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Kategorie: Biografie

Helga Schubert: Vom Aufstehen

Helga Schubert: Vom Aufstehen

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Sie ist alt geworden! Und jetzt kommen ihr so viele Erinnerungen an ihre Heimat, ihr Leben in der DDR, Überwachung durch die Stasi und die Wende 1989!

Nun sollte alles anders werden.

In einer wunderbaren Sprache erzählt uns Helga Schubert, wie sehr sie das Land liebt, in dem sie lebt. Vor-und Hinterpommern, später Mecklenburg sind ihre Sehnsuchtsorte aus der frühen Kindheit. Über die Weiten der Felder und das Aufwachen in der Hängematte im Garten ihrer Großmutter in den Sommerferien in Greifswald erzählt sie voller Hingabe. Und wie man im Winter durch die zugefrorenen Furchen des Ackers gehen kann. Imme wieder blitzen die Erinnerungen über die Schönheit des Landes auf.

Schon die ersten Sätze des Buches voller Erinnerungen sind bestrickend und ziehen uns zu dieser Frau hin, die mit so viel Wärme zu erzählen weiß. Die Großmutter ist die Mutter von Helgas Vater, der im Krieg gefallen ist, und auf den die Großmutter so stolz war. Zu ihrer Schwiegertochter, Helgas Mutter, pflegt sie keinen Kontakt.

Helga Schubert fallen so schöne kleine Gedichte ein, die sie als Kind lernte! Das ist rührend mit zu erleben. Die Sommer ihrer Kindheit bei der Großmutter waren glücklich, und „sie fühlte sich geborgen bei einem unsichtbaren Vater“.

Das Leben als Schriftstellerin in dieser DDR war ein Leben, wie sie schreibt, in dem sie sich in verschiedenen Rollen fühlte. Sie war Mitglied der Kirche, sie zitiert kenntnisreich sicher Zitate aus der Bibel und von Brecht, aber auch von längst vergangenen Berühmtheiten wie Heine und Kleist; und sie spricht über den Besuch von der Mayröcker, die spontan sagt „hier könnte ich nicht leben“.

Sie darf abwechselnd als gerühmte Schriftstellerin ausreisen, ein anderes Mal nicht. Es ist ein unsicheres Pflaster, auf dem man sich als SchriftstellerIn bewegt.

Das Buch atmet den Geist der Vergänglichkeit! Der Vater, der so früh im Krieg fiel, und von dem sie nur aus Erzählungen erfährt. Großmütter, die starben, Verwandte, die sie und die Mutter auf der Flucht zurückließen; kann man sich in so einem Leben überhaupt freuen?

Ja, sie hat Erfolg als Schriftstellerin, und sie hat einen langjährigen Gefährten, um den sie sich im Alter sorgt, und den sie versorgt.

Über der ganzen Erzählung liegt ein Schatten von Melancholie. Assoziativ folgt eine Erinnerung der nächsten. Eine kalte und böse Mutter hat es ihr schwergemacht, diese zu akzeptieren. Zu ihr blieb das Verhältnis zeitlebens getrübt. Sie fühlt diese Beziehung als Last und Schuld, mit der sie nicht umzugehen weiß.

In der Kirche sucht sie Trost, findet ihn höchstens in den Versen von Bonhoeffer und Paul Gerhard.

Gegenwart vermischt sich mit Vergangenem, Liebevolles mit Boshaftigkeit.

Man folgt diesen Reflexionen und empfindet mit, wie sie die Jahre mit den Erschwernissen von Vertreibung, Flucht und Neubeginn überlebt und eine anerkannte Schriftstellerin wird. Es ist ein zu Herzen gehendes Vermächtnis, das sicher Leser mit ähnlichen Erinnerungen ansprechen wird. Aber auch andere, die sich auf Erinnerungen über das Altwerden einlassen wollen, werden dieses Buch gerne lesen. Ich empfehle es sehr!

Helga Schubert
Vom Aufstehen
dtv Verlagsgesellschaft, März 2021
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423282789
ISBN-13: 978-3423282789
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Johann Scheerer: Unheimlich nah

Johann Scheerer: Unheimlich nah

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Ein Junge von 13 Jahren erlebt eine unheimliche Geschichte: sein Vater ist entführt worden. Sein Vater heißt Jan Philipp Reemtsma. Er ist reicher Erbe einer Zigarettendynastie, Wissenschaftler und Mäzen.
Im Alter des Jungen beginnt man gerade, sich von seinen Eltern abzunabeln. Jetzt aber gilt es für ihn, ganz nah mit der Mutter das Ende der Geschichte abzuwarten.

