedoch immer wieder auf den Boden der realen Geschichte zurück. Die wahre Geschichte der Pfaueninsel mit ihrer Entstehung und Verwendung bis zu ihrem Untergang wird uns in ästhetischen Bildern nahe gebracht. Poetische Ausflüge in die Naturgegebenheiten sind es, die uns mitreißen!

Diesen wunderschönen Roman kann man uneingeschränkt empfehlen!

Thomas Hettche
Pfauensinsel
352 Seiten, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, August 2014
ISBN-10: 3462045997
ISBN-13: 978-3462045994
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Grégoire Delacourt: Alle meine Wünsche

Grégoire Delacourt: Alle meine Wünsche

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Die Geschichte dieses ruhigen, besinnlichen Romans ist schnell erzählt. Jo hat einen kleinen Kurzwarenladen. Hin und wieder verirren sich Kunden dorthin. Sie hat also viel Zeit. Deshalb beginnt sie im Internet-Zeitalter einen kleinen Blog und gibt dort Tipps zu Nadel, Faden und Stoffe. Sie erzählt aus ihrem Leben, von ihren Kindern, von ihrem Mann, den sie trotz aller männlichen Eigenheiten sehr liebt. Sie weiß zwar nicht warum, aber sie liebt ihn. Auch ein Flirt schafft es nicht, sie von ihrem Mann wegzuziehen. Sie träumt davon, ihrem Mann vielleicht einmal alle seine Wünsche erfüllen zu können: einen Porsche, eine teure Armbanduhr, eine Kreuzfahrt. Alles solche Sachen, von denen Männer träumen, wenn sie als kleiner Arbeiter oder Angestellter in einem großen Konzern arbeiten, bei dem sie nie das Geld zur Verwirklichung ihre Träumen verdienen werden. Da passiert etwas Unvorhergesehenes: Jo gewinnt in der Lotterie 18 Millionen Euro. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Der 1960 geborene Delacourt hat einen besinnlichen Roman geschrieben. Als Mann hat er die Geschichte aus der Sicht der Protagonistin erzählt und daher eine nüchterne, beinahe naive Sprache gefunden. Viele Sätze klingen wie belanglos dahin geredet, lassen aber um so mehr Tiefe zu. Sicherlich trägt auch die Übersetzerin Claudia Steinitz einen Anteil daran, wenn die schlichten Worte so wirkungsvoll klingen, wie beispielsweise in dem Abschnitt, in welcher Jo von ihrem Ehemann Jo erzählt: „Wir machten lange Spaziergänge auf der Steilküste und hielten uns bei den Händen; manchmal, wenn keine Spaziergänger da waren, drückte er mich an den Felsen und küsste mich auf den Mund, seine freche Hand verirrte sich in meine Unterhose. Er hatte schlichte Worte, um sein Verlangen zu beschreiben. Schinken ohne Schwarte. Ich kriege einen Ständer. Du machst mich geil. Und an einem Abend …“ Übrigens erfährt der Leser natürlich im Roman, warum der Ehemann von Jo ebenfalls Jo heißt.

Doch auch ein zweites Zitat soll Auskunft darüber geben, wie schön so manche Tatsache beschrieben werden kann. Als die Protagonistin von dem Freund ihrer Tochter erzählt und eigentlich nur aussagt, dass sie eine Nebenrolle in einem Film spielen durfte: „Einmal war er mit uns in Bristol und zeigte mir das Ardman Studio, wo er arbeitet; er gab der Blumenverkäuferin, an der Gromit im Film vorbeirennt, mein Gesicht. Ein Tag so schön wie die Kindheit.“

Der Schriftsteller zeigt mit viel Feingefühl, dass Besinnlichkeit nicht bedeutet, humorlos zu sein. Denn immer wieder platzen der Hauptfigur Worte heraus, die dem Leser ein Lächeln auf das Gesicht zaubern.

Ein kurzer (127 Seiten), beinahe zu kurzer Roman, der den Leser an viele Alltäglichkeiten erinnert und ihn in eine kleine Welt zieht. Ein Genuss für jede Jahreszeit.

