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Kategorie: Biografie

Annie Ernaux: Eine Frau

Annie Ernaux: Eine Frau

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Annie Ernaux hat bereits in drei früheren Büchern Episoden aus ihrem Leben erzählt.
Ihre emotionale, visuelle und intellektuelle Wahrnehmung über Tage und Jahre oder Beziehungen ihres Lebens sind tief berührend und erschütternd.

Hier geht es um ihre Mutter, nach deren Tod sie diese Erinnerungen verfasste.
Aus ärmsten Verhältnissen stammend ist das Leben ihrer Mutter vom Kampf um Arbeit und gesellschaftlichem Ansehen hart gezeichnet.
Ihre zweite Tochter nach dem Tod einer ersten soll es einmal besser haben. Wir wissen aus Ernaux’ anderen Büchern, dass dieses Mädchen Annie begabt war und den Aufstieg ins bürgerliche Milieu geschafft hat. In den assoziativ verfassten Erinnerungen der Autorin wird man unmittelbar konfrontiert mit gesellschaftlichen Gegensätzen zwischen arm und reich, zwischen gebildeten Bürgern und denen, die sich des Geldmangels wegen um derlei Bildung nie kümmern konnten. Mühsam ist der Weg zum aufstrebendem Bürger, wenn der Alltag alle Kräfte verzehrt, so dass kein Moment der Muße, des Genusses und der Kontemplation möglich ist. Annies Mutter ging es nach außen hin um gutes Ansehen, um den Erhalt von Würde und Anstand.
Annie entfernte sich aus dieser Welt; zuerst in einem Job als Betreuerin in einem Kinderferienlager, dann durch den Besuch weiterführender Schulen bis zur Universität.
Sie heiratet einen Mann aus gut bürgerlichem Milieu und bekommt zwei Kinder.

Der Kontakt zu den Eltern bleibt erhalten. Als der Vater stirbt, kümmert sich Annie um die Mutter. Diese hat einen starken Charakter und feste Prinzipien in ihrer Lebensführung.
Es geht in dem schmalen Büchlein nur um die Mutter. Annie Ernaux versteht wie durch ein Brennglas ihre objektive Berichterstattung von ihren eigenen Gefühlen zu trennen. Doch spürt man sehr wohl, dass sie nicht ohne innere Teilnahme ist.
Mutter und Tochter sind so verschieden! Annie Ernaux schwankt zwischen beobachtender Anhänglichkeit, Rebellion und Verständnis.
Tief anrührend beschreibt sie das Alter und die Demenz der Mutter. Erst spät erkennt Annie Ernaux, wie sehr sie sich getäuscht hat, und wie sehr sie mit ihrer Mutter im Innersten doch verbunden war!
Ihr Tod lässt sie gewahr werden, dass ihre Brücke zur Kindheit Vergangenheit ist.
Man liest das schmale Büchlein in wenigen Stunden und bleibt von so viel Offenheit der Autorin ein wenig sprachlos. Die Verbindung von sezierend- klarer Einsicht und innerer Beteiligung ist frappierend. Alle vier biographischen Essays, und so möchte ich ihre Bekenntnisse bezeichnen, sind eindrucksvoll und einmalig in Sprache, Duktus und Wiedergabe von Erlebten.
Sehr lesenswert!

Annie Ernaux
Eine Frau
88 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, Oktober 2019
ISBN-10: 351822512X
ISBN-13: 978-3518225127
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Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter

Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter

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Eingerahmt von der Freundschaft zu dem außergewöhnlichen Kameramann Michael Ballhaus erzählt uns Peter Schneider die Geschichte von Antonio Vivaldi.
Angeregt durch seinen Freund hat er sich auf die Spuren dieses hoch geschätzten und beliebten Komponisten begeben, um sich mit seiner Zeit, seiner Musik und seinem Leben auseinanderzusetzen.

P. Schneider eröffnet uns das Panorama Venedigs zum Ende des 17. und Beginn des 18. Jahrhunderts.

Antonio Vivaldi (1678 -1741) war Zeitgenosse Johann Sebastian Bach. Seiner roten Haare wegen wurde er „prete rosso“ genannt, denn er war Priester der römisch-katholischen Kirche. Er war einer der meist gehörten Komponisten, Violinisten und Musiker des Barock zu seiner Zeit in Italien.

