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Kategorie: Belletristik

Fabio Andina: Davonkommen

Fabio Andina: Davonkommen

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Fabio Andina schreibt Bücher, die in ihrer Sprache von großer Eleganz, Stille und Melancholie erfüllt sind.

Der Icherzähler monologisiert unentwegt und teilt einem imaginären Zuhörer seine Gedanken mit.
Worum geht es eigentlich?
Nun, ein Mann fühlt sich schlecht, er sucht einen Psychiater und findet nur sehr schwer jemanden, der Zeit für ihn hat.
Schließlich gelingt es ihm. Ein Arzt verschreibt ihm Beruhigungs-und Schlafmittel. Er braucht sie dringend, denn seine Frau will sich trennen, und er erträgt den Gedanken kaum, sich damit auch von seinem kleinen Sohn trennen zu müssen.

Es folgen zahlreiche Episoden, die sich alle immer gleichen: es schneit, es ist sonnig, er musste in eine Hütte in den Bergen ziehen, weil er in der Stadt keine Wohnung fand. Er telefoniert täglich mit seinem Sohn, muss sich aber auch mit den Schikanen seiner Frau herumschlagen, die den Kontakt zum Sohn oftmals verhindert, mindestens aber stört.
Er liebt diesen Sohn sehr! In Gedanken spricht er mit ihm und sehnt sich nach ihm.
Arbeitslos und aller Bindungen beraubt, drehen sich seine Gedanken und inneren Monologe um ihn, diesen kleinen geliebten Sohn, der vier Jahre alt ist.

Als Wachdienst verdient der Erzähler mehr schlecht als gut seinen Unterhalt. In seiner Hütte herrscht Chaos.
Sein Leben pendelt unausgefüllt zwischen den Scheidungsanwälten, die inzwischen eingeschaltet wurden, seinem Dienst als Wachmann, seinen geregelten Besuchszeiten mit seinem Sohn, zwischen Bier und Beruhigungspillen. Albträume plagen ihn und spiegeln die Schrecken eines Lebens, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Und doch: was mach den Roman so reizvoll?
Es sind die feinsinnigen Beobachtungen, die immer wieder spürbare Stille und nach und nach eine große Ruhe, die von der Erzählung ausgeht.
Kein spannender Handlungsstrang stört eine Entwicklung, die den Protagonisten zum duldenden Menschen macht. Er scheint sein Leben allmählich zu akzeptieren. Die Liebe zum Sohn bleibt die einzige feste Konstante, die seinem Leben Halt und Ruhe gibt.
Sie kulminiert in der Frage an den Sohn “warum wolltest du denn die gelben Pumas?“ Und die Antwort “sie sind wie die Sonne und die Sonne ist groß……. so groß wie das Leben!“

Ein poetischer, einnehmender Roman über das Leben und den Kampf, es zu bestehen.

Fabio Andina
Davonkommen
Rotpunktverlag, April 2023
200 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3858699764
ISBN-13: 978-3858699763
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Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

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Glattauer hat einen kurzweiligen und anregenden Roman geschrieben. Er benutzt die Möglichkeiten des Internets, um seine Geschichte in Szene zu setzen.

Zwei gut situierte Paare gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana.
Die Strobl-Marineks und die Binders sind gut befreundet. Binders haben den Sohn Benjamin, und Martineks die Tochter Lotte und Sophie mitgebracht. Damit sich die 14jährige Sophie nicht langweilt, durfte sie ihre Freundin Aayana mit in den Urlaub nehmen. Aayana ist ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia.

Was froh und entspannt beginnt, endet sehr bald in einer Katastrophe. Sophie will Aayana das Schwimmen beibringen. Doch diese nutzt die Nacht, um selber im Pool zu schwimmen. Dabei ertrinkt sie.

Was macht den Roman so lesenswert?
Glattauer baut den Roman so auf, dass der Hauptkonflikt fast sofort klar wird. Zugespitzt erlebt man eine Flüchtlingstragödie bedauerlichen Ausmaßes.
Es gibt die vielen vermeintlichen Nebensächlichkeiten, die zur Katastrophe beigetragen haben könnten.