Delacourt, Grégoire
Alle meine Wünsche
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
126 Seiten, gebunden
Hoffmann und Campe, Hamburg
ISBN-10: 3455403840
ISBN-13: 978-3455403848

© Detlef Knut, Düsseldorf 2012

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Rober Rückel (Hrsg.): DDR-Führer – Reise in einen vergangenen Staat

Rober Rückel (Hrsg.): DDR-Führer – Reise in einen vergangenen Staat

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Schnelleinstieg in die DDR

Die ständige Ausstellung im „DDR Museum“ in Berlin gilt nach eigenen Aussagen als die interaktivste Ausstellung Europas. Für mich kein Pluspunkt. Die Behauptung, man betrachte die DDR als Ganzes, reduziere das Spektrum nicht auf Stasi & Co, machte mich schon eher neugierig. Als Vorgeschmackgeber stöberte ich aber erstmal im „DDR-Führer“, dem Buch zur Dauerausstellung des Museums. Das sollte, so das Versprechen, auch losgelöst von der Ausstellung eine interessante, breitgefächert informative Lektüre sein.

Herausgeber Robert Rückel, seines Zeichens Museumsdirektor, ist es in der Tat gelungen, ein breitgefächertes Spektrum des DDR-Lebens abzubilden. Stasi „findet“ darin auch statt, aber eben nicht als das ständig präsente Monster, als das man sie in den vergangenen Jahren so oft verkauft hat. Ganz sicher haben Menschen – und zwar mehr, zum Teil sehr viel mehr, als dem DDR-Normal-Bürger bewusst gewesen war – Probleme unmittelbar mit der Staatssicherheit gehabt, aber die allermeisten Menschen hatten mit anderen Dingen zu kämpfen. Und so beginnt das Buch zwar auch mit Stasi & Co, gleitet dann aber zu ganz alltäglichen Dingen wie Jugend in der DDR, Schrebergärten, Plattenbau, Urlaubsreisen, Ehe und so weiter.

Das passiert in sehr kurzen, sehr zusammengefassten und damit (mir mitunter etwas zu) verallgemeinerten bzw. einseitigen, immer reich illustrierten und zum Teil mit Statistiken untermalten Artikeln. Abgesehen vom Anfang, wo von „Schubladen in der Mauer“ und anderen museumsspezifischen Dingen gesprochen wird, kann man das Buch tatsächlich auch ohne Besuch der Ausstellung gut durchschmökern. Dass es ein Museumsführer ist, bleibt dennoch spürbar, denn wie in solchen thematisch umfassenden Ausstellungen kommt man in so kurzen Beiträgen eben nicht ohne Verallgemeinerungen und festgelegten Blickrichtungen aus. Und obwohl ich, die ich in der DDR aufgewachsen bin, zwar manchmal das Gefühl hatte, dass „meine Seite“ fehlt, empfand ich es im Großen und Ganzen als realistische Darstellung, die ohne die üblichen massiven Übertreibungen auskommt.

Der grundlegende Unterschied zwischen meiner Erinnerung und dem Buch: In dem Buch bekommt man gelegentlich den Eindruck, als hätten die DDR-Bürger quasi alle bewusst und gezielt nach vorhandenen Nischen gesucht und sich welche geschaffen, die ihnen das System nicht bot. Als wären sie alle irgendwie in Opposition gewesen, nicht direkt offen politisch, aber irgendwie eben doch. Dabei lief vieles eher instinktiv ab, man ging halt die Wege, die gangbar waren. Man kann das Buch auch in dieser Weise lesen – der Stil gibt das durchaus her – und die Bezüge zu „Ursachen“ als psychologische Hintergrundanalyse für dieses „halt diese Wege gehen“ sehen. Man sollte es sogar so lesen, nicht nur, weil es eben genauso gedacht ist.

