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Kategorie: Belletristik

Otto de Kat: Freetown

Otto de Kat: Freetown

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Der Roman von Otto de Kat spielt in den Niederlanden.

Eines Tages erscheint Ishmael bei Maria. Er ist Zeitungsjunge, und sie interessiert sich von Beginn an für den schmalen, schwarzen Jungen. Er ist scheu fasst aber Zutrauen zu ihr.
Sie versucht ihm zu helfen, wenn er der Hilfe bedarf. Maria mag sich ihn gar nicht mehr wegdenken und entwickelt mütterliche Gefühle für ihn. Auf ihre Frage hin erfährt sie, dass er aus Sierra Leone und dort aus der Hauptstadt Freetown kommt.

Sieben Jahre hat sie Kontakt zu ihm. Dann ist er von einem Tag zum anderen verschwunden, und sie vermisst ihn sehr. In einer aufwendigen Suche möchte sie herausfinden, wo er geblieben ist.
Bei ihrem alten Freund Vincent, einem Psychotherapeuten, sucht sie Hilfe.
Nun bekommt der Roman von Otto de Kat eine ganz neue Wendung.

Der Leser*in wird damit konfrontiert, dass Maria und Vincent über längere Zeit eine intensive Liaison pflegten. Da waren sie beide verheiratet und hatten schon fast erwachsene Kinder.
Auch diese Beziehung endete sehr plötzlich. Beide konnten sich nie vergessen!
Der Leser*in wird auf eine Reise in die Vergangenheit der beiden hineingezogen.

Otto de Kat versteht es trefflich, seine Figuren in ihren jeweils unterschiedlichen Charakteren zu zeichnen. Im Hintergrund leben die Ehepartner der beiden, die wohl wenig bis gar nichts von Vincents und Marias Beziehung wissen. In kurzen Szenen kann man sich auch von ihnen ein Bild machen.

Es ist ein langes Versteckspiel, das sich ursprünglich um die Suche nach Ishmael drehte nun aber die Liebe von Maria und Vincent umkreist. Hoffnung, Verlust und Verzicht sind die Merkmale dieser Beziehung.

So geheimnisvoll sich Beziehungen zeigen: das Leben und die Liebe sind zuweilen unergründlich. Der Verlust einer Liebe prägt gelegentlich über Jahre das Leben zweier Menschen, die in ihren langjährigen Ehebeziehungen verhaftet sind.

In einer schönen Sentenz spricht Vincent davon, dass alle die Menschen, die zu ihm in Therapie kamen, sich letztlich nur eines wünschten:“ irgendwo zu Hause zu sein.“ ( S.117) So fühlten sich auch Maria und Vincent beieinander zu Hause!

Das Büchlein liest sich leicht. Es sind nur 166 Seiten, die aber inhaltsreich daherkommen.
Das überraschende Ende passt schlüssig in die ganze Erzählung.
Man kann den Roman uneingeschränkt empfehlen, weil sich hier wieder einmal zeigt, wohin die Wege des Menschen führen!

Otto de Kat
Freetown
168 Seiten, gebunden
Schoeffling, Februar 2019
ISBN-10: 3895615331
ISBN-13: 978-3895615337
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Michela Murgia: Chirú

Michela Murgia: Chirú

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Eleonore ist 38 Jahre alt, als sie dem Drängen des 18jährigen Musikstudenten Chirú nachgibt, seine Lehrerin zu werden.
Zwischen den beiden entsteht eine erotische, unterschwellige Spannung. In Sardinien, wo die Geschichte zunächst spielt, führt Eleonore den Studenten Chirú in einschlägige Künstlerkreise ein, und der Leser*in erfährt selber, wie es in diesen Kreisen zugeht.

Eleonore hat Freunde und ehemalige Geliebte, die sie auf ihrem Lebensweg begleiten, und mit denen sie in regem Austausch steht, auch in Fragen ihres eigenen Lebens.
Fabrizio, einer von ihnen, warnt sie vor den Folgen, sich mit so einem jungen Studenten abzugeben. Aber sie kann es nicht lassen.
In langen Passagen geht es um Begegnungen aller Art, immer wieder aber auch um die stete Annäherung Chirús an Eleonore. Beide sind voneinander fasziniert.
Sie nimmt ihn mit auf eine Reise nach Rom, wo sie ein Engagement hat. In Museen und beim Essen sehen sie sich und tauschen Gedanken aus. Der Zauber der wunderbaren Stadt lässt Nähe und Sehnsüchte bei den beiden aufkommen. Oh Jugendzeit, Du schöne Zeit! Eleonore spürt erste Zeichen des Älterwerdens, wenn sie auch eine schöne Frau zu sein scheint.