In Venedig, dieser wunderschönen Stadt, lebte er und wurde von seiner Mutter schon in jungen Jahren zum Priester ausersehen. Die Eltern waren arm und hatten viele Kinder. Das Priestertum versprach regelmäßige Einkünfte, mit denen Antonio Vivaldi seine Familie unterstützen konnte.

Doch früh schon liebte er die Musik und geriet als Lehrer an ein Waisenhaus. Die Schüler, in der Mehrzahl Mädchen, wurden von ihm in Musik unterrichtet. Er gab jeder/ jedem ein Instrument. Aus diesen zahlreichen Musikanten bildete er das erste Frauenorchester Europas. Hier konnte er seine vielseitigen Kompositionen zur Aufführung bringen. Natürlich musste und wollte er sein Priesteramt ruhen lassen, was nicht immer zur Zufriedenheit der hohen Geistlichkeit geschah.

In Venedig bildete das bunte Treiben in den Gassen, die Gondolieri und die Kirchen mit ihren geistlichen Oberhäuptern in der Beschreibung des Autors ein eindrucksvolles Bild, das man lebhaft vor Augen zu haben meint.

In intensiven Forschungen führt uns Peter Schneider das Leben Vivaldis teilweise fiktiv und teilweise historisch vor.

Die Armut, die Musik und das Geld sind die Triebfedern von Vivaldis Handeln. Er schäumt über vor musikalischer Begeisterung, und komponiert ein Konzert und eine Oper nach der anderen. Das Ränkespiel um Posten, Ansehen und immer wieder die Geistlichkeit mit ihrer weitreichenden gebieterischen Macht bestimmten in großen Teilen das Leben der Armen und Abhängigen. Sich zwischen diesen Mächten, unter ihrer Korruption und dekadenten Lebensweise einen Weg zu bahnen, der ihn komponieren, musizieren und überleben lässt, ist das Wunder, das Vivaldi fertigbringt. Er wird berühmt, reist durch Europa und genießt hohes Ansehen.

Am Ende seines Weges aber ist er alt, arm und aus dem Land seiner Väter verstrieben. In Wien, seinem letzten Fluchtort, bekommt er wie so viele Musiker vor und nach ihm ein Armenbegräbnis.

Das Buch nennt sich zwar Roman, gleicht aber in weiten Teilen einer historischen Biographie. Zahlreiche regierende Häupter sind genannt, Komponisten und ihre musikalischen Entwicklungen werden erläutert, Finanzgebaren und Lebensweisen aufgeführt, so dass man sich in die Zeit zurückversetzen kann, um sich eine Vorstellung zu machen, wie Leben damals war.

Dass Vivaldi erst etwa Mitte des vergangenen Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, hat der Musikwelt neue Türen zur Barockmusik geöffnet.

Peter Schneider gebührt Anerkennung für diese so gut recherchierten Erinnerungen an einen Mann, der mit seinem vielseitigen Werk der Musikwelt zur Freude gereicht!

Peter Schneider
Vivaldi und seine Töchter
288 Seiten, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, November 2019
ISBN-10: 3462052292
ISBN-13: 978-3462052299
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Sasa Stanisic: Herkunft

Sasa Stanisic: Herkunft

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Wie erinnert man sich seiner Herkunft?

Herkunft ist ein Hörbuch von höchst bemerkenswerter Eigendynamik.
Der Autor Sasa Stanisic stammt aus einem Land, das einmal ein Land, dann zwei dann viele waren. Ursprünglich hieß es Jugoslawien, das dann in so viele verschiedene Länder zerfiel.
In den Erinnerungen von Sasa Stasinic verwischen sich allerdings seine Herkunftsorte zu Serbien, Bosnien oder zuvor eben unter Tito Jugoslawien. Religionen sind ihm ganz fremd, und naiv macht er die muslimische Mutter daran fest, dass sie kein Schweinefleisch isst, quasi als eine Form der Diät.
Stanisic’s Großmutter kommt zunächst häufig zu Wort; doch alle Erinnerungen sind assoziativ, kreisen um Sommer, Winter, Vögel, Schlangen und das Gefühl von Heimat.
Auf die Frage „wo komme ich her“ gibt es nur die Antwort “von hier, du kommst von hier.“
Auch Gebäude geben die Herkunft an.Hier es gibt die Bessergestellten und dort die Ärmeren.