Als der Vater wieder frei ist, steht bei allen Beteiligten die Welt auf dem Kopf.
Das Elternhaus in einem vornehmen Hamburger Stadtteil wird in eine Festung umgebaut: überall gibt es jetzt um und am Haus Bewegungsmelder und Kameras. Zusätzlich bewachen eine Menge Sicherheitsleute alle Bewegungen der Familie und alles, was sich im und am Haus tut. Das sind die Fakten.

Was aber macht die Erzählung über eine gebrochene Kindheit so bemerkenswert?
Dieser Junge hat eine überaus feine Beobachtungsgabe und dazu ein hohes Reflexionsvermögen über die eigene Befindlichkeit und alles, was ihm bei seinen Beobachtungen bewegt.
Freunde besuchen, unbefangen zur Schule gehen, sich amüsieren und mit den Freunden “abhängen“, das alles ist plötzlich nur noch unter den Augen der Sicherheitsdienste möglich. Wie muss man sich fühlen, wenn man pausenlos unter Beobachtung steht? Keine Regung oder plötzlich Eingebung für eine Aktion bleibt unbeobachtet, und das spontane Leben erlischt.

Sein Vater, ein ernster und mimisch unbewegter Wissenschaftler, kennt nur seine Bücher und das Schreiben. Die Mutter neutralisiert zwar so manche kritische Situation; für Johann wird ein gemeinsamer Urlaub zu einer nervenzehrenden und langweiligen Angelegenheit. Man spürt förmlich, wie der Junge innerlich verkümmert, weil er immer nur aus sich selber schöpfen muss, wie er sich die Zeit vertreibt. Natürlich gibt es auch im Urlaub eine Rundumbewachung. Es gelingt Johann gelegentlich, sich mit dem Sicherheitsteam die Zeit zu vertreiben.

Präzise gesagt haben wir hier einen Protagonisten, der in erschütternder Weise mit den Folgen eines schweren Verbrechens konfrontiert bleibt.
Johann durchläuft eine Jugend zwischen Ängsten, Wut, Auflehnung und wirklichen Bemühungen, sich aus den Zwängen seiner Umgebung zu befreien.
Dass er dabei diskret und doch offen seine innere Entwicklung aufzeichnet und auch seinen äußeren Bewegungsdrang offenbart, ist von einer tiefen Scheu begleitet, sich nicht pathetisch oder in einer Sonderrolle zu zeigen.
Er hat Eltern, die ihm alle Freiheiten lassen, die unter diesen Umständen nur möglich sind.
Bei den Versuchen, ein möglichst „normales“ Leben zu führen, bleibt die Belastung immens, sich ständig Zeitplänen und Kontrollen fügen zu müssen.

Johann Scheerer lässt in seinen Jugendjahren nichts aus. Von der Sprache bis zum Punk, einer Jungendband und der entsprechenden äußerlichen Aufmachung, Tätowierung und Piercing ist alles möglich.
Er hat die Begabung zu psychologischem Einfühlungsvermögen, lakonischer Berichterstattung, Distanz schaffender ironischer Überziehung ernster Situationen und insgesamt authentischer Wiedergabe seiner jugendlichen Entwicklung. Die Suche nach der eigenen Identität durchzieht die ganze Geschichte.

Die sensible und genaue Wahrnehmung seiner Umgebung, seiner Eltern und seiner eigenen Gefühle machen das Buch zu einer Rarität. Wer eine so treffende Beobachtungsgabe zeigt und differenziert zu erzählen weiß, der hat wahrlich das Zeug dazu, seinen Mitmenschen über ein absolut unvergleichliches Ereignis Bericht zu erstatten. Ein sehr einsamer Junge geht auf diese Weise aus sich heraus. Um sich zu befreien? Oder um Zeugnis abzulegen über die Folgen eines Verbrechens, das sich, auch für die Angehörigen des Opfers, zu einer Dauerschikane ausweitet? Es gilt wohl beides.

Nicht zuletzt ist sein Bericht so spannend, dass man das Buch nicht aus der Hand legen möchte.

Er ist heute erwachsen und schreibt folglich aus der Rückblende. Das ist ihm hervorragend gelungen.

Johann Scheerer
Unheimlich nah
331 Seiten, gebunden
Piper, Januar 2021
ISBN-10: 3492059155
ISBN-13: 978-3492059152
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Joe Biden: Versprich es mir

Joe Biden: Versprich es mir

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Joe Biden hat ein langes Politikerleben als Mitglied der Demokratischen Partei in den USA hinter sich.