Elisa Marinek hat einen Geliebten. Um ihre Ehe ist es nicht mehr gut bestellt. Sie ist eine emanzipierte Frau, promoviert und Abgeordnete der Grünen im österreichischen Parlament.
Ihre politische Karriere könnte durch durch Aayanas Tod Schaden nehmen.
Sophie hat einen Internetfreund, mit dem sie sich austauscht, und in den sie sich, ohne ihn je gesehen zu haben, verliebt.
Melanie bezichtigt Elisa, den Tod von Aayana bewußt nicht verhindert zu haben. Die Atmosphäre zwischen den Paaren ist angespannt.
Die Dialoge sind aufschlussreich, weil sie Stimmungen vermitteln, die konfliktträchtig und unaufrichtig sind.

Glattauer bedient sich u.a. des Internets, um Austausch und Kommentare dort zu verfassen.
Nach und nach erreichen sowohl Elisa als auch Sophie Häme und Spott über dieses Medium.
Es gibt die pubertierende Tochter, die sich angestachelt durch ihre Internetkorrespondenz in eine phantastische Liebesgeschichte hineinsteigert. Man erlebt zwei Ehepaare, die durch die ganze Geschichte aufgeregt und irritiert ihre bürgerliche Existenz gefährdet sehen.

Die Figuren sind eine jede sehr eigen in ihrer Charakterstruktur. Gebannt folgt man einer Erzählung, die uns nach Österreich mitnimmt, in die Toskana und am Ende mit allen rechtlichen Verwicklungen als Folge des Todes von Aayana wieder nach Wien.
Verwirrung der Gefühle und Befindlichkeiten auf der ganzen Linie!

Glattauer setzt allem die Krone auf, indem er die verschiedenen Erzählstränge gekonnt zusammenführt, so dass sich ein abgerundetes Verstrickungsmodell abzeichnet.

So ist das Leben: es steckt voll hintergründiger Fallstricke und führt Menschen zusammen, die sich entweder gegenseitig nutzen oder Unglück auslösen.

Daniel Glattauer hat wieder einmal einen anspruchsvollen Unterhaltungsroman geschrieben.

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Paul Zsolnay Verlag, März 2023
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552073337
ISBN-13: 978-3552073333
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Franziska Jebens: Immer am Meer entlang

Franziska Jebens: Immer am Meer entlang

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Der alte Bulli bedeutet für Josi Freiheit. Schon lange plant die Polizistin für ein Jahr an den Küsten Europas entlang zu reisen und Abenteuer zu erleben. Als alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, macht sie sich freudig auf die von ihr zuvor genau durchgeplante Reise.
Paul hat sich spontan nach einem inspirierenden Vanlife Reisevortrag ein passendes Auto gekauft, hat es kurzerhand ausgebaut, seinen Job gekündigt und ist losgefahren. Er ist unzufrieden mit seinem Leben und nun soll es endlich in eine andere Richtung gehen.

Die beiden begegnen sich, als Paul eine Autopanne hat und Josi ihre Hilfe anbietet. Sie reisen nicht gemeinsam weiter, begegnen sich aber hin und wieder, tauschen Botschaften aus oder machen sich auf besonders schöne Orte aufmerksam. Aber auch so kann man sich näher kommen oder zumindest Freunde sein.

Sommer, Sonne, malerische Landschaften und Meeresblick. Es ist traumhaft schön, den Roadtrips von Josi und Paul zu folgen, die sich bewusst dazu entschieden haben, allein durch Landstriche Europas zu reisen. Der Leser wird mit Naturbeobachtungen in Urlaubsstimmung versetzt. Das gelingt wirklich gut, denn die Beschreibungen sind sehr detailreich, wecken Erinnerungen und machen auch ein bisschen sehnsüchtig, sollte der letzte Urlaub ans Meer schon eine Weile zurückliegen. Die Kapitel sind in Länder untergliedert und die Reiseziele sehr abwechslungsreich.