Stanisic liest seine Geschichten selber mit einem angenehmen, etwas rauchig oder beinahe heiser klingenden Tonfall. Fast hat man den Eindruck, seine Gedanken entstehen im Moment des Sprechens. Akzente entstehen in kurzen Sätzen, wechseln Zeit und Ort, einmal 1992, das Fluchtdatum, dann wieder 2018 in der Gegenwart.

Sasa Stanisic ist ein Wortakrobat und ein Trapezkünstler der Sprache. Voller Lebensfreude, z.T. auch melancholisch, dann wieder amüsiert und hingerissen klingen seine Worte und er landet bei Eichendorf, dem wehmütig- sehnsüchtigen Lyriker. Stasinic zuzuhören erzeugt Glücksgefühle, denn es gibt keine fortlaufende Handlung. Man lässt sich auf den Klang seiner Aussprache und seines Singsangs mit seinen momentanen Eingaben ein; er scheut sich nicht in Ansätzen Lieder zu singen.

Heidelberg ist die Station seiner Bildung und Ausbildung. Wie er diese Stadt beschreibt kommt einem vertonten Gemälde gleich.
Die Herkunft ist das Leitmotiv und sicher sind seine Erinnerungen tiefenscharf. Doch geht es auch um das Fremdsein, eine Identität des Wanderers zwischen dem Herkunftsland und dem jetzigen Wohnort Deutschland. Und Herkunft findet immer wieder auch seinen Platz bei der Großmutter. Er beschreibt sie als festen Hort in seiner Erinnerung bis hin zu Gegenwart: sie wird liebevoll und skurril skizziert, und man spürt eine stille Zärtlichkeit.

Nachdem ich zunächst ein wenig skeptisch war, mich auf die assoziative Melodie des Hörens einzulassen, geriet ich mehr und mehr in den Sog dieses lebendig pulsierenden Sprachgesangs. Zuletzt hat es mich vollkommen mitgerissen!

Man sollte das Buch in seiner wunderschönen Prosa lesen oder besser noch hören!

Sasa Stanisic
Herkunft
368 Seiten, gebunden
Audible Hörbuch
Der Hörverlag
ISBN-10: 3630874738
ISBN-13: 978-3630874739
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Charles J. Shields: Der Mann, der den perfekten Roman schrieb

Charles J. Shields: Der Mann, der den perfekten Roman schrieb

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„John Williams, der den Roman „Stoner“ schrieb, wurde erst lange nach seinem Tod berühmt und gilt heute als Ikone in der amerikanischen Literatur“. So lautet es auf dem Klappentext. Und in der Tat ist der Roman „Stoner“ ein unerhörtes Leseerlebnis.

Charles Shields hat sich auf Spurensuche begeben und eine wunderbare Biographie dieses Ausnahmetalentes geschrieben.

In vielen Details, mit klugen Gedanken arbeitet er heraus, wie sehr John Williams’ Leben dem seines Romanhelden „Stoner“ glich.

Aus einfachen Verhältnissen stammend arbeitete Williams sich in zahlreichen Nebenjobs hoch, so dass er schon in jungen Jahren einen kleinen Verlag leitete. Bis dahin arbeitete er als Regisseur kleinerer Theater, war Radiomoderator, kämpfte in Zweiten Weltkrieg in der amerikanischen Luftwaffe, war schon mit 24 Jahren zum zweiten Mal verheiratete und so fort. Er lebte in verschiedenen mittelwestlichen Staaten der USA und kam viel herum. Doch dann begann er ein Literaturstudium, und er begann zu schreiben.
In der vorliegenden Biographie beschwört Shields die literarischen und verlegerischen Größen der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Westen und Süden Amerikas herauf. John Williams geriet unweigerlich in diese Kreise und nahm bald einen festen Platz unter ihnen ein.

Die Vielzahl der Namen von Professoren, Schriftstellern, Verlegern u.a. sind für den Leser nicht immer leicht zu behalten. Charles Shields’ Arbeit ist detailreich, genau und gleicht fast einer literarisch wissenschaftlichen Arbeit. Unter den äußeren Daten spürt man sehr genau, wo „Stoner“ biographische Züge seines Erfinders trägt. Wie „Stoner“ kam Williams aus einfachen Verhältnissen. Ein gemeinsames Merkmal scheint auch die Einsamkeit zu sein, unter der beide litten, auch wenn John Williams äußerlich einen großen Bekannten- und Berufskreis hatte. Wie sein Protagonist ist Williams besessen von seiner schriftstellerischen Arbeit und hat wenig Zeit für sein Privatleben. Kein Wunder, dass er vier Ehen hinter sich hat!