Er berichtet im vorliegenden Erinnerungsbuch sowohl von seinen Aufgaben als Politiker als auch über sein Leben als Vater, Ehemann und Freund.
Die Geschichte eröffnet ein Panorama an Einblicken in ein Privatleben, wie man es selten bei Politikern findet.

Er wurde 1973 für die Demokratische Partei in den amerikanischen Senat gewählt. Kurz zuvor kam seine junge Frau mit der kleinen Tochter ums Leben. Die zwei kleinen Söhne überlebten. Die Vaterrolle hat er mit der politischen Karriere unter großen Anstrengungen in Einklang gebracht und ist unbeirrt seinen politischen Weg gegangen.

Als Vizepräsident unter Obama entwickelten beide Männer eine enge Freundschaft zueinander.

Obama hat ihm vertraut und überließ ihm die Außenpolitik im Nahen Osten, in Afghanistan, Irak und der Ukraine. Es waren schwierige Verhandlungen und Entscheidungen zu treffen. Man bekommt interessante Einblicke in das politische Leben der Jahre unter der Präsidentschaft von Obama.

Die Art von Bidens Erzählstil zeigt ihn als liebevollen und graden Menschen, der zielstrebig, versöhnlich und klar in der Sache handelt. Er ist klug und selbstdiszipliniert, warmherzig und teilnahmefähig.

Der Tod seines ältesten Sohnes im Jahr 2015 spät nach dem Verlust seiner ersten Frau und Tochter ist ein schwerer Schicksalsschlag, den er nur schwer verkraftet. Auch hier hilft ihm seine Selbstdisziplin und die Fürsprache und Tröstung guter Freunde und seiner Familie. Das Versprechen, das er seinem Sohn vor dessen Tod gab, sich nicht aufzugeben und seinen Idealen treu zu bleiben, bietet den Titel zu seinem Buch.

Amerika, wie wir es uns vorstellen, wird an den Stellen sichtbar, wo es um die Weite des Landes, die Schönheit der Natur und die Großzügigkeit liebevoller und von Hochachtung gekennzeichneter Begegnungen geht.

Insgesamt ist die Autobiographie informativ und anrührend, weil man einen sehr menschlichen und nahbaren künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika erlebt. Er kämpft für eine gerechtere Welt, in der Gleichberechtigung unter den Menschen angestrebt wird, und auch die Armen sicher versorgt seine sollen. Die Hoffnung vieler politischer Freunde ruht auf seiner zukünftigen Präsidentschaft. Es wird keine leichte Aufgabe sein in einer Welt, die voller Konflikte, kriegerischer Auseinandersetzungen und ungleicher Machtansprüche steckt.

Das Buch ist sehr zu empfehlen.

Joe Biden
Versprich es mir
Über Hoffnung am Rande des Abgrunds
250 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3406767133
ISBN-13: 978-3406767135
C.H.Beck, November 2020
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Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet

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Joachim Meyerhoff ist uns wohl bekannt durch seine urkomischen, höchst amüsanten und skurrilen Erinnerungsbücher früherer Jahre, in denen schon die Titel auf die zu erwartende Komik hindeuten.
Nun aber hat es ihn schwer erwischt: ein Schlaganfall ereilt ihn im Alter von nur 51 Jahren . Er merkt schnell, dass etwas nicht stimmt und nimmt die Symptome ernst.
Es gilt, schnellstens in ein Klinikum zu kommen, wobei sich seine inzwischen 18 jährige Tochter als resolut und hilfreich erweist. Selbst in dieser angespannten Lage sieht Meyerhoff mit scharfem Blick, wie sich Verantwortung verkehrt: nicht mehr der Vater führt Regie, sondern die Tochter übernimmt das notwendige Handeln.
In der Klinik angekommen wird er auf die Intensivstation gebracht und seine Eigendiagnose ist richtig: er hat einen Schlaganfall erlitten!

Sein Kopf aber arbeitet unentwegt weiter. Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung nehmen ihren Lauf.
Wenn ihm auch zuerst mehr nach Weinen als Lachen zumute ist, so entdeckt sein wacher Geist sehr bald die skurrilen Seiten der Intensivstation. Ob Schwestern, Ärzte, sonstiges Fachpersonal oder Mitpatienten: in ihm formen sich Bilder, die in ihrer Komik unübertroffen sind. Der LeserIn muss laut lachen, wie diese wortreichen Assoziationen in seinem Kopf beim Beobachten Gestalt annehmen. Die Sätze sprudeln nur so aus ihm heraus.
Zu seiner Beruhigung kommen Erinnerungen hoch, die ihn rühren, ihn an gute und schlechte Zeiten erinnern und seinen Zustand erträglicher machen.