Chirú und Eleonore werden als Antipoden dargestellt. Jeder sucht etwas beim anderen, das man selber nicht hat. Zwei verlorene Seelen, die sich unter dem Deckmantel der Lehre begegnen und in Wahrheit Liebe und Anerkennung suchen. Eleonore bewegt sich wissend durch ihre Kreise und zeigt Chirú, wie man sich gut darstellt.

Richtig spannend wird die Geschichte, als Eleonore ein Engagement in Stockholm erhält. Chirú will nachkommen. Unerwartet trifft Eleonore einen schwedischen Dirigenten wieder, den sie schon in Cagliari einst getroffen hat. Nun wendet sich das Blatt, und die Geschichte endet geheimnisvoll.

Murgia versteht es wunderbar, einzelne Charaktere hervorzuheben. Es geht ihr dabei auch um Treue, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Liebe kommt und vergeht und Dinge geschehen, die man nicht ändern kann. Die Frage nach Unrecht und Wahrhaftigkeit wird zuletzt zur Kernfrage der Geschichte. Ist der Mensch gut oder schlecht? Welche Folgen hat das Glück oder Unglück? Die Antwort bleibt die Autorin schuldig, denn Gefühle und Bedürfnisse wechseln, und die reine Wahrheit gibt es nicht. Aber schuldig wird der Mensch da, wo er Verletzungen auslöst, die nicht vermeidbar sind, wenn man seinen eigenen Weg gehen will. Ambivalenzen zeichnen zwischenmenschliche Beziehungen aus, so dass es immer wieder zu Missverstehen kommen kann. Das alles macht sie Erzählung zu einer faszinierenden Geschichte, die gut und schlüssig erzählt wird!

Michela Murgia
Chirú
Verlag Klaus Wagenbach, März 2017
206 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3803132878
ISBN-13: 978-3803132871
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Mattias Edvardsson: Die Bosheit

Mattias Edvardsson: Die Bosheit

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Mikael und Bianca sind mit ihren Kindern nach Köpinge, einer Kleinstadt Südschwedens, gezogen. Hier hoffen sie auf ein ruhiges Leben. Mit den Nachbarn wird es sicher keine Probleme geben, denn die beiden haben vor, Abstand zu wahren. Doch ist das schwierig, da es zwischen den vier Einfamilienhäusern einen gemeinsamen Innenhof gibt. Die Nachbarn erwarten außerdem, dass sich die Neuen an gewisse Traditionen halten.

Das Buch beginnt dramatisch. Bianca muss nach einem schweren Unfall, der direkt an der Einfahrt zum Hof passiert, ins Krankenhaus. War es tatsächlich ein Unfall oder wurde sie mit Absicht angefahren?

Die Antwort auf die Frage ist in der Vergangenheit zu suchen. Und so wird zurückgeblickt und erzählt, was sich seit Mikaels und Biancas Einzug zugetragen hat. Wie sich die Nachbarn verhalten haben, wie man zusammengewachsen ist und wie sich das auf die beiden ausgewirkt hat. Man hat versucht, ein bestimmtes Bild eines freundlichen Miteinanders zu wahren. Doch ist das nichts als Schein. Jeder hat mit Problemen zu kämpfen oder etwas vertuschen. Wenn man so dicht beieinander lebt, ist es jedoch schwierig, Geheimnisse zu wahren. Es wird unauffällig beobachtet, spioniert, nachgeforscht und durch Tratsch manipuliert und beeinflusst. Man spielt sich gegeneinander aus. Unheimlich ist das.

Das Buch ist drei Erzählstränge aufgeteilt. Der Autor lässt abwechselnd Mikael, die Nachbarin Jacqueline und deren Sohn Fabian erzählen. Das sind also die Schlüsselfiguren. Und jede hat ihre eigene Sichtweise. Zwischenmenschliches wird genau beleuchtet.

Nun, nach dem Unfall, steht die Schuldfrage im Raum. Hat man dazu gelernt? Verstellt man nicht länger den Blick auf die wahren Probleme? Rauft man sich zusammen? Oder akzeptiert man einfach das Augenscheinliche, um sich nicht mit den eigenen Unzulänglichkeiten, Irrtümern oder Fehlhandlungen auseinanderzusetzen zu müssen?