Alles in allem empfand ich das Buch als informativ, auch wenn es für mich natürlich eher ein Auffrischen von Wissen war. Der Stil, der ohne Pathos, Geifer und die üblichen „DDR-Anekdoten“ auskommt, ist erfrischend sachlich. In seiner Verallgemeinerung wirkt er mitunter museal-lebensarm, was umgekehrt aber eben auch zur Objektivität des Gesagten beiträgt. Nein, ein Thriller ist das Büchlein nicht, aber ein sehr empfehlenswerter Einstieg für alle, die wissen (oder sich erinnern) wollen, wie es wirklich war …

Robert Rückel (Hrgs.)
DDR-Führer – Reise in einen vergangenen Staat
Das Buch zur Dauerausstellung des „DDR Museum“;
154 Seiten, gebunden
DDR Museum Verlag; 2. Auflage, Mai 2012
ISBN-10: 393980116X
ISBN-13: 978-3939801160
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Jonathan Frantzen: Die Korrekturen

Jonathan Frantzen: Die Korrekturen

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Der amerikanische Gegenwartsautor erzählt in diesem umfangreichen Roman die Geschichte einer in der Mittelschicht angesiedelten Familie.

Enid und Alfred sind beide im Ruhestand, leben in ihrem mittlerweile sehr großen Haus und Mutter Enid wünscht sich nichts sehnlicher als noch ein einziges Mal die gesamte Familie, eine Tochter und zwei Söhne, zu Weihnachten bei sich zu Hause bewirten zu können. Ihre Geschichte wird in abwechslungsreichen Episoden erzählt, die jede für sich genommen eine eigenständige Novelle sein könnte. Mit den Episoden wechselt der Fokus der Erzählung auf die Person, die in dieser Episode die Hauptrolle spielt. So wird der Leser im ersten Abschnitt mit dem Sohn Chip und seinen Versuchen, erfolgreicher Autor zu werden und sein Leben in den Griff zu bekommen, bekannt gemacht. Der Sohn Gary wird mit seiner Familie in der zweiten Episode vorgestellt. Er ist ein erfolgreicher Investmentbanker und bemüht sich redlich um seine Familie, was ihm schwerlich zu gelingen scheint. Besonders seine Frau hält gar nichts davon, das nächste Weihnachten bei den Schwiegereltern zu verbringen. In einem weiteren Abschnitt werden schließlich Enid und der an Demenz erkrankte Alfred vorgestellt. Frantzen bedient sich dabei diverser Rückblenden, in denen er die Lebenswege der beiden aufzeigt und eine Zeit beschreibt, in der ihre Kinder noch Kinder waren. Eine Urlaubsbekanntschaft auf einem Kreuzfahrtschiff wird als Mittel benutzt, um das kleinbürgerliche Denken von Enid, die intellektuell nicht an die Bekannte heranreicht, mit all seinen Facetten zum Vorschein zu bringen. Eine vierte Episode gibt den Blick frei auf das Leben der Tochter Denise, die sich als Starköchin einen Namen gemacht hat und ebenso Mühe hat, ihr privates Leben in den Griff zu bekommen. In der fünften und letzten Episode steht Weihnachten schließlich unmittelbar bevor, alle Stränge werden zusammengeführt und zum Höhepunkt gebracht.

Bei der unter der Lupe betrachteten Familie handelt es sich keineswegs um eine typisch amerikanische Familie. Viele ihrer Züge, Befindlichkeiten und Eigenheiten sind schlichtweg menschlich und können ebenso in einer deutschen oder anderen, zumindest westeuropäischen, Familie wiedererkannt werden. Die prägnante Erzählweise von Frantzen, der dem Leser jedes Detail durch Handlung – lange bevor das Wort Demenz oder Altzheimer fällt, ist dem Leser klar, woran Alfred leidet – und nicht nur durch bloße Beschreibung miterleben lässt, erzeugt einen Klangteppich von Atmosphäre, die es unmöglich macht, dieses Buch aus der Hand zu legen. Die Charaktere sind mit solch einer Fülle an Eigenschaften, Emotionen, Gedanken und Handlungen ausgestattet, dass es nicht schwer fällt, sie als eigenes Familienmitglied zu akzeptieren. Ein Grund dafür, dass die einzelnen Episoden zwar so lang sind, sie aber nie zu lang wirken und der Wechsel zum nächsten Abschnitt durchaus von Wehmut begleitet wird, weil dieser dann den Fokus auf ein anderes Familienmitglied legt. Einen Wehrmutstropfen hatte für mich allerdings eine Geschichte, die von Chip und dessen leicht unmoralischer Arbeit in Litauen erzählt. Dient sie doch lediglich dazu, aufzuzeigen, dass Gary seinen Bruder verabscheut, weil er in seinen Augen reiche Amerikaner ausnimmt. Sie ist meines Erachtens zu lang gestreckt und jede andere Handlung außerhalb von Litauen hätte denselben Zweck erfüllt.