Es gibt zwei Handlungsstränge, sodass jeder seine eigene Geschichte erzählt und der Leser Gedanken und Gefühle nachempfinden und sich perfekt in Josi oder Paul hineinversetzen kann. Schließlich gibt es auch ernste Gründe für die Reise. Es bleibt viel Zeit zum Nachdenken und für eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Das ist der Vorteil, wenn man allein unterwegs ist. Wobei die beiden hin und wieder auch bewusst unterwegs neue Kontakte knüpfen und die Verbindung zu den Freunden zu Hause nicht abreißen lassen.

Das Buch ist beste Unterhaltungsliteratur. Es liest sich leicht, wirkt entspannend und vertreibt die Zeit perfekt, zumal die Autorin selbst gerne auf diese Weise reist und viele eigene Erlebnisse und Erfahrungen hat einfließen lassen.

Rezension von Heike Rau

Franziska Jebens
Immer am Meer entlang
416 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, März 2023
ISBN-10: 3423218533
ISBN-13: 978-3423218535
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Annika Büsing: Koller

Annika Büsing: Koller

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Dieses Buch ist ein Roadmovie der besonderen Art.

In einer trockenen und spröden Sprache beschreibt Annika Büsing die Geschichte von Chris und Koller, der eigentlich Kolja heisst.
Es fängt mit der Liebe an und hört mit ihr auf.
Wer ist Chris: Junge oder Mädchen?
Dann wird es klar: Koller hat sich in ihn verliebt! Chris ist der Icherzähler, ein nachdenklicher und ruhiger Mensch.
Zwischen den Zeilen wird die Geschichte eines jeden Jungen eingeblendet.
Sie lassen sich treiben und gehen keiner regelmäßigen Beschäftigung nach. Koller hat Medizin studiert. Das praktische Jahr stünde an; aber er mag nicht arbeiten.

Chris erzählt in Andeutungen von seiner Mutter. Sie ist Ärztin und liest Hegel. Er wuchs in einem gebildeten aber vaterlosen Haushalt auf.

Koller erfährt unvermutet, dass er Vater einer 4jährigen Tochter ist. Das haut ihn um. Also macht er sich mit Chris auf den Weg, sie zu besuchen. Sie fahren mit einem alten Polo an die Ostsee. Der Weg wird von allerhand Misshelligkeiten unterbrochen.

Den trockenen Sprachstil erkennt man wieder. Schon in „Nordstadt“ war dieser Sound sprachbestimmend. Er hat eine seltsame Faszination für den Leser*In.

Annika Büsing lässt die Männer unterschiedliche Stationen passieren. Mal ist es das Heim, in dem die behinderte Schwester von Koller lebt. Dann wieder suchen sie die Kate von Kollers Oma. Im Grunde erleben sie Nichtigkeiten. Eine gewisse Lethargie und Antriebslosigkeit lässt die Burschen ihres Weges ziehen. Haben sie ein Ziel? Es ist nicht erkennbar. Vielleicht einfach: in den Tag hineinleben, um den Moment zu genießen.

Auffällig sind Einschübe von poetischer Sprachkraft. Sie erinnern an biblische Aussprüche. Mitten hinein in einen ganz gewöhnlichen Augenblick „Die Sonne geht unter. Und siehe, es ist alles gut“ erscheinen diese Sätze wie aus dem Rahmen fallende Momente der Ruhe.
Alle dargestellten Beziehungen sind konfus. Sie sind ganz sicher nicht bürgerlich.
Am Ende geht es um Identitätsfindung, Autonomiesuche und um die Frage, was und wozu leben wir.

Verklausuliert in ihrer stockenden Alltagssprache bietet die Erzählung mit ihrem Tiefgang einen ganz einmaligen Reiz.
Es handelt sich um eine verlorene Generation mit starken Gefühlen, die nur sehr verhalten rüberkommen. Nicht zuletzt spielt das Leben in West und Ost vor und nach der Wende eine Rolle.

Am Ende wirkt die Geschichte, als ließe die Autorin uns mit einem Fragezeichen zurück. Glück? Freude?
“Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht.“ Momente scheinen den Augenblick zu bestimmen.