Er ist von entwaffnender Offenheit, kennt kein Tabu und LEBT, selbst im Zustand der Schwäche. Mag sein, dass manche Episode im Nachhinein beim Schreiben eingefügt wurde. Mag auch sein, dass er zuweilen fast ein wenig über die Grenzen des Anstands hinausgeht, wenn er die Kranken bei ihren Gehversuchen und Essübungen karikiert: er bezieht sich immer selber mit ein, und der trockene Humor und die Komik gehören fast zum Charakterbild dieses Schauspielers und Autors witziger Lebensbetrachtungen. Passagen wie die über die mögliche Senkung der Todeszahlen älterer Leute im Straßenverkehr „lieber an der Ampel flitzen als wochenlang im Rollstuhl sitzen“ (S. 199) bieten einen Eindruck vom lakonischen Witz des Erzählers Meyerhoff.
Es ist sein Weg, sich mit Distanz aus der Hilflosigkeit, die diese Krankheit mit sich bringt, zu befreien.

Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass ein ernster Unterton hinter den Worten des Autors zu spüren ist: die Erkenntnis, dass unser Leben endlich ist, und von einem Tag auf den anderen alle bisherigen Sicherheiten dahin sein können.

Der Ernst hinter der Komik ist das Geheimnis des Erfolges von Joachim Meyerhoff.

Joachim Meyerhoff
Hamster im hinteren Stromgebiet
320 Seiten, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, September 2020
ISBN-10: 3462000241
ISBN-13: 978-3462000245
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Annie Ernaux: Die Scham

Annie Ernaux: Die Scham

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Wie in ihren zahlreichen vorangegangenen Büchern, in denen sie sich mit Stationen ihres Lebens und besonders der Kindheit und Jugend befasst, behandelt Annie Ernaux auch in ihrem neuesten Werk einen Abschnitt aus ihrem Leben.

Hier geht es um „Die Scham“, ein besonderes Kapitel ihrer Erinnerungen.

Sie macht ihre Erkenntnisse in diesem Buch daran fest, dass ihr Vater die Mutter eines Sonntags „habe umbringen“ wollen. Wirklichkeit oder fantasierte Schrecken der Kindheit? Jedenfalls gehörte Brutalität nicht zum Alltag ihres Kinderlebens.

Zurück im Jahr 1952 beschreibt sie, was sie sah, und wie sie sich und andere erlebt hat.
Wunderbar präzise fängt Annie Ernaux Stimmungen ein, die genau in diese Zeit um 1950 gehören.
Wir wissen, dass ihre Eltern einfache Leute sind, und dass ihr der Absprung aus der Kleinbürgerlichkeit in die höheren Sphären des Bildungsbürgertums gelungen ist.
Mit dem Studium gelang es ihr, sezierend den Blick auf die Besonderheiten des kleinbürgerlichen Alltags zu richten.
Als sie zwölf Jahre alt ist, entwächst sie der Kindheit und wird zur Tochter, die weibliche Formen annimmt, Nylonstrümpfe tragen darf und noch vieles mehr. Es hindert die Eltern nicht, sie gelegentlich zu schlagen. Fast karikierend beschreibt sie die Tages- und Wochenverläufe: was „man“ wann isst, anzieht, welchen Tätigkeiten „man“ an welchem Tag nachgeht und wie „man“ sich zu benehmen hat. Es ist ein fest gefügtes Programm, aus dem es kein Entkommen gibt

Vorurteile über das, was gut und böse ist, und wie „man“ sich zu benehmen hat, gehören zur Summe der bitteren Bilanz, die Annie Ernaux auch in diesem Rückblick aufzeigt.

Sie ist gleichzeitig distanziert in ihren Betrachtungen und gefangen in ihrer Erinnerung. Ohne Umschweife und Einschränkungen oder Beschönigung schreibt sie darüber. Wie es im Umschlagtext treffend beschrieben ist
“Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit“.

Dieses Gefühl der Scham beherrscht die Erzählung.
Wie ausgeschlossen sie sich fühlte beim Besuch einer vornehmen Schule mit Menschen höherer Bildung und kultureller Lebensart, das ist fast beklemmend. Gegenüber ihren Mitschülerinnen sieht sie sich in ihrer Gefühlslage und der Lebensformen weit unterlegen.
Ihr Bekenntnis, dass sie sich entgegen ihrer eigenen Aufgeklärtheit nicht aus den Fängen dieser einschränkenden Vergangenheit ganz befreien kann, ist absolut echt. Schreiben mag ihr helfen, alle Erfahrungen prüfend zu hinterfragen; los wird sie die Erinnerungen nicht.