Der Autor schafft eine Stimmung, die weiteres Unheil verspricht. Es gelingt ihm sehr gut, die Spannung immer weiter auszubauen, die vor allem von Emotionen getragen wird. Ich habe mich von dem flüssig geschriebenen Roman perfekt unterhalten gefühlt.

Rezension von Heike Rau

Mattias Edvardsson
Die Bosheit
Deutsch von Annika Krummacher
448 Seiten, Klappenbroschur
Limes Verlag, November 2021
ISBN-10: 3809027227
ISBN-13: 978-3809027225
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Elizabeth Strout: Oh William!

Elizabeth Strout: Oh William!

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Wieder geht es in diesem Roman um Lucy Barton, die schon aus einigen früheren Romanen bekannt ist.

Heute ist sie schon fortgeschrittenen Alters.
Ihr zweiter Mann David ist tot, und sie lebt alleine.
Zu William, ihrem ersten Mann, einem Biologieprofessor, hat sie den Kontakt nie verloren.

In kurzen Episoden erinnert sie sich an das Leben, das sie als glückliche Familie mit ihren zwei Töchtern und William einst gelebt hat.
Wir erfahren, warum sie ihn verließ, und wir hören, wie innig ihre Beziehung zu ihren Töchtern ist, die inzwischen längst verheiratet sind, und an deren Leben sie lebhaft Anteil nimmt.

Inzwischen ist Lucy eine gefeierte Schriftstellerin.
Sie ist eine sehr gefühlvolle Frau, die gute wie schlechte Zeiten in ihrem Leben erlebt hat.
Die Nähe und das Heimatgefühl, das sie bei William immer gefühlt hat, das hat sie nie vergessen.
Die beiden sind Freunde fürs Leben geworden. In schwierigen Momenten suchen sie immer Kontakt zu einander. Jetzt ist es so weit: auch Williams dritte Frau hat ihn verlassen.
Die Sprache, die die Eheleute mit einander sprechen, lässt auf eine tiefe Vertrautheit schließen.

Elizabeth Strout hat die besondere Gabe, sich ihren Figuren mit sehr viel innerer Wärme zu nähern und auf diese Weise den Leser*in ganz in den Bann ihrer Erzählung zu schlagen.
Sie ist den beiden Hauptprotagonisten so nah, dass man fast meint, es hier mit einer Biographie zu tun zu haben.

Der Roman ist ein wenig episodenhaft aufgebaut. So hört man einmal, wie es früher war, um dann wieder im Heute anzukommen. Es sind die feinen kleinen Details, die uns immer wieder begeistern.
Die Nachbarn, Freunde, das tägliche Leben oder auch Landschaftseindrücke: wir dürfen an allem teilnehmen.

Strouts Protagonistin Lucy, die in der Ichform erzählt, ist ausgesprochen reflektiert in ihren Überlegungen; dass sie aus sehr armseligen und lieblosen Verhältnissen stammt, kann man fast nicht glauben. Ihre traurige Kindheit und Williams liebevolle Mutter, die allerdings ein Geheimnis mit sich trägt, sind ebenso Gegenstand der Erzählung, wie die momentanen Gefühlszustände ihrer Hauptpersonen: Lucy und William.
Ein ganzes Leben mit Höhen und Tiefen erschließt sich vor dem Auge des Lesers/ Leserin.

Da allgemeine Lebenserfahrungen zur Sprache kommen, lassen sich Parallelen zum Leben des/der Lesenden durchaus herstellen. Tiefe Erkenntnisse und Einsichten bringen uns immer wieder zum Nachdenken.

Weisheit bietet das Ende des Romans, in dem es heißt: „Wir sind alle gleich unerforschlich. Das ist die einzige wirkliche Wahrheit, deren bin ich mir ganz sicher.“

Elizabeth Strout ist eine Meisterin der Innenschau, der psychologischen Beobachtung und der unendlichen Suche nach dem Kern der Wahrheit unseres Selbst. Sie spürt feinste Unterschiede zwischen den Charakteren ihrer Hauptfiguren auf und blickt mit überzeugender Menschenkenntnis hinter die nach außen gezeigten Fassaden.

Ihr Roman gehört zu den Büchern, die man nicht aus der Hand legen will.

Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.