Annika Büsing
Koller
Steidl Verlag, 2. Auflage, März 2023
176 Seiten, gebunden
ISBN-10: 396999196X
ISBN-13: 978-3969991961
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Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

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„Ich liebe dich“ und „Ich verlasse dich“. Mit diesen drei Wörtern kann eine langjährige Beziehung umschrieben werden.

Im neuen Roman von Julia Schoch will eine Frau ihren Mann verlassen.
In Gedanken lässt sie, die selber Schriftstellerin ist, ihre gesamte Liebesgeschichte noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen.
Zuerst ist sie jung, verliebt und neugierig auf das Leben.
Zwischen den Zeilen, die teilweise einem Monolog gleichen, spürt man allerdings von Beginn an, dass hier eine junge Frau einen Freund liebt, dessen sie sich nie so ganz sicher gewesen zu sein scheint.
Sie studierten in der Nachwendezeit und trafen sich immer wieder.
Man verbringt Tage und Nächte zusammen, geht gemeinsam ins Kino, und sie ist ganz hingerissen von ihm. Ist er das auch von ihr?
Auf jeden Fall ist er in ihrer Darstellung einer, den sie als überlegen wahrnimmt. Sein Wort gilt, und sie fühlt sich wohl in seinem Schatten.

Was mit Überschwang beginnt, zeigt schon bald kleine Risse. Ein versäumter Termin, lange Tage ohne Kontakt: man spürt es schon. Hier wird nicht alles ganz reibungslos verlaufen.
Die euphorische Feststellung, „das Liebespaar des Jahrhunderts“ zu sein, wird nicht so bleiben!

Julia Schoch fühlt sich ganz in das Leben des Paares ein. Sie beschreibt, wie die anfängliche Hochstimmung nach und nach einem Alltag weicht, der dem so vieler anderer Paare gleicht.

Kinder werden geboren; Beruf, Alltag und Familienleben müssen in Gleichklang gebracht werden. Abnutzung und Ermüdung betreffen neben den alltäglichen Verrichtungen auch das sexuelle Leben der beiden. Man läuft schweigend aneinander vorbei, und die Zeit verrinnt. Sind die Träume des glücklichen Liebeslebens zerronnen?

Die Erzählerin vermerkt minutiös, wie sie sich mit dem Gedanken plagt, den Mann zu verlassen.

Gemessen an dem, was sie erwartet hat, wirkt der fortschreitende Prozess des Alltags recht trostlos. Julia Schoch kann Stimmungen einfangen und Situationen, Handreichungen und Haushaltsverrichtungen so beschreiben, dass der Leser*In ganz in dieses Milieu eintaucht.
Sie beweist einmal mehr, wie genau sie beobachten kann. Ihre Darstellung einer ermüdenden Beziehung ist echt und überzeugend und fängt das Leben ein, wie es ist.
Glücksgefühle allerdings sind rar in der Beziehung. Auch das ein Stück Realität?
Der Leser*In wird es prüfen und mit dem eigenen Leben vergleichen.

Das überraschende Ende des Romans lässt erkennen, dass „Leben und Liebe“ so ist, wie man es hier beschrieben findet.

Julia Schoch
Das Liebespaar des Jahrhunderts
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2023
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423283335
ISBN-13: 978-3423283335
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Franzobel: Einsteins Hirn

Franzobel: Einsteins Hirn

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Eigentlich soll Albert Einstein nach seinem Tod umgehend verbrannt werden. Doch der Pathologe Thomas Stoltz Harvey erdreistet sich, bei der Autopsie das Gehirn zu entnehmen, nicht ahnend, dass es ihn über 40 Jahre lang begleiten wird. Die Familie empört sich, aber schließlich stimmt der Nachlassverwalter Otto Nathan, der auch ein enger Freund Albert Einsteins war, unter gewissen Bedingungen einer entsprechenden Forschungsarbeit zu, die den Pathologen allerdings gnadenlos überfordert. Harvey will der Genialität des Physikers auf die Spur kommen, hat aber nicht die entsprechenden Möglichkeiten. Er pokert hoch, wird berühmt und zahlt dafür einen Preis. Er lügt, hält hin und erfindet dies und das. Aber er ist fasziniert von diesem Hirn, das von ihm zersäbelt und konserviert in Einmachgläsern ausharrt und schließlich beginnt, mit ihm zu sprechen.