Annie Ernaux ist eine mutige Frau, die mit ihrer Selbsterforschung zur Aufklärung psychischer Befindlichkeiten und deren gesellschaftlicher Zusammenhänge beiträgt. Es steht mir nicht zu, darüber zu räsonieren, warum sie sich selbst in ihren Schriften immer wieder zum Objekt der Forschung macht. Selbsterkenntnis und gesellschaftliche Zustandsbeschreibung stehen beide im Zentrum ihres Interesses.

Im Klappenztext heißt es, sie bezeichne sich als „Ethnologin ihrer selbst“. So kann man die Geschichte sehen.

Hoch gelobt von der Kritik und mit zahlreichen Preisen bedacht lebt sie in Frankreich.

Annie Ernaux
Die Scham
110 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, 17. August 2020
ISBN-10: 3518225170
ISBN-13: 978-3518225172
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Robert Seethaler: Der letzte Satz

Robert Seethaler: Der letzte Satz

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Robert Seethaler zeichnet in diesem schmalen Band das erschütternde Porträt eines Mannes, der als Komponist, Musiker und Dirigent ein erfolgreiches Leben hinter sich hat.

Er ist noch nicht so alt, aber als müder und kranker Mann befindet er sich auf der letzten Reise von New York nach Europa. Er sitzt an Deck und denkt über sein Leben nach. Fürsorglich wird er von einem Schiffsjungen umsorgt. Mahler leidet unter Schmerzen und Migräne und fühlt sich krank.
Unter Deck sitzen seine Tochter Anna und deren Mutter Alma Mahler beim Frühstück.

Es handelt sich um einen hoch erfolgreichen und berühmten Mann, der als Dirigent, Musiker und Komponist viel umschwärmt war und hohe Anerkennung genoss. Neben seiner Arbeitswut, die ihn Kräfte und Gesundheit kostete, ist er besessen von der Liebe zu der berühmten und von Männern umschwärmten Frau Alma. Sie ist die Femme fatal, die zahlreiche ebenso berühmte Männer aus Kunst und Kultur um den Verstand brachte. Noch aber leben sie zusammen, wenn er auch weiß, dass er sie verloren hat an den Architekten Walter Gropius, der nach seinem Tod ihr zweiter Mann werden soll.

Die Wende zum 20. Jahrhundert mit ihren großartigen Künstlern ersteht vor unseren Augen, wie Seethaler sie in seiner sensiblen und bilderreichen Sprache erkundet hat. Freud wird von Mahler in seiner Not um seine Ehe zu Rate gezogen. In einem einmaligen langen Gespräch werden seine psychischen Nöte erörtert und analysiert.

Seethaler beschreibt den Musiker mit anteilnehmenden und einfühlsamen Worten. Er wird dem Genie gerecht mit seiner Schilderung des Charakters. Es entsteht eine leicht melancholische Stimmung, wenn der Autor über das Meer, die Luft und den Wind schreibt und sich in Mahlers Erinnerungen vertieft. Sie sind erfüllt von Sehnsucht mach den Bergen, nach Sommer und Sonne und nach seiner verlorenen Tochter Maria, die als kleines Mädchen an Diphterie starb.

Das Büchlein liest sich schnell und unkompliziert. Es eröffnet uns aber noch einmal die Szenen jener fernen Zeitenwende, als Musik und Kunst die Welt mit der Ahnung von ganz neuen Aufbrüchen beseelte, die dann allerdings in den dreißiger Jahren schreckliche Formen annahm .

Ich habe das Büchlein gerne gelesen und kann es dem Musik- und Kunstliebhaber gerne empfehlen!

Robert Seethaler
Der letzte Satz
128 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, 3. August 2020
ISBN-10: 3446267883
ISBN-13: 978-3446267886
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Klaus Scheidtmann: Seitenwechsel

Klaus Scheidtmann: Seitenwechsel

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Klaus Scheidtmann ist Arzt und Neurologe und hat in diesem Krankheitsbericht seine schwere Erkrankung an einem Hirntumor beschrieben.
Die Erfahrungen sind deshalb so bemerkenswert, weil sich hier ein Arzt plötzlich in der Rolle als Patient wiederfindet.