Elizabeth Strout
Oh William!
Luchterhand Literaturverlag, November 2021
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630875300
ISBN-13: 978-3630875309
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Jonathan Franzen: Crossroads

Jonathan Franzen: Crossroads

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Dieser Roman des amerikanischen Autors Jonathan Franzen ist eine in epischer Breite angelegte Familiengeschichte. Es handelt sich um eine Pfarrersfamilie, die in einem Vorort von Chicago lebt. Marion und Russ Hildebrandt, die Eltern, haben vier Kinder, die sich alle in eigenwilliger Weise entwickeln.

Wir befinden uns im Jahr 1971. Christliche Gemeinden spielen eine wichtige Rolle im amerikanischen Gesellschaftsleben. Hier schaut jeder auf den anderen, und alles wir genau registriert. Moralische Tugenden sind das Ziel allen Handelns.

Marion und ihr Mann befinden sich in der Midlife – Crisis. Für Russ kommt erschwerend hinzu, dass ihm ein jüngerer Kollege mit modernen Formen des Miteinanders, die fast therapeutische Dimensionen annehmen, Konkurrenz macht. Besonders die Jugend fühlt sich zu dem jüngeren Pfarrer hingezogen.

Bei den diversen Aktivitäten der Figuren geht es immer um das rechte Verhalten, um Anstand und Ehrlichkeit. Marion und Russ verhalten sich beide nicht danach!
Sie hängt vergangenen Sünden nach, und Russ sucht Trost bei einer jüngeren Witwe, die zur Kirchengemeinde gehört.

Die Kinder werden selbständig, beobachten ihre Eltern, merken, dass da nicht alles stimmt und sind entsprechend verunsichert.
Clem, der älteste Bruder, verlässt irgendwann die Familie, um in den Krieg ziehen. Er will nach Vietnam, weil er das seinen Altersgenossen schuldig zu sein glaubt.
Becky leidet unter den Druck der Eltern so sehr, dass sie sich schließlich abwendet, um einen sehr eigenen Weg zu ihrem Glück zu finden.
Perry gerät vollends auf Abwege und wird krank.
Der jüngste Bruder spielt die unscheinbarste Rolle und kommt gar nicht zu Wort.

Über lange Strecken der Geschichte wird man Zeuge von gedanklichen Skrupeln der Eltern und ihren inneren Selbstvorwürfen. Unter den Geschwistern herrscht ein reichliches Durcheinander in ihrer Gläubigkeit. Sie suchen auf unterschiedlichen Wegen den Zugang zu Gott oder entziehen sich ganz.
Die Anklagen, Selbstbeschuldigungen, die unheimliche Dynamik zwischen den Familienmitgliedern und der innere Druck in Fragen eines tugendhaften Lebens wirken zuweilen erdrückend.

In dem Roman stimmt alles. Die Familiengeschichte ist realitätsnah geschildert. Leider aber hat der Roman unendliche Längen.
Jeder einzelnen Person werden lange Seiten in ihrem Sein und Werden gewidmet. Rückblicke und momentanes Handeln wechseln in der Erzählung ab. Jonathan Franzen scheint sich hier zuweilen zu verzetteln.
Zum Ende hin wirkt alles sehr schlüssig, und das ist die Stärke des Romans.

Es ist die Akzeptanz des Unabänderlichen, die beeindruckt. Und es ist die klare Haltung, mit der Becky ihr Leben in die Hand genommen hat, um ihr Glück vor den Forderungen der Familie zu schützen. Alle anderen scheinen nicht so weit gekommen zu sein.

Der Roman ist ein großartiges Zeitgemälde der siebziger Jahre, einer Zeit, in der verlogene Moral und nebulöse Tugenden die Menschen in ständige Konflikte mit sich und mit ihrer Umwelt brachten.
Wie wird das alles wohl weitergehen?

Jonathan Franzen hat mit dem Roman „Korrekturen“ Weltruhm erlangt und wurde vielfach ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Santa Cruz, Kalifornien.

Jonathan Franzen
Crossroads
Rowohlt Buchverlag, Oktober 2021
832 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498020080
ISBN-13: 978-3498020088
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Bernhard Schlink: Die Enkelin

Bernhard Schlink: Die Enkelin

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In dem neuen Roman von Bernhard Schlink werden wir in eine Ehe hineingezogen, die von der langsamen Verwahrlosung einer Frau berichtet. Einer Frau, die von ihrem Mann Kaspar unverbrüchlich geliebt und umsorgt wird.