Die Jahre kommen und gehen. Das Rad der Geschichte dreht sich weiter. Der Leser bekommt einen tiefen Einblick in das Leben des Pathologen und das Zeitgeschehen. Das Hirn des Nobelpreisträgers beendet seine berufliche Laufbahn, bringt ihm Ärger ein, lässt drei Ehen scheitern, setzt ihn unter Druck und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Und doch will er es nicht hergeben.

Es ist eine erstaunliche Geschichte entstanden, die sich genau so ereignet haben könnte oder zumindest so ähnlich. Der Rahmen stimmt jedenfalls und die Hintergründe sind perfekt recherchiert und soweit Tatsache. Und so einiges, das die Geschichte spannender macht, ist mit viel künstlerischer Freiheit und einem gewissen Hang zu bissiger Ironie eingewoben. Das funktioniert ganz gut. Es ist schon interessant, wie der Autor die Vorstellungskraft anregt, indem er Personen zeichnet, das Zeitgeschehen einfließen lässt und Begebenheiten auf seine Weise ausschmückt. Das nicht eben geradlinig verlaufende Leben des Pathologen Thomas Stoltz Harvey ist auf faszinierende Weise dargestellt. Im letzten Drittel zieht es sich allerdings dann doch ein bisschen.

Rezension von Heike Rau

Franzobel
Einsteins Hirn
544 Seiten, gebunden
‎Paul Zsolnay, Januar 2023
ISBN-10: 3552073345
ISBN-13: 978-3552073340
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Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

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In diesem wunderbaren Roman findet man sein Glück beim Lesen!
Leicht elegisch, von stillem Glück, vom Alter und der Einsamkeit handelt dieser kleine Roman.

Ernesto hat seine Frau verloren. Er ist 67 Jahre alt und lebt in einer ruhigen, beschaulichen Straße am Fluss im Turin.
Seine Kinder sind fern, nur Sonja, die Älteste, lebt mit ihren Kindern in Rom. Eines Sonntags hat er sie mit ihren beiden Kindern zum Essen eingeladen. Doch eine ihrer Töchter fällt vom Baum, und sie können nicht kommen.

So erleben wir Ernesto, wie er mit seinem fertigen Essen und der Einsamkeit fertig zu werden trachtet.
Er geht in den Park und lernt Elena mit ihrem Sohn dort kennen. Ohne tiefgründige Absicht lädt er die beiden zum Essen ein.
Gaston, der Junge, ist begeistert von den Bastelkünsten des alten Herren, und die drei verleben einen behaglichen Sonntag. Es ist der einzige Hinweis auf den Titel des Romans. Denn es geht um mehr!

In stillen und ruhigen Passagen beschreibt uns der Autor Fabio Geda das gegenwärtige und vergangene Leben von Ernesto. Es sind beschauliche Augenblicke und Ausblicke, die das Familienleben geprägt haben. Die Kinder und seine Frau sind das Glück von Ernesto. Er war als Ingenieur viel verreist, denn er baute große Brücken überall in der Welt.
Nicht immer verlief das Leben reibungslos.

Giulia ist die Erzählerin in diesem Werk. Sie spinnt das feine Netz von Begegnungen, erzählt vom Liebesleben der Eltern und ihren gemeinsamen Familienjahren. Konflikte blieben lange unausgesprochen.

Wie in allen Familien gab es nicht nur das reine Glück! Giulia und der Vater haben sich entfremdet. Als die Kinder alle in ihren Berufen gefestigt waren, und die Töchter Kinder bekamen, fanden sie wieder zusammen. „Es ging nicht darum, zu begraben und zu vergessen: sondern zu verzeihen!“( S. 218) Dieser Satz ist charakteristisch für den Stil des ganzen Romans. Man ist erfüllt von der Stimmung aus Liebe, Großzügigkeit und Altersweisheit.