Die lange Vorgeschichte bis zur Diagnose zeigt, wie auch der Fachmann langsam in einen Zustand gerät, vor dem seine Familie zunächst irritiert und ratlos vor krankheitsbedingten Veränderungen seiner Persönlichkeit steht. Niemand, am allerwenigsten er selbst, ahnt, dass sich hinter seinem veränderten Verhalten, seines Wesens und im Umgang mit seiner Frau eine schwere Hirnerkrankung entwickelt. Psyche, Geist und Körper bilden eine Einheit. Ereignet sich beim einen oder anderen eine Störung, wirkt das auf die anderen ein.

Scheidtmann lässt nicht unerwähnt, wie großartig die Geduld und Ausdauer seiner Frau ihn am Ende auf den Weg zur Diagnose führt.

Die Erkenntnis, dass auch die so genannten Götter in weiß nur Menschen mit einem ganz normalen Lebenshintergrund sind, ist sicher nicht ganz unbekannt. Dennoch bietet der Bericht aus Sicht eines selber Betroffenen nochmal eine ganz neue Perspektive zum Arzt-Patientenverhältnis.

Mutig und aufrichtig kann K. Scheidtmann seine Schwierigkeiten beschreiben, über seine Ängste und seine Ohnmacht berichten und öffnet uns damit Einblick in sein Inneres. Der Verlust der Autonomie, wenn man sich Ärzten anvertrauen muss, wiegt schwer.

Dass K. Scheidtmann nach mehrjährigen Behandlungen und immer neuen Rückfällen den Mut nicht verlor, verdankt er seiner Familie, seinen Freunden, Kollegen und nicht zuletzt wohl seinem Glauben und seinem Wunsch, die Krankheit zu besiegen.

Eine Lehre gibt es wohl besonders in diesem Fall: dem Arzt Dr. Klaus Scheidtmann wurde sehr klar, wie wichtig die menschliche Zuwendung, das Verständnis und die Offenheit des Arztes für den Patienten sind. Die meisten Patienten suchen besonders in schwerer Krankheit nicht nur den renommiertesten Arzt sondern auch gerade von diesem menschliche Zuwendung.

Das Buch liest sich mit Spannung, weil das Leben nun einmal die spannendsten Romane schreibt.

Krankheit spielt fast in jedem Leben irgendwann einmal eine Rolle. Schwere Krankheiten rühren an die Seele der Mitleidenden. Das Buch bietet Anlass, sich der eigenen Zerbrechlichkeit bewußt zu werden. Möge es viele Leser finden, die je nach eigener Lebenslage Hilfe brauchen und sich vergewissern möchten, wie man den richtigen Arzt zur rechten Zeit findet.

Klaus Scheidtmann
Seitenwechsel
130 Seiten, gebunden
Klöpfer, Narr, April 2020
ISBN-10: 3749610320
ISBN-13: 978-3749610327
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Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds

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Melitta Breznik zeichnet mit feinem Stift und reflektierenden Gedanken ihre Stimmungen nach, die sie beim Sterben ihrer Mutter hat. Sie begleitet sie über Tage und Wochen bei diesem schmerzlichen Abschied.

Eine unheilbare Diagnose hat den Tod angekündigt.

Die Familie lebt in Österreich, wo der Vater herstammte, und wo er seine Arbeit hatte.
Melitta Breznik kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück und überlässt sich neben der Fürsorge für ihre Mutter ihren Erinnerungen an die Tage ihrer Kindheit.
Sie enthüllt offen ihre Gedanken und Gefühle, die sie in diesen langen Wochen mit ihrer Mutter bewegen.

Unweigerlich melden sich Erinnerungen, die während der vergangenen Jahre verborgen waren. Danach war das Einvernehmen zwischen den beiden Frauen nicht immer sehr einfach. Es gab innere und äußeren Trennungen und Unvereinbarkeiten, die Wunden schlugen.

Während der Vater hart arbeiten musste, blieb die Mutter ihrem Hausfrauenleben verhaftet, etwas, das Melitta Breznik für sich nie anstrebte. Man ist erstaunt, wie Melitta aus diesem Kinderleben herausgefunden hat.

Sie ist seiner Zeit dem häuslichen Umfeld entkommen, lebt in der Schweiz, hat studiert und wurde Ärztin. Insofern musste sie Zeit und Orte überspringen, um hier zu ihren Wurzeln zurückzufinden.

Es gab Familiengeheimnisse, es gab Verluste von ungeborenen Kindern, den Tod eines älteren Bruders, und es gibt einen jüngeren Bruder, der eine Familie gründete und in der Nähe der Eltern blieb.