Wie ist es dazu gekommen?
Birgit, die Frau von Kaspar, ist Schriftstellerin. Nie aber kommt ein Roman von ihr zustande.
Nach ihrem Tod findet Kaspar ein Manuskript und beginnt zu lesen.
Nun erfährt er und auch wir Leser*innen ihre ganze Geschichte.

Bernhard Schlink hat einen Blick für die Untiefen im Menschen. Er zeigt uns in seinem Roman, wie die Nachfahren der Nazizeit im geteilten Deutschland das Leben erfahren haben. Birgit ist in der DDR aufgewachsen, Kaspar im Westen. Sie lernen sich 1964 auf einem Jugendtreffen in der geteilten Stadt Berlin kennen und lieben. Birgit trägt ein Geheimnis in sich, das ihre Liebe zu Kaspar nicht stören soll.

In den Gesprächen unter den Studenten erfährt man, wie das System DDR funktionierte, und wie sich Freiheit im Westen anfühlte. Die beiden sind jung und verliebt und überwinden alle Hürden.
Mit jugendlichem Mut wechseln sie die Seiten und leben schließlich in Westberlin.

Atmosphärisch dicht und von poetischem Reiz sind Schilderungen der Landschaft auf dem Darß, einer Halbinsel zwischen Ostsee und dem Bodden, auf dem Birgit noch als Studentin einige verträumte Monate in den Semesterferien verbringt.
Kaspar, der sensible Buchhändler, beglückt seine Frau bei passender Gelegenheit mit herrlichen Gedichten. Es entsteht eine differenzierte Betrachtung der Erlebnisse, die seit dem ersten Kennenlernen der beiden stattgefunden haben. Die Ehe wird durch einen unguten Keim belastet.
Es folgt u.a. eine Abrechnung mit der DDR, ein Entblößen dessen, was mit denen geschieht, die unter der Aufsicht einer „hässlichen, kleinlichen, engstirnigen, bevormundenden, erniedrigenden und lähmenden“ ( S.129) Regierung aufwachsen müssen.
Birgit durchläuft im Laufe ihrer Ehe schlimmste Zustände, die im Alkohol ihren Anfang und Fortgang finden.

Es geht hier um ein Stück politischer und gesellschaftlicher Zeitgeschichte: Leben im Osten und im Westen und sektenähnliche Gruppierungen, die dem Völkischen frönen. Wir begegnen Holocaustleugnern, Entfremdungen zwischen Familien und mühsamen Versuchen der Annäherung. Dass Kasper nach langer Suche eine Enkelin und diese einen Großvater findet, gibt dem Ganzen einen zutiefst menschlichen Anstrich. Herz und Sinn finden zusammen.

Die Geschichte ist zugleich anrührend und aufklärerisch. Der Autor zeigt uns die Folgen starrer Ideologien und die Schwierigkeiten zwischen Menschen unterschiedlicher Geisteshaltungen.
Dramatische Ereignisse um Kasper und seine Frau Birgit, die späte Kenntnis von einer Enkelin, die in einem ganz und gar fremden Milieu aufgewachsen ist, erzeugt eine unglaubliche Spannung, die den Leser*in überhaupt nicht mehr loslässt.
Es ist eine ereignisreiche, mit zahlreichen Details ausgestattete, intelligente und weise Erzählung. Man kann die Lektüre nur empfehlen!

Bernhard Schlink ist als Autor durch seinen Roman „Der Vorleser“ wohl bekannt.
Er lebt in Berlin und New York.

Bernhard Schlink
Die Enkelin
368 Seiten, gebunden
Diogenes, Oktober 2021
ISBN-10: 3257071817
ISBN-13: 978-3257071818
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Henning Mankell: Der Verrückte

Henning Mankell: Der Verrückte

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Bertil Krass taucht kurz nach dem Krieg in einer Gemeinde in Norrland auf, nachdem er Stockholm nach einem Arbeitsunfall verlassen hat. Es ist ein Sonntagvormittag und es ist ruhig hier. Man stiehlt ihm den Rucksack mit seinen einzigen Habseligkeiten. Dennoch bleibt er. Dem Leser wird schon zu diesem Zeitpunkt offenbart, dass die Geschichte nicht gut ausgehen wird.