Als Ernesto schließlich alt und krank ist, begegnet ihm im Krankenhaus Elena wieder. Auch sie ist zur Zeit ihrer Begegnung vor so vielen Jahren eine verlorene Seele gewesen, die mit ihrem Leben nichts mehr anfangen konnte. Sie war von Ernesto ermutigt worden, ihr Leben nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes in die Hand zu nehmen. Nun hat sie es geschafft und ist Krankenschwester geworden.

Mehr gibt es zu dem Roman nicht zu sagen. Man lese ihn! Er ist rund und gelungen in seinen poetisch reizvollen kurzen Lebensstimmungen und den Schicksalen, von denen man hört.

Fabio Geda
Ein Sonntag mit Elena
240 Seiten, gebunden
hanserblau, 2. Auflage, August 2020
ISBN-10: 3446267956
ISBN-13: 978-3446267954O
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Gabrielle Filteau-Chiba: Bis der Fluss taut – Tagebuch aus der Wildnis

Gabrielle Filteau-Chiba: Bis der Fluss taut – Tagebuch aus der Wildnis

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Anouk hat Montreal den Rücken gekehrt, um in einer einfachen Hütte in der Wildnis von Kamouraska zu leben. Um in dieser eisigen Kälte überleben zu können, muss sie sich jeden Tag bei durch den Schnee kämpfen, um Holz zu holen, damit der kleine Ofen, er ist ihre einzige Wärmequelle, nicht ausgeht. Bald friert der Fluss zu und gibt kein Wasser mehr her, sodass ihr nichts anderes übrig bleibt, als Schnee zu schmelzen. Von der Zivilisation hört sie nur den Zug, der ihr eine zeitliche Orientierung gibt und für eine gewisse Struktur im Alltag sorgt. Doch eines Tages fährt er nicht mehr.

Zurück will Anouk keinesfalls, denn das zivilisierte Leben hat ihr noch viel weniger zu bieten. Sie zieht die Einsamkeit vor, doch wäre ihr Zweisamkeit lieber. Die junge Frau denkt viel nach, träumt und beschäftigt sich mit dem Schreiben in den wenigen hellen Stunden und in der Dunkelheit bei Kerzenschein. Sie versucht, mit ihren Ängsten klarzukommen und sich auf das Wesentliche hier draußen zu konzentrieren, denn auch ernste Gefahren hält die Natur bereit, wie sie bald feststellen muss. Anouk ist froh, als eines Tages ein Kater kommt und ihr Gesellschaft leistet. Nach Wärme und Nähe sehnt sich sehr. Er soll nicht der einzige Überraschungsgast bleiben.

Die Autorin bedient sich einer tiefgehenden Sprache und schafft eine besondere Atmosphäre. Sie malt mit Worten faszinierende Naturbilder, die einen Gegensatz zur Enge in der einfachen Hütte bilden.

Viel ist in diesem Buch leider nicht über Anouk zu erfahren. Dazu ist es viel zu kurz. Ihre Motivation stellt sich vor allem in ihrer engen Naturverbundenheit dar. Sie sieht das Ökosystem bedroht und ist damit nicht allein. Was wird wohl aus ihr werden? Was wird sie tun nach dieser Kältewelle und nach diesem Winter? Wir erfahren es nicht, aber es ist auf den letzten Seiten ihres Tagebuchs von Hoffnung zu lesen und einem großen Vorhaben, das sie angehen will.

Rezension von Heike Rau

Gabrielle Filteau-Chiba
Bis der Fluss taut
Tagebuch aus der Wildnis
Aus dem Quebecfranzösischen von Katrin Segerer
112 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Dezember 2022
ISBN-10: 3423290277
ISBN-13: 978-3423290272
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Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

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In diesem Debütroman aus dem Jahr 2016 von Daniela Krien geht es um eine außergewöhnliche Liebesgeschichte und um eine weitläufige Bauernfamilie jenseits der westdeutschen Grenze in der DDR.

Der Brendel- und der Hennerhof sind zwei benachbarte Höfe. Das Leben in und um die Höfe ist geprägt von den Bewohnern, die in ihrer ganzen vielfältigen Verwandtschaft in die Geschichte hineinspielen.