Shields versäumt nicht, auf die landschaftlichen Schönheiten der Aufenthalte von John und seiner vierten Frau hinzuweisen. Denver, Key West, Missouri, Boston und wie die Orte alle heißen, an denen John Williams lebte und arbeitete. Sie werden äußerst malerisch beschrieben. Wildes, schönes Amerika!

In dem ausführlichen Lebenslauf von Williams gab es Höhen und Tiefen, es gab viel Alkohol, es gab Stimmungsschwankungen, aber es gab auch eine Vielzahl von Begegnungen mit anerkannten Größen des Literaturbetriebs, Freundschaften, Feindschaften, Rivalitäten und nicht zuletzt zahlreiche anerkannte Preise.

Während der Roman „Stoner“ in Amerika in Vergessenheit geriet, entdeckte ihn die französische Schriftstellerin Anna Gavalda 2007 für Europa neu. Der Roman begann mit der Übersetzung in fast alle Sprachen von Belang seinen Siegeszug um die Welt.

Am Ende scheint es, dass Williams gar nicht so unbekannt war, wie es der Klappentext vermuten lässt.
Er war Dozent, Professor, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller aus Passion. Man liest das Buch voller Staunen über die Vielzahl an Ereignissen, die den Weg dieses Ausnahmeautors bestimmten.

Für Freunde der amerikanischen Literaturwissenschaft ist das Buch eine reiche Quelle, aus der man über die diversen Strömungen und Entwicklungen im Literaturbetrieb der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts etwas erfahren kann.

Meine Achtung gilt dem Autor Charles J. Shields für dieses umfassende Werk!

Charles J. Shields
Der Mann, der den perfekten Roman schrieb
384 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Oktober 2019
ISBN-10: 342328191X
ISBN-13: 978-3423281911
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David Wagner: Der vergessliche Riese

David Wagner: Der vergessliche Riese

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Demenz ist weithin bekannt, doch wie viele verschiedene Formen es gibt, das wissen die meisten nicht.

Alzheimer und die vaskuläre Demenz sind unter den Demenzerkrankten die am häufigsten vertretene Form der Krankheit. Sie nehmen den breitesten Raum in der öffentlichen Wahrnehmung ein.

David Wagner beschreibt mit äußerst sensiblen und einfühlsamen Worten, wie sich sein Vater verändert und welche Folgen das für alle Beteiligten hat.
Die Krankheit beginnt schleichend. Zuerst sind es nur Kleinigkeiten, die vergessen werden.

Nach und nach mehren sich die Verdrehungen und Ungenauigkeiten, mit denen sich die Krankheit manifestiert. Nachfragen und Wiederholungen seitens des Kranken, oft fragend, lassen sichtbar werden, dass der Vater, von dem hier die Rede ist, nicht mehr so klar in seinem Denken ist. Er vergisst Orte und Zeiten, kann sich im Gespräch nicht mehr an Vergangenes erinnern, und seine Orientierungslosigkeit wird immer deutlicher. Lange Zeit aber lassen sich Vergesslichkeiten durch Scherze oder Vertuschungen, auch eine besondere Form der Höflichkeit und Aufmerksamkeit in den Umgangsformen, immer wieder kompensieren. Niemand Außenstehender, selbst nahe Angehörige, die seltener mit dem Angehörigen zusammentreffen, können glauben, dass der Vater dement ist.

David Wagner wählt die besondere Form des Dialogs, um auf das Verschwimmen der Gedanken aufmerksam zu machen. Der Leser wird Teil des Prozesses, in dem der Geist seinen Bezug zur Realität verliert. Die Gespräche verlaufen liebevoll, fast zärtlich und zeugen von anhaltender Teilnahme. Der Autor nimmt alles ernst, was der Vater sagt. Da wird nichts beschönigt oder gar verbessert. Liebevoll versucht er, dem Vater bei seinen Erinnerungslücken auf die Spur zu helfen.
Und liebevoll ist auch die Schilderung, wie der Vater selber seine Vergesslichkeit wahrnimmt.