In wunderbaren Worten, mit Herz und Verstand beschreibt die Autorin Augenblicke der wehmütigen Erinnerungen. Die Landschaft bietet ihr Anregung, sich dem Leben als Kind noch einmal zuzuwenden. Der Herbst, der kommende Winter, Kälte und Schönheit: alle diese Eindrücke bieten ihr die Möglichkeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Zugleich erlebt man eine Frau, die sich mit viel Mühen und fast zärtlichen Gefühlen der Frau widmet, die ihre Mutter war und ist. Sie umgibt sie mit Fürsorge, umsichtig und einfühlsam, zuweilen auch verzagt.

Man erlebt die Wandlung einer Beziehung, die im Angesicht des Todes manches verzeiht.

In dem schmalen Büchlein berichtet Melitta authentisch über die körperlichen und geistigen Veränderungen der Mutter während des Sterbens, das bis zum Ende nicht leicht war. In kurzen, prägnanten Sätzen lässt sie uns zu Teilnehmern ihrer inneren Bewegungen werden.

Ein anrührendes und liebevolles Porträt der Vergänglichkeit gemahnt den Leser an eigene Erfahrungen und Vorgänge, die auf das Lebensende hinweisen.

Die Autorin zeigt ungeschminkt ihre einfühlsamen, teilnehmenden, sensiblen und auch ambivalenten Empfindungen, mit der sie sich von ihrer Mutter verabschiedet.

Melitta Breznik ist Autorin, Ärztin und Psychotherapeutin. Sie lebt in der Schweiz.

Melitta Breznik
Mutter. Chronik eines Abschieds
160 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, Mai 2020
ISBN-10: 3630875068
ISBN-13: 978-3630875064
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Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist

Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist

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Der Roman befasst sich mit dem Schicksal und der Lebensgeschichte eines Schriftstellers.

Zufällig hat er den Namen Eshkol Nevo. Wenngleich es sich um einen Roman handelt, so erscheint die Erzählung doch wie die Autobiographie unseres Autors Eshkol Nevo. Er ist Israeli, lebt in Israel und ist um die vierzig bis fünfzig Jahre alt.

Hier erreichen ihn eine Reihe von Leserbriefen mit Fragen nach seinem Leben und Schaffen. Sie bilden den Auftakt zu einer Bilanz seines Lebens bis heute.

Was z.B. ist Nevo für ein Kind ist gewesen? Und wo steht er heute?
Er war viel sich selbst, seinen Erfahrungen, Ängsten und Fantasien überlassen.
Seine Frau Dikla hat gelegentlich ebenfalls schreckliche Albträume, die mit den ständigen Kriegs-und Terrorzuständen im Land zu tun haben.
Dikla, mit der ihn innige Liebe verband, geht auf Distanz zu ihm, nachdem er ihr von einer Affäre berichtet hat. Er leidet sehr darunter.

Der ganze Roman ist schließlich wie ein Interview gestaltet.
Fragen der Leser führen uns zur Lebensgeschichte des Helden. Er äußerst sich nach und nach zu allem, was sein Leben betrifft. Überschriften wie „Warum wird jemand Schriftsteller? Wusste er das schon immer? Wie biographisch sind seine Bücher? Woran arbeitet er gerade? Wie entstehen seine Frauenfiguren?“ führen uns auf die Spur zu seiner Biographie.

Wie erfahren so viel aus seinem Leben, dass wir am Ende sicher sind, der Autor selbst sei der Hauptprotagonist seines Romans.

Das Leben in Israel mit allen seinen Bedrohungen und Unruhen wird nachvollziehbar.
Die Palästina- Israelproblematik wird in die Handlung einbezogen, so dass man merkt: hier setzt sich einer mit diesem Konflikt kritisch und differenziert auseinander.

Der Roman ist in seinem Aufbau systematisch und seine Hauptperson folgt einem inneren Druck, sich zahlreicher Begebenheiten des vergangenen Lebens zu erinnern.

Moralische Skrupel, wie es um ihn selbst, den Schriftsteller, mit seiner Ehrlichkeit bestellt sei, lösen unendlich Folgefragen aus. Schließlich wird klar, dass dieses Wechselspiel zwischen Wahrheit und Fantasie in seiner Biographie und in seinem Verhalten bei seinem kleinen Sohn Irritationen auslöst.

Handelt es sich also in seinem augenblicklichen Status um eine handfeste Lebenskrise?
Die durchaus kritischen Selbsteinsichten sind tiefschürfend und lassen durchaus darauf schließen. Anmerkungen zu seinen Seelenzuständen und die momentane innere Zerrissenheit treiben den Autor um.