Bertil kommt in einer Pension unter, auch wenn es verdächtig erscheint, dass er kein Gepäck hat. Im Sägewerk gibt man ihm Arbeit. Dass es ein Arbeitslager im Wald gegeben hat, weiß er anfangs nicht. Es existiert nicht mehr, ist aber nicht vergessen. Die, die hier interniert waren, leben im Ort, wie zum Beispiel der Kommunist Svante Eriksson. Auch Bertil ist Kommunist. So schließt er sich der Gruppe an, die an die Öffentlichkeit bringen und aufarbeiten will, was geschehen war. Die Dorfbewohner sollen wachgerüttelt und die Verantwortlichen, mit denen sie in der Gemeinde zusammenleben müssen, zur Rechenschaft gezogen werden.

Doch haben sie eine Chance? Hat Bertil eine? Er versucht, sich etwas aufzubauen. Verliebt sich in Margot, die eine kleine Tochter hat. Doch die Beziehung ist nicht einfach, zumal Bertil immer wieder persönlichen Angriffen ausgesetzt ist. Und selbst wenn es ruhig ist, ist die subtile Bedrohungslage spürbar. Der Autor zeigt in eindringlicher Sprache, wie man ihn übergeht, ausgrenzt, ihm Schuld zuweist und ihn allein lässt mit seinen Ängsten. Wobei hier ausgerechnet Polizeikommissar Lönngren eine ganz besondere Rolle spielt. So entwickelt sich ein Krimi, dessen Opfer Bertil Krass ist und der in einem Amoklauf enden wird, weil er nicht aufgeben kann und will. Der Spannungsbogen wächst stetig und gewinnt immer mehr an Dramatik.

Henning Mankel beschreibt in seinem gesellschaftskritischen Roman detailliert und schonungslos, wie Bertil Krass in die Rolle des Außenseiters gedrängt und ausgegrenzt wird. Nicht offen, sondern aus dem Hinterhalt heraus. Und dahinter steckt eine politische und gesellschaftliche Motivation. Es ist erschreckend zu sehen, wie einer die Fäden zieht. Wie aus einem hingeworfenen Satz und einer erfundenen Anschuldigung ein Gerücht wird, das nichts anderes ist als ein Ablenkungsmanöver, dem man aber Glauben schenkt, nur damit die Geschehnisse des Krieges nicht wieder aufflammen und aufgearbeitet werden müssen. So wächst der Spannungsbogen stetig und die Handlung gewinnt immer mehr an Dramatik.

Das Buch erschien in Schweden bereits 1977, wurde aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt.

Rezension von Heike Rau

Henning Mankell
Der Verrückte
Aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer
512 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag, September 2021
ISBN-10: 3552072497
ISBN-13: 978-3552072497
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Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

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Eine Frau von Mitte dreißig plagt sich redlich, ihre Familie durchzubringen. Sie wohnt in einem Dorf am Rande Rumäniens. Alle leben in ärmlichen Verhältnissen. Filip, ihr Mann, ist faul und trägt kaum zum Unterhalt der Familie bei. Daniela hat ihren Beruf als Angestellte hinter sich gelassen, da es keine Arbeit für sie gibt.
Angelica, die Tochter, studiert und hat sich von der Familie entfernt. Die Großeltern spielen eine wichtige Rolle, da sie Manuel, dem kleinen Bruder, emotionalen Halt bieten.

Eines Tages reist Daniela nach Italien. Sie hat gehört, man suche dort Hilfe für die Pflege alter Menschen und als Kindermädchen.
Man muss sich vorstellen, wie groß die Not sein muss, dass eine Mutter Familie, Kinder und die alten Eltern verlässt, um im Ausland Geld zu verdienen!

Marco Balzano lässt die einzelnen Protagonisten selber sprechen. In jedem Kapitel spricht und erzählt einer/ eine in der Ichform. Es entsteht mit dem Perspektivwechsel jeweils aus unterschiedlicher Sicht das Bild einer zerrissenen Familie. Nur Filip kommt nie zu Wort. Er ist innerlich und äußerlich abwesend. Er trinkt, baut ein wenig an dem Haus herum, das sie bewohnen, und geht seiner Wege. Eines Tages ist er ganz verschwunden.

Daniela erlebt eine Phase der schrecklichen Schufterei fern von zu Hause mit häufig unzufriedenen Angehörigen derer, die sie pflegt. Es ist eine Kräfte zehrende Arbeit.

Balzano bietet schöne Landschaftsbilder, die der kleine Manuel für sich entdeckt. Er liebt das Land, die Großeltern und bleibt ein Schulversager. Ein großes Unglück bricht eines Tages über die Familie herein. Die Erzählung lässt die Folgen sichtbar werden, die dieses Unglück für alle mit sich bringt.