Wer selber so etwas erlebt hat, wird alles genau so wiederfinden, wie er selbst den Prozess des Hirnabbaus miterleben konnte.
Unaufhaltsam naht der Tag der Heimunterbringung. Man kann zahlreihe Pflegefälle im eigenen Heim bewältigen. Bei Demenz im in fortgeschrittener Ausprägung lässt sich das nicht realisieren. Zu pflegeintensiv und zeitaufwendig sind die Forderungen des Alltags, denn Unruhezustände, Angst und unvorhergesehene Handlungen machen eine Fürsorge rund um die Uhr erforderlich.
Für Angehörige ist die Heimunterbringung ein schwerer Schritt. Möchte man den Wechsel von der vertrauten Umgebung in eine fremde, beängstigende Welt einem Dementen doch auf jeden Fall ersparen.

Es ist David Wagner gelungen, seinem Vater mit diesem Dokument der Erinnerung ein würdiges und von Anerkennung durchzogenes Denkmal zu setzen. Der Vater bleibt der Riese, der er für seine Kinder ja war, er ist nun nur vergesslich!

Ein rundum lesenswertes Buch, das zudem die ganze Zeit einen tröstlichen Unterton behält.

David Wagner
Der vergessliche Riese
272 Seiten, gebunden
Rowohlt Buchverlag, 2. Auflage, August 2019
ISBN-10: 3498073850
ISBN-13: 978-3498073855
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Ursula Voß: Ein Leben für die Liebe

Ursula Voß: Ein Leben für die Liebe

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Louise de Vilmorin war eine berühmte Salonière zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich. Sie entstammte einem begüterten Landadelsgeschlecht und lebte von 1902-1969. Als einzige Tochter neben zahlreichen Brüdern der Familie wurde sie zärtlich verwöhnt.
Sie war schön, reizvoll und besaß Esprit.

In ihren Pubertätsjahren erkrankte sie an Tuberkulose und musste Jahre lang das Bett hüten. Doch sie war verführerisch, so dass sich schon bald die ersten Bewerber um ihre Liebe einstellten. Der Schriftsteller und berühmte Flieger Saint-Exupéry war einer der ersten Bewerber um ihre Gunst. Er sollte nicht der einzige bleiben! Der Briefwechsel mit der von ihm Geliebten brach allerdings erst nach seinem Tod ab.

Louise heiratet mit 23 Jahren einen amerikanischen Unternehmer und geht mit ihm nach Las Vegas in Amerika. Nach der schnellen Geburt dreier Töchter langweilt sie sich, so daß es sie nach New York treibt. Dort begannen entscheidende Jahre, in denen sie sich zu einer Stilikone, Dichterin und Geliebten zahlreicher reicher und berühmter Männer wandelte.

Etwa 1933 zog sie zurück nach Paris. Exupéry führte sie in Paris in den Salon von Madame Lestrange ein. Dort fand sie sich im Kreis anerkannter Intellektueller wieder, und dort fand sie ihre Bestimmung: eine begehrte Dichterin und Liebhaberin zahlreicher Männer und alles Mondänen und Außergewöhnlichem zu werden.

Unter den Liebhabern traten Namen hervor wie Man Ray, Friedrich Sieburg, Jean, Cocteau und Orson Wells. Der aus dem ungarischen Adelsgeschlecht stammende Fürst Esterhazy und am längsten und intensivsten André Malraux und viele andere mehr gehörten ebenfalls zu ihren Liebhabern.

Ursula Voß gebührt Anerkennung dafür, wie sie das Leben dieser außergewöhnlich exzentrischen und verführerischen Dame charakterisiert und nachgezeichnet hat.
Wunderbar beschreibt sie Louise de Vilmorin mit ihrer Ausstrahlung, die sie auf fast jeden hatte, dem sie begegnete. Ihr Esprit, Charme und das glamouröse Ambiente ihrer Kleidung und ihres Auftretens war legendär.
Die Details der Stationen ihres Lebens lassen das Leben der Moderne in Paris und anderswo hervortreten, so dass man sich ein lebhaftes Bild von den Salons und dem kulturellen Leben zu Beginn des 20.Jahrhunderts machen kann.