Die Wende hat gerade stattgefunden. Hier aber geht das Leben seinen Gang. Die LPGs gibt es nicht mehr, und einzelne Bauern sind wieder Besitzer ihrer Höfe. Ein großes Fest zur Wiedervereinigung steht an!

Maria, die Icherzählerin, ist 16 und geht in die Schule. Dort trifft sie Johannis vom Brendelhof. Er nimmt sie mit und stellt sie seinen Eltern vor. Fortan lebt sie mit ihm auf seinem elterlichen Gehöft, da ihre Mutter verlassen vom Vater ein ärmliches Leben führt.

Herrliche Landschaftsbilder in einem flimmernden Sommer führen einen sogleich in das Landleben ein. Maria ist jung, hübsch und unbeschwert. Sie schwänzt die Schule und geht ihren eigenen Träumen nach. Dem Lesen gehört ihre Leidenschaft. Es sind die „Brüder Karamasow“, die sie besonders faszinieren.

Bei all dem Treiben und den Begegnungen lernt sie den viel älteren Bauern Henner vom Nachbarhof kennen. Er ist schon vierzig Jahre alt.
Zwischen den beiden bahnt sich eine große Leidenschaft an. Maria ist diesem Mann sehr bald hörig. Ihre Gefühle schwanken zwischen Scham, Schuld und Ekstase. Die Lüge überdeckt ihr geheimes Leben mit Henner, der ihr Vater, Mutter, Freund und Geliebter in einem ist.

Der Krieg mit seinen Auswüchsen, die DDR mit ihrem Gefolgschaftswahn und ihren Schrecken: durch die Schicksale der einzelnen Figuren kommt vieles zur Sprache.
Mit der Wende soll nun alles anders werden.

Hinreißend sind die Naturbeschreibungen und die von Maria wahrgenommenen Empfindungen beim Betrachten der Häuser, der Zimmer mit allen Einzelheiten und der Küche mit ihren wunderbaren Gerüchen vom Backen, Braten und Kochen. Die Ansprüche der Bewohner sind bescheiden. In der Kneipe mit ihren Besuchern findet man Einblicke in das Dorfleben, und in der Natur erlebt man die Vielfalt an Stimmungen mit ihren wechselnden Jahreszeiten.

Die amour fou zwischen dem vierzigjährigen Henner und der bald siebzehnjährigen Maria bleibt das untergründig beherrschende Thema der Geschichte, geheim und verboten. Das Reifen des jungen Mädchens zur Frau ist nachvollziehbar. Es gibt der Geschichte Spannung und wird in einer so authentischen Weise geschildert, dass man meint, alles könnte sich genau so zugetragen haben.

Daniela Krien kann schreiben! Sie hat das Feingefühl und das richtige Gespür für menschliche Schwächen, Größen und, ja, auch Details des Alltagslebens auf dem Land. Wie sich die Zeiten verändern, wie es auch nebenbei politische Betrachtungen gibt, das ist meisterhaft geschildert.
Das Ende kommt überraschend, erschreckend und passt genau.

Ein wunderbares Buch, das einmal mehr Daniela Kriens Fähigkeiten als herausragende Autorin unter Beweis stellt.

Daniela Krien
Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Diogenes, 1. Auflage, November 2022
272 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072198
ISBN-13: 978-3257072198O
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Fatma Aydemir: Dschinns

Fatma Aydemir: Dschinns

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In diesem Familienroman wird eine Gastarbeiterfamilie aus der Türkei zum Thema der Auseinandersetzung genommen, die zwischen eigener Identität und aufgezwungener Fremdheit besteht.

Die Familie von Hüseyin versammelt sich in einer Wohnung in Istanbul nach dem Tod von Hüseyin, der voller Glück seine mühsam ersparte neue Wohnung für den Ruhestand beziehen wollte. Infolge eines Herzinfarktes ist er gestorben.