Balzano hat sich der Ärmsten angenommen und zeigt uns, wie schrecklich das Los der Frauen ist, die aus den armen Ländern Osteuropas zur Pflege ins Ausland gehen. Familienbindungen gehen zu Bruch, Kinder werden vernachlässigt, und das Leben ist wahrlich entbehrungsreich, da es nur ums Geld geht, das die armen Frauen ihren Familien nach Hause schicken. Das schwere Schicksal, das Daniela aufgebürdet ist, nagt an ihrem Selbstwertgefühl und lässt sie zu einer früh gealterten Frau werden. Demütigungen eingeschlossen muss sie sich bitter in der Fremde zurechtfinden. Unermüdlich nimmt sie neue Stellen an und entwickelt gelegentlich sogar Zuneigung zu den ihr anvertrauten Menschen. Insgesamt aber fragt man sich: wo bleibt das eigene Ich unter diesen Bedingungen?

Am Ende sucht jeder/ jede einen Weg für das eigene Überleben. Blessuren bleiben niemandem erspart.
Marco Balzano wählt die literarische Form, die in treffenden Bildern das Elend dieser Frauen sichtbar macht.

Marco Balzano lebt mit seiner Familie in Mailand, wo er als Lehrer arbeitet.

Marco Balzano
Wenn ich wiederkomme
Diogenes, September 2021
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257071701
ISBN-13: 978-3257071702
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Sally Rooney: Schöne Welt, wo bist du?

Sally Rooney: Schöne Welt, wo bist du?

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Der vorliegende Roman handelt von vier Menschen um die dreißig, denen die Orientierung zum eigenen Weg und zueinander Schwierigkeiten bereiten.

Alice und Felix befinden sich in der Kennenlernphase. Sie ist erfolgreiche Schriftstellerin und Felix ist Lagerarbeiter. Über das Internet haben sie Kontakt gesucht und gefunden.

Eileen, die auch eine Rolle spielen soll in dieser Erzählung, ist die beste Freundin von Alice. Während ihres Literaturstudiums in Dublin hatten sie sich eng befreundet. Sie teilen seither ihre Erfahrungen und fühlen sich innerlich sehr verbunden.

Alice hat sich inzwischen an einen abgelegenen Ort am Meer zurückgezogen, um zu schreiben.
Eileen hat einen Freund aus frühen Kindheitstagen namens Simon. Haben die beiden eine Liebesbeziehung oder sind sie nur Freunde?

Um die vier jungen Leute spinnt sich allmählich ein ganzes Geflecht von Beziehungen mit ihren diversen Liebeserfahrungen und missglückten Partnerschaften. In langen Mails und Telefonaten versuchen sie einander näher zu kommen. Eine gewisse Sprachlosigkeit und stille Scheu macht sich breit.

Es fällt auf, dass Sally Rooney die ganze Geschichte zögerlich entwickelt. Immer wieder treffen einzelne Protagonisten bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen. Die gegenseitigen Flirts sind von grober Ironie und gelegentlicher Bissigkeit, jedenfalls aber irreführend, so als müsse sich jeder/ jede vor Verletzungen schützen.

Für den Leser*in drängt sich ein Gefühl von Pessimismus und Hoffnungslosigkeit in den Vordergrund. Einsamkeit wechselt mit Gefühlen der Sinnsuche. Die kühle und spröde Landschaft tut ihr Übriges, um diesen Eindruck zu verstärken.

Die Fragen, die sich immer wieder aufwerfen, betreffen das Sein und Werden der Protagonisten.
Findet man den richtigen Partner? Wird man geliebt oder liebt man? Die Paare zweifeln an der gegenseitigen Liebe und stellen immer wieder alle Beziehungen infrage. Man misstraut den eigenen und den Gefühlen der anderen. So leben sie aneinander vorbei und treffen doch immer wieder zusammen.

Sprachlich gewandt und differenziert entwirft die Autorin das Bild einer Generation von Menschen, die sich schwertut, die Beziehung zu den Mitmenschen offensiv anzugehen. Die alles hinterfragenden Figuren verzweifeln an der Sicherheit, die sie sich wünschen aber selbst immer wieder unterminieren. Auch sind die Partner in ihrem Verhalten von tiefer Bindungsangst erfüllt.

Es ist eine Erzählung, die von der Reflexion lebt und hin und wieder in langen Passagen in ihr versinkt.

Sally Rooney beschreibt die Generation junger Menschen, die zuletzt unter der Pandemie zu leiden hatte. Annäherungen sind erschwert durch den Lockdown. Es herrscht zudem ein Klima der Ratlosigkeit über die Zukunft unseres Planeten.