Die Namen der Personen, denen sie in ihrem Leben begegnete und die Orte und Städte, in denen sie sich aufhielt, sind so zahlreich, dass man fast ein wenig Mühe hat, sich alle zu merken.
Louise fühlte sich selbst zur Schriftstellerin berufen und hat einige namhafte Roman, unter ihnen „Die Frau im Taxi“, verfasst. Mit dem Verleger Gallimard, auch er einer ihrer Verehrer und eine bekannte Größe im damaligen Geistesleben Frankreichs, hatte sie die nötigen Verbindungen, um als Schriftstellerin Erfolg zu haben.

Ein unterhaltsames, informatives und malerisches Bild ist der Autorin Ursula Voß mit ihrem vorliegenden Buch gelungen.

Ursula Voß
Ein Leben für die Liebe
144 Seiten, gebunden
Verlag:Ebersbach & Simon, September 2019
ISBN-10: 3869151870
ISBN-13: 978-3869151878
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Norman Wolf: Die Fische schlafen noch

Norman Wolf: Die Fische schlafen noch

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In einer anrührenden Erzählung beschreibt Norman Wolf, wie er seinen Vater an den Alkohol und zuletzt an die Obdachlosigkeit verlor.

Fing doch das Leben von Norman so wohlbehütet und beschützt im Kreise seiner Familie an! Die liebevolle Mutter, ein grundgütiger Opa und ein kumpelhafter Vater bereiteten ihm einen guten Start ins Leben. Warum er dennoch in der Schule angefeindet wurde, bleibt nicht ganz verstehbar. Zeigte sich hier schon eine besondere Sensibilität, die für die Mitschüler unheimlich war?

Als der Vater seine Stelle verliert und so bald auch keine neue findet, beginnt ein scheußlicher Abstieg in der ansonsten bisher so ruhig verlaufenen Familiengeschichte.
Die Streitereien zwischen den Eltern nehmen an Schärfe zu, als der Vater immer häufiger dem Alkohol zuspricht, die Mutter viel weint, und Norman sich zunehmend ängstigt. Schließlich muss der Vater seine Familie verlassen; die Mutter will es so.

Über zehn Jahre hört niemand etwas von ihm. Den Unterhalt für die Kinder bleibt er schuldig, und gelegentlich denkt man, dass der Vater eben tot ist. In die Familie zieht endlich wieder Ruhe ein.

Zehn Jahre später hat Norman sein Psychologiestudium beendet und ist auf dem Weg nach Amerika, wo er eine Arbeit annehmen wird. Als ihn eine Nachricht vom Vater erreicht, dass dieser inzwischen in Hamburg auf der Straße lebt, beginnt die eigentliche Geschichte. Mit Hilfe der neuen Medien, insbesondere über Twitter, wird von Norman eine aufwendige Suche nach dem Vater gestartet. Zahlreiche Menschen beteiligen sich, helfen, sprechen Mut zu und Norman ist immer weiter auf der Suche nach Kontakten zum Vater, der immer mal wieder unauffindbar ist.

Auffällig ist die außerordentliche Anhänglichkeit und Empathie von Norman. Dass ein Mensch so viel tut, um die verloren gegangene Welt wiederzufinden, dabei stete Liebe und Zuneigung zu Mutter, Vater und Opa zeigt, ist bemerkenswert.
Der Autor war sich unsicher, ob er sein Schicksal in einem öffentlichen Medium wie Twitter preisgeben soll. Viele gute aber auch negative Erfahrungen haben ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen können, die Suche nach dem Vater aufzugeben.
Das Buch zeigt sein ungewöhnliches Talent, Empfindungen in Sprache zu fassen. Seine Offenheit und Wahrhaftigkeit sind beeindruckend.
Damit sind seine Aufzeichnungen hilfreich für alle, die Ähnliches mit Angehörigen oder geliebten Menschen erlebt haben oder noch erleben. Man liest das Buch mit Spannung und angehaltenem Atem.

Norman Wolf
Die Fische schlafen noch
224 Seiten, broschiert
mvg Verlag, August 2019
ISBN-10: 3747400779
ISBN-13: 978-3747400777
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Udo Jürgens: Spiel des Lebens

Udo Jürgens: Spiel des Lebens

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Ja, dass das Leben ein Spiel sei, wie im Titel angedeutet, mag wohl angehen, zumal wenn einer mit jugendlichen Elan seiner inneren Stimme folgt. Aber in den nun folgenden Geschichten von Udo Jürgens, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Michaela Moritz verfasst hat, merkt man sehr schnell, dass es auch Mühsal und Plage sein kann.