Feinsinnig und differenziert beschreibt Eshkol Nevo Situationen und Gespräche, wie sie stattgefunden haben könnten. Der Wechsel zwischen Icherzählung und immer wieder Gesprächen von Drittpersonen sind gelegentlich verwirrend.

Der Eindruck bleibt, dass es sich hier um ein analytisches Werk handelt, in dem Fiktion und Wirklichkeit unaufhörlich und oft unmerklich wechseln und alle Geschehnisse in einem fort hinterfragt werden.

Das Buch verspricht geistigen Hochgenuss!

Eshkol Nevo
Die Wahrheit ist
432 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, April 2020
ISBN-10: 3423282193
ISBN-13: 978-3423282192
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Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

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In dem hier vorliegenden biographischen Roman geht es um das letzte Lebensjahr von Virginia Woolf.

Wir haben das Jahr 1941. Der Zweite Weltkrieg steckt in einer beängstigenden Phase, und Fantasien von einer Invasion mit schrecklichen Folgen bedrängen V. Woolf.

Michael Kumpfmüller hat die besondere Gabe, sich ganz in seine Hauptfigur hineinzuversetzen. Aus ihren Gefühlen und Empfindungen heraus berichtet er über innere seelische Befindlichkeiten wie keiner nach ihm.

Nach seinen Darstellungen erscheint uns Virginia Woolf als eine hypersensible, dramatische und krankhaft ichgestörte Person. Aus ihrer Lebensdaten geht hervor, dass sie an manisch- depressiven Zuständen litt.

Sie denkt nur über ihre eigene Unzulänglichkeit nach und beklagt ihre mangelnde Fähigkeit, einen achtbaren Roman zu schreiben. Insgeheim bewegt sie die ganze Zeit die Möglichkeit zu einem erfolgreichen Suizid.

Männer scheinen ihr ein Gräuel gewesen zu sein, einschließlich ihr eigener Mann Leonard.

Sie wird getrieben durch die Gedanken, in denen sie sich fast masochistisch klein macht, und die sie umkreisen und ihr den Schlaf rauben. Leonard ist dauernd um sie und sorgt für ihr leibliches Wohl. Sein eigenes Wohl geht in der Fürsorge für seine Frau ganz unter.

Ihre selbstverachtende Mentalität bietet ihr nirgends inneren Frieden. Schuldgefühle, ihrem Mann keine gute Ehefrau zu sein, treiben sie um. Visionen und Einbildungen täuschen eine Realität vor, die es so nicht gibt. Zuweilen wechseln Wachträume mit Ängsten aller Art. Und immer wieder treibt sie ihr Tun zu dazu, sich ihren Suizid im Fluss vorzustellen, was ihr zuletzt auch gelingt.
Fast kann man ihren Lebensüberdruss verstehen. Allerdings sind die Mitgefühle ambivalent, da sie so eine manisch vom eigenen Ich besessene Person gewesen zu sein scheint, die alle anderen Menschen nur im Bezug zu sich selbst betrachtet.

Michael Kumpfmüller schreibt assoziativ ganz aus der Innenschau seiner Figur. Diese wabernden Gefühle, Gedanken und Fantasien gewinnen an Intensität und Farbigkeit. Stimmungen werden nachvollziehbar und stecken fast an in ihrer düsteren Besessenheit.

Der Autor begibt sich so sehr in den inneren Seelenzustand seiner Protagonistin, dass man sich quälend selbst betroffen fühlt.

Es ist eine bedrückende Szenerie, die sich dem Leser da auftut; und doch ist Virginia Woolf in ihrer Erscheinung, ihrer intellektuellen Brillanz und in ihrem exotischen Auftreten ganz präsent. Sie hatte Wirkung auf die Frauenbewegung und Emanzipation und war eine allseits anerkannte Persönlichkeit. Man kann sich sehr gut vorstellen, wie sie am Leben litt. Dieses Bild von ihr bringt der Autor mit seinem tiefen Einfühlungsvermögen hervorragend zu Geltung. Michael Kumpfmüller ist ein anerkannter Schriftsteller, dem schon zahlreiche hervorragende Lebensbilder gelungen sind. Einer seiner Bestseller gilt dem letzten Jahr von Franz Kafka mit dem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“.

Michael Kumpfmüller
Ach, Virginia
240 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2020
ISBN-10: 3462049216
ISBN-13: 978-3462049213
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