Insofern hat die Autorin sehr genau beobachtet, was junge Erwachsene heute umtreibt, um dem Leben Sinn und Freude abzugewinnen. Es ist ein mühsamer Prozess, von dem man nicht weiß, wie er enden wird.

Sally Rooney, Jahrgang 1991, lebt in Dublin und gilt als anerkannte und herausragende Stimme ihrer Generation.

Sally Rooney
Schöne Welt, wo bist du?
Claassen, September 2021
352 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3546100506
ISBN-13: 978-3546100502
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Éliette Abécassis: Mit uns wäre es anders gewesen

Éliette Abécassis: Mit uns wäre es anders gewesen

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Zwei junge Menschen, Amélie und Vincent, treffen sich an der Sorbonne, als sie sich für das nächste Semester einschreiben wollen. Später geht man als Grüppchen noch in ein Café.

Vincent und Amélie verplaudern die ganze Nacht, in der sie sich über ihre Herkunft, die Zukunftswünsche und ihre Träume unterhalten. Sie erfahren viel über sich aber nicht genug.

Bald ist klar, dass sie sich verliebt haben. Ein nächstes Treffen wird vereinbart. Und dann passiert eine Schicksalswende: sie verpassen sich!

Das Leben geht weiter. Im großen Abständen begegnen sie sich wieder. Sie hat innerlich an ihm festgehalten, während er inzwischen verheiratet ist und zwei Kinder hat. Auch Amélie findet einen Mann, von dem sie glaubt, er könnte der Richtige sein. Nach der Geburt ihrer Kinder aber tut sich eine Leere auf, die am Ende zur Scheidung führt. Bei den Kindern merken beide erst, wie sehr sie lieben können, während ihre Ehen im Alltag und in der Gleichgültigkeit versinken.

Die Jahre gehen ins Land. Nach dreißig Jahren und vielen Zwischenstationen auf ihren Lebenswegen begegnen sich die beiden wieder. Sie empfinden großes Glück miteinander!

Éliette Abécassis hat einen bezaubernden Roman geschrieben. Die Atmosphäre des Studentenlebens ist wunderbar eingefangen. Es ist das Glück des Neubeginns, der jugendlichen Freiheit und die Neugier auf das Leben, die uns die Autorin vermittelt.

Amélie ist die zarte, empfindsame und von Selbstzweifeln geplagte Frau, die sich nach dem großen Glück sehnt. Es hat lange gedauert, bis sie sich zu einer ersten Ehe entschlossen hatte.

Der Leser*in lässt sich vom Leben in der Pariser Gesellschaft beeindrucken und empfindet mit, wie locker und frei Begegnungen und Feiern ablaufen.

Das Entscheidende an dieser Erzählung aber ist die unterschwellige Spannung und der Charme, mit der die Liebe zwischen zwei Menschen bestehen bleibt und erst nach vielen Wirren, Enttäuschungen und zerplatzten Lebensträumen noch einmal neu aufflammt. Oder ist sie nie erloschen?

Ich war hingerissen, weil es den Leser zuerst in die Welt der Jugend mitnimmt und neben der Leichtigkeit die Tragik nie weit ist. Auch alles Folgende ist besonders reizvoll, weil eine immerwährende Sehnsucht nach der einen großen Liebe spürbar bleibt.

Menschwerdung und Menschsein zeigt sich facettenreich und getragen von Sehnsüchten, die dem Menschen eigen sind. Irrtümer können unerwartete Wendungen herbeiführen, und das Schicksal und der Zufall spielen mit. Verletzungen, die Partner sich zufügen können, werden ebenfalls in den Focus genommen.

Wer am Ende zu wem findet, und ob es das vollkommene Glück überhaupt gibt, das bleibt hier die Frage.

Auf jeden Fall ist die Geschichte lesenswert, weil sie mit der lockeren, flotten Erzählweise, die nicht der Tiefe entbehrt und uns keine schöne Welt vorgaukelt, besonders gut getroffen ist.

Das Büchlein liest sich leicht, ist spannend und anregend bis zur letzten Seite und verspricht anhaltendes Lesevergnügen.

Éliette Abécassis
Mit uns wäre es anders gewesen
144 Seiten, gebunden
Arche Literatur Verlag, Juli 2021
ISBN-10: 3716027979
ISBN-13: 978-3716027974
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