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Jonathan Frantzen
Die Korrekturen
Softcover, Taschenbuch
Rowohlt Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3499235234
ISBN-13: 978-3499235238
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Britta Schwarz: Die wirklich wahre Geschichte von Hänsel und Gretel

Britta Schwarz: Die wirklich wahre Geschichte von Hänsel und Gretel

Das Märchen von Hänsel und Gretel kennt sicher jedes Kind. Im Buch wird es noch einmal auf eine sehr modere Weise erzählt. Ob diesem Märchen wohl etwas Wahres zugrunde liegt? Die Autorin betrachtet die Geschichte auch noch aus einem anderen Blickwinkel. In ihrem Buch kommt die Hexe zu Wort. Was sie zu berichten hat, verblüfft. Hänsel und Gretel haben ihrer Stiefmutter das Leben schwer gemacht. Sie sind nicht ausgesetzt wurden, vielmehr sind sie weggelaufen. So kamen sie ans Hexenhäuschen. Die Hexe ist eine Freundin ihrer Stiefmutter und hat sich sogleich der Kinder angenommen und mit ihrem Hexen-Handy die Stiefmutter benachrichtigt. Die Wartezeit verbrachten die Kinder damit, die Hexe zu ärgern. Die Sache geht für die Hexe nicht gut aus.

Wie ein Krimi wird der Fall „Hänsel und Gretel“ hier aufgerollt. Die Kinder müssen entscheiden, wem sie mehr glauben. Hänsel ist genauso überzeugend wie die Hexe. Kinder lernen, dass manche Geschichte zwei Seiten hat. Es kommt auf die Perspektive an, aus der man das Geschehen betrachtet. Das Buch bildet damit die Grundlage für Diskussionen mit den Kindern, die erst lernen müssen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Auch ein Vergleich dieser modern gehaltenen Geschichte mit älteren Märchenbüchern bietet sich an. Ein klein wenig verliert das Märchen damit nämlich an Faszination. Diese ganz besondere Zauber, der alten Märchen innewohnt, ist leider verloren gegangen.

Rezension von Heike Rau

Britta Schwarz
Die wirklich wahre Geschichte von Hänsel und Gretel
Ein Märchen aus zwei Perspektiven
Illustrationen von Iris Hardt
32 Seiten, gebunden
ab 5 Jahren
Annette Betz Verlag
ISBN: 978-3219113198
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Die Geschichte vom Hasen

Die Geschichte vom Hasen

Der Hase ist braun, hat lange Haare, lange Ohren und einen Stummelschwanz. Haken schlagend hüpft er um Ecken, die gar nicht da sind. Kaum hat man sich versehen, ist er plötzlich rosa und hat einen geringelten Schwanz. Wie ein Ferkel es tun würde, wühlt er im Schlamm. Kaum hat man einen Moment nicht hingesehen, ist das Schwein plötzlich grauweiß mit Federn und wohl eher Schwan zu nennen. Dann plötzlich sieht man ein Tier mit goldenen Fischschuppen, das unter Wasser schwimmt. Nach einem Blinzeln, sieht man etwas Dickes ohne Schwanz, dafür mit kurzen Ohren, das den Namen Nilpferd verdient. Immer weiter geht es so, bis man sich die Augen ordentlich reibt und feststellt, dass der Hase doch aussieht wie ein Hase mit langen Ohren und Stummelschwanz.