Es geht ganz einfach um Beobachtungen von Menschen, die im Alter unerwartet großen Ruhm erlangten; es geht um Betrachtungen über Vergänglichkeit und wesentliche Lebensveränderungen, und es zeigt einmal mehr die nachdenkliche und melancholische Mentalität des Sängers, Entertainers und Chansoniers Udo Jürgens. Eigene Lebenserinnerungen mischen sich mit solchen, die nichts mit seinem Leben zu tun haben.

Im Gegensatz zu den möglichen Erwartungen des Lesers sind die Betrachtungen und Erfahrungsberichte nicht oberflächlich oder nichtig. Die zwei ersten Erzählungen tragen autobiographische Züge und wirken daher echt.
Sei es plötzlicher Ruhm und Erfolg mit den materiellen Möglichkeiten, die diesen Erfolg begleiten, oder sei es eine Wiederbegegnung wie die zwischen dem erfolgreichen Maler und den vor Jahren schon in Berlin in der Paris Bar erlebten Kellner: hier wird Atmosphäre vermittelt, die man unmittelbar nachempfinden kann.
Die Erzählungen erheben allerdings sicher nicht den Anspruch hochwertiger Literatur.

Die folgenden Geschichten aber wirken weit hergeholt und können dem angestrebten Anspruch nicht gerecht werden. Sie sind schlichtweg langweilig.

Der hoch gepriesene Sänger hatte es nicht nötig, sich auch noch ein literarisches Denkmal zu setzen. Insofern nur als leichte Lektüre zu empfehlen.

Udo Jürgens
Spiel des Lebens
224 Seiten, gebunden
S. FISCHER, August 2019
ISBN-10: 3100024354
ISBN-13: 978-3100024350
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Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten

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Unnachahmlich in seiner Beobachtungsgabe schreibt Ferdinand von Schirach über zahlreiche Ereignisse in seinem Leben.

Es sind Szenen aus dem Alltag eines Schriftstellers, der klug, besonnen, einmal mit mehr und einmal mit weniger Empathie über das schreibt, was uns Menschen bewegt.

Verwandte werden einbezogen: so der Vater, ein Onkel und Tage bei Verwandten auf dem Lande oder Bekanntschaften auf seinen vielen Reisen.

Ein jeder sehnt sich nach Hause, doch wo ist das? Oder besteht dieses nur in unserer Erinnerung?

Kluge Fragen und nachdenklich stimmende Antworten.

Immer wieder geht es in seinen Geschichten um das Gute und Böse im Menschen, um Recht und Würde und die vielen Vergehen in allen Bereichen menschlichen Seins.

Sein Großvater war Hitlers Reichsführer NSDAP. Er spielt im Denken des Enkels als Gefolgsmann Hitlers eine ungute Rolle. Das Gespräch mit einer ukrainischen jüdischen Anwältin und die Erinnerung an das unermessliche Unglück, das vermeintlich „normale“ Menschen an den Juden und anderen begangen haben, lassen den Autor nicht los.

Es sind die fragenden Gedanken und die oftmals hilflosen Antworten, die von Schirachs Erzählungen zu einer intensiven eigenen Betrachtung unserer zwar aufgeklärten und doch immer wieder auch ungerechten Welt bringen.

Die Erzählungen sind facettenreich, stimmen melancholisch, stellen Dinge infrage und geben Gott sei Dank keine besserwisserischen Antworten. Von Schirach nimmt Dinge mit wachen Augen und Sinnen auf, um sie dann in seinen Worten und mit seinen eigenen Fragen versehen aufzuzeichnen.

Zuweilen sind seine Betrachtungen erinnerte Erlebnisse, die sich gelegentlich poetisch schön in seinen Worten widerspiegeln. So manche kurze Betrachtung endet im Nichts, als stünde nur ein unsichtbares Fragezeichen dahinter.

Insgesamt bekommt man den Eindruck, dass F.v. Schirach ein hoch gebildeter, uneitler Mann ist, der einsam seinen inneren Gedanken nachgeht, auch einsam ist, und doch mit seinen bildhaften Betrachtungen Menschen beschreibt, Schicksalen nachgeht, eigene Erfahrungen in seine Geschichten einfließen lässt und so zu einer weisen Weltsicht findet, in der es „Böse“ oder „Gut“ nicht gibt. Alles ist immer und überall möglich.