Nach der Hochzeit ist Hüseyin nach Deutschland gegangen, um gutes Geld zu verdienen. Sie hatten damals schon drei Kinder: Sevda, Hakan und Perihan.
Nach acht langen Jahren holt Hüseyin seine Frau und zwei seiner Kinder nach Deutschland. Sevda muss noch einige Zeit bei der Großmutter bleiben. Erst als sie 15 ist, wird sie vom Vater nachgeholt.

Die Erzählung befasst sich mit den Auswirkungen der Umsiedlung nach Deutschland, die für Familienkonstellationen eigene Probleme mit sich bringt: fremd in einem fernen Land halten sich die Eltern an die Sitten und Gebräuche ihrer Herkunft, während die Kinder sich an die Normen des Gastarbeiterlandes anzupassen versuchen.

In einzelnen Kapiteln widmet sich die Autorin intensiv jedem Familienmitglied.
Sevda muss jung heiraten und darf ihrem Wunsch, eine Schule zu besuchen, nicht nachkommen.
Sie zeigt früh Freiheitbestrebungen. Mit Groll erinnert sie sich ihres erzwungenen Ehelebens.
Hakan ist ein Verlierer, der abseits von Erfolg und Ehrgeiz dubiosen Geschäfte nachgeht.
Peri darf nach erfolgreichem Schulabschluss studieren. Der Nachzügler ist schwul, was er nur der Schwester anvertraut.

Die Zerrissenheit der Familie liegt auf der Hand. Hüseyin plagt sich redlich in der Fabrik. Sein Leben pendelt zwischen Arbeit und Schlafen. Emine geht nie aus und bleibt für Haus und Küche da. Die Kinder dieser Gastarbeiterfamilie sind sich selber überlassen. Sie wandeln auf unterschiedlichen Pfaden. Und wie unterschiedlich fallen diese aus!

In einem gut konstruierten Rahmen zeigt uns die Autorin, wohin die Wege des Menschen führen, wenn keine geschlossene Gemeinschaft mehr besteht. Eine Orientierung ist unter diesen Bedingungen nur schwer zu finden.

Die Eltern tragen ein ganz besonders bedrückendes Geheimnis mit sich. Es zeigt einmal mehr die Abhängigkeiten der Frauen vom Familienverband. Frauen gelten nicht als Individuen.

Sevda wird sich dem Zwang irgendwann entziehen und zusammen mit ihren Kindern ihre eigenen Wünsche realisieren. Sevda ist auch diejenige, die die klarsten und schmerzlichsten Worte findet, um ihrer Mutter Fehlentscheidungen und die mangelnde Selbstständigkeit vorzuhalten.
Missverständnisse und Schweigen zeichnen die Beziehungen zwischen Hüseyin und Emine aus.
Vieles bleibt tabuisiert! Da kann nur eine desillusionierte Sevda dazwischen gehen.
Das Treffen in Istanbul anlässlich des Todes von Hüseyin endet dramatisch.

Fatma Aydemir hat einen großartigen Familienroman verfasst. Hier prallen Orient und Oxident aufeinander. Die Fliehkräfte unterschiedlicher Lebensformen bringen den Zusammenhalt der Familie auseinander. Keiner wird mit seiner Lebensgestaltung wirklich glücklich. Nicht viele Menschen des Gastlandes können sich in die Lage ihrer Gastarbeiter hineinversetzen. Auch diese bleiben unter sich und leben schlecht und recht mit ihrer Isolation und Einsamkeit in einem fremden Land.

Die Autorin Fatma Aydemir schreibt voller Empathie, feiner Beobachtung und sensibler Wahrnehmung, was in dieser Familie mit den einzelnen Mitgliedern passiert.

Der Leser*in bleibt nicht unberührt vom Geschehen und schaut mit anderen Augen auf Menschen, die als Arbeiter unser Land unterstützen und sich selber fast verlieren in der Hilflosigkeit.
Es ist ein wirklicher Verdienst der Autorin, einmal den Fokus auf diese Problematik zu lenken.

Fatma Aydemir
Dschinns
Carl Hanser Verlag, 6. Auflage, Februar 2022
368 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446269142
ISBN-13: 978-3446269149
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