Der Kinderbuchklassiker ist sehr originell und lädt zum Träumen ein. Hat man genug Fantasie, dann kann man den Hasen in beliebig viele Rollen schlüpfen lassen. Autor und Zeichner machen es vor. Ein kurzes Umblättern ist wie ein Zauber. Kleine Kinder werden erstaunt sein, wie der Hase sich immer wieder wandelt, besser als jedes Chamäleon! Es macht Spaß, die Bilder zu betrachten und zu sehen, ob der Hase sich auch perfekt verwandelt hat oder ob ihn ein kleines Detail in seiner Verkleidung verrät.
Der Hase regt zum Nachmachen an. Auch Kinder können in die Rollen vieler Tiere schlüpfen und tun dies mit der passenden Anregung auch gern. Spielerisch lernen sie so die Welt kennen, erweitern ihr Wissen und ihren Wortschatz.
Auch Erwachsenen dürfte das Buch Spaß machen. Man sehe sich nur den Gesichtsausdruck des Hasen vor und nach seiner Wandlung an!

Rezension von Heike Rau

Kurt Schwitters / Carsten Märtin
Die Geschichte vom Hasen
32 Seiten, gebunden, durchgehend illustriert
ab 5 Jahren
Lappan Verlag, Oldenburg
ISBN: 978-3830311362
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Nicole Krauss: Die Geschichte der Liebe

Nicole Krauss: Die Geschichte der Liebe

Es ist ein seltsames, irrwitziges und merkwürdiges Buch, das Nicole Krauss hier geschrieben hat. Aber am seltsamsten und sehr überraschend ist, dass hier eine erst 29 Jährige Schriftstellerin so lebensnah und echt das Leben eines über 80 Jährigen Mannes auf seinen Wegen und in seiner armseligen Altersexistenz zu beschreiben vermochte.
Leo Gursky hat es als polnischen Juden während des Krieges in jungen Jahren nach Amerika, NY, verschlagen. In seiner Heimat und in seiner Jugend liebte er ein Mädchen mit Namen Alma. Sie ist es, an der sein Herz hängt und um die sich in allerlei verwirrenden Formen die ganze Geschichte der Liebe dreht, denn er hat sie aufgeschrieben, seine und Almas Geschichte.
Mal ist diese Geschichte in der Geschichte ganz verloren gegangen, dann taucht sie wieder auf, als ein früher Jugendfreund von Leo sie im argentinischen Exil als sein Buch ausgibt.
Ein auch sehr seltsames Mädchen mit Namen Alma, die von ihren Eltern nach der Alma im Buch der Geschichte benannt wurde, sucht der Geschichte auf den Grund zu kommen. Ihr früh verstorbener Vater hat das Buch “ Die Geschichte der Liebe“ ihrer Mutter geschenkt, die wiederum einer Tages mit der Übersetzung des Textes aus dem Spanischen betraut wurde. Von wem? Einem Mann Namens Jacob Marcus. Auch dieser aber hat eine fremde Identität, die nichts mit dem Namen J.M. zu tun hat.
Es sind viele Geschichten in diesem Buch, die sich immer wieder überschneiden und in einander greifen.
Das Erzählte ist verwirrend und verschachtelt und schlingert von einem Geheimnis zum nächsten. Die Spannung aber bleibt.
Die kurzen, überschaubaren und fast lakonischen Sätze geben dem Ganzen zu Zeiten eine gewisse Komik und auch Tragik.

Am Ende ist es eine Geschichte von Liebe und Finsternis, von Träumen, Verrat, Suche und Einsamkeit,–eine einfach ganz wunderbare Geschichte, wie es sie über viele jüdische Schicksale mit der Endstation Amerika gibt.
Cl.B.

Nicole Krauss
Die Geschichte der Liebe
Eine seltsame und wunderbare Irrfahrt des Lebens
ISBN:3498035231
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