Ferdinand von Schirach
Kaffee und Zigaretten
192 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, März 2019
ISBN-10: 3630876102
ISBN-13: 978-3630876108
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Annie Ernaux: Der Platz

Annie Ernaux: Der Platz

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Wie schon in ihren vorangegangenen Büchern benutzt Annie Ernaux autobiographische Erinnerungen, um Szenen aus ihrem Leben in Erzählungen umzuwandeln.

Dieses Mal geht es um ihren Vater, zu dem sie lange ein sehr entferntes Verhältnis hatte.

Wir erinnern uns, dass die Autorin dem Milieu ihrer Familie früh entwachsen war.

Sie war hoch begabt, studierte und brachte es in Frankreich zu Ansehen als preisgekrönte Schriftstellerin.

Zwei Monate nach ihrem bestandenen Examen als Lehrerin für den höheren Schuldienst starb ihr Vater. Ein Ereignis, dass sie zum Nachdenken und nachspüren seines Lebens motivierte. Er war ihr fremd, da sie sich mit ihrer Entwicklung dem ärmlichen Milieu der Kindheit entfremdet hatte. Wie immer in ihren Schriften ist Annie Ernaux reflektiert, beobachtet genau und kann über ihre Emotionen treffend berichten.

So beschreibt sie anschaulich, woher der Vater kam, wer und wie er war.

Er entstammte einer armen Familie, die kein eigenes Land besaß.

Als Knecht verdingte er sich bei einem Bauern. Das bedeutete Arbeit von früh bis in die Nacht hinein. Später ging er in die Fabrik, und nach Jahren konnten die Eltern sich sogar einen kleinen Lebensmittelladen einrichten. Immer aber blieben sie ihrer unteren Mittelschichtzugehörigkeit verhaftet. Da war es schwer als Tochter, die ja weit aufgestiegen war, die Brücken zu den Eltern zu erhalten.

Wie der Erste Weltkrieg schon das Lebens des Vaters berührte, so entkam er mit Mühen auch dem Zweiten Weltkrieg. Die Kriege sind weniger wesentlich als vielmehr der Dauerkampf gegen die Armut. Wie A. Ernaux darüber berichtet, das hat den Anschein, als spielte sie gar keine Rolle im Leben der Eltern, sondern als ginge es eher immer nur um deren Überlebenskampf. Es blieb wohl nicht viel Zeit für Glück, Zeitvertreib oder gar Zärtlichkeit.

Annie Ernaux vermag hervorragend mit Empathie und gleichzeitig mit kühler Distanz zu berichten. Man wird hineingezogen in die Sicht eines Daseins, das nicht wirklich ihres war, aus dessen innerer Wahrnehmung ihr Leben aber lange bestand.

Hoch kompliziert widmet sich A. Ernaux dem Gedanken um den Zwiespalt zwischen Glück und Fremdbestimmung. Man blieb in den eigenen und anderer Leute Augen immer unzulänglich.

Einmal wusste man sich nicht richtig auszudrücken, dann wieder gelangte man zu eigenem Glück durch Erwerb eines Hauses mit Grundstück. Ergebnis unendlicher Plackerei. Sezierend sind die Analysen der Autorin über das Leben der Eltern und besonders des Vaters.

Das Buch versinnbildlicht den Abschied der Tochter aus der kleinbürgerlichen Welt der Eltern.

In dieser Welt bemühte man sich, nicht aufzufallen, sondern immer den gleichen Regeln von bürgerlichem Anstand und Wohlgefallen ihrer Gesellschaftsschicht zu entsprechen. Nur nicht zum Außenseiter werden!

Dieser Abschied ist nicht melancholisch und er ist nicht traurig; eher möchte man ihn als wehmütig empfinden. Die großzügige Gedankenwelt der Gebildeten und Arrivierten passt nicht zum kleinbürgerlichen Denken von Annie Ernaux’ Herkunft. Das ist ihr Abschied!

Das Buch bietet ein mitreißendes weiteres Stück lebendiger Biographie von Annie Ernaux!

Annie Ernaux
Der Platz
94 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, 10. März 2019
ISBN-10: 351822509X
ISBN-13: 978-3518225097
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