Franzobel: Einsteins Hirn

Franzobel: Einsteins Hirn

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Eigentlich soll Albert Einstein nach seinem Tod umgehend verbrannt werden. Doch der Pathologe Thomas Stoltz Harvey erdreistet sich, bei der Autopsie das Gehirn zu entnehmen, nicht ahnend, dass es ihn über 40 Jahre lang begleiten wird. Die Familie empört sich, aber schließlich stimmt der Nachlassverwalter Otto Nathan, der auch ein enger Freund Albert Einsteins war, unter gewissen Bedingungen einer entsprechenden Forschungsarbeit zu, die den Pathologen allerdings gnadenlos überfordert. Harvey will der Genialität des Physikers auf die Spur kommen, hat aber nicht die entsprechenden Möglichkeiten. Er pokert hoch, wird berühmt und zahlt dafür einen Preis. Er lügt, hält hin und erfindet dies und das. Aber er ist fasziniert von diesem Hirn, das von ihm zersäbelt und konserviert in Einmachgläsern ausharrt und schließlich beginnt, mit ihm zu sprechen.

Die Jahre kommen und gehen. Das Rad der Geschichte dreht sich weiter. Der Leser bekommt einen tiefen Einblick in das Leben des Pathologen und das Zeitgeschehen. Das Hirn des Nobelpreisträgers beendet seine berufliche Laufbahn, bringt ihm Ärger ein, lässt drei Ehen scheitern, setzt ihn unter Druck und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Und doch will er es nicht hergeben.

Es ist eine erstaunliche Geschichte entstanden, die sich genau so ereignet haben könnte oder zumindest so ähnlich. Der Rahmen stimmt jedenfalls und die Hintergründe sind perfekt recherchiert und soweit Tatsache. Und so einiges, das die Geschichte spannender macht, ist mit viel künstlerischer Freiheit und einem gewissen Hang zu bissiger Ironie eingewoben. Das funktioniert ganz gut. Es ist schon interessant, wie der Autor die Vorstellungskraft anregt, indem er Personen zeichnet, das Zeitgeschehen einfließen lässt und Begebenheiten auf seine Weise ausschmückt. Das nicht eben geradlinig verlaufende Leben des Pathologen Thomas Stoltz Harvey ist auf faszinierende Weise dargestellt. Im letzten Drittel zieht es sich allerdings dann doch ein bisschen.

Rezension von Heike Rau

Franzobel
Einsteins Hirn
544 Seiten, gebunden
‎Paul Zsolnay, Januar 2023
ISBN-10: 3552073345
ISBN-13: 978-3552073340
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Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

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In diesem wunderbaren Roman findet man sein Glück beim Lesen!
Leicht elegisch, von stillem Glück, vom Alter und der Einsamkeit handelt dieser kleine Roman.

Ernesto hat seine Frau verloren. Er ist 67 Jahre alt und lebt in einer ruhigen, beschaulichen Straße am Fluss im Turin.
Seine Kinder sind fern, nur Sonja, die Älteste, lebt mit ihren Kindern in Rom. Eines Sonntags hat er sie mit ihren beiden Kindern zum Essen eingeladen. Doch eine ihrer Töchter fällt vom Baum, und sie können nicht kommen.

So erleben wir Ernesto, wie er mit seinem fertigen Essen und der Einsamkeit fertig zu werden trachtet.
Er geht in den Park und lernt Elena mit ihrem Sohn dort kennen. Ohne tiefgründige Absicht lädt er die beiden zum Essen ein.
Gaston, der Junge, ist begeistert von den Bastelkünsten des alten Herren, und die drei verleben einen behaglichen Sonntag. Es ist der einzige Hinweis auf den Titel des Romans. Denn es geht um mehr!

In stillen und ruhigen Passagen beschreibt uns der Autor Fabio Geda das gegenwärtige und vergangene Leben von Ernesto. Es sind beschauliche Augenblicke und Ausblicke, die das Familienleben geprägt haben. Die Kinder und seine Frau sind das Glück von Ernesto. Er war als Ingenieur viel verreist, denn er baute große Brücken überall in der Welt.
Nicht immer verlief das Leben reibungslos.

Giulia ist die Erzählerin in diesem Werk. Sie spinnt das feine Netz von Begegnungen, erzählt vom Liebesleben der Eltern und ihren gemeinsamen Familienjahren. Konflikte blieben lange unausgesprochen.

Wie in allen Familien gab es nicht nur das reine Glück! Giulia und der Vater haben sich entfremdet. Als die Kinder alle in ihren Berufen gefestigt waren, und die Töchter Kinder bekamen, fanden sie wieder zusammen. „Es ging nicht darum, zu begraben und zu vergessen: sondern zu verzeihen!“( S. 218) Dieser Satz ist charakteristisch für den Stil des ganzen Romans. Man ist erfüllt von der Stimmung aus Liebe, Großzügigkeit und Altersweisheit.

Als Ernesto schließlich alt und krank ist, begegnet ihm im Krankenhaus Elena wieder. Auch sie ist zur Zeit ihrer Begegnung vor so vielen Jahren eine verlorene Seele gewesen, die mit ihrem Leben nichts mehr anfangen konnte. Sie war von Ernesto ermutigt worden, ihr Leben nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes in die Hand zu nehmen. Nun hat sie es geschafft und ist Krankenschwester geworden.

Mehr gibt es zu dem Roman nicht zu sagen. Man lese ihn! Er ist rund und gelungen in seinen poetisch reizvollen kurzen Lebensstimmungen und den Schicksalen, von denen man hört.

Fabio Geda
Ein Sonntag mit Elena
240 Seiten, gebunden
hanserblau, 2. Auflage, August 2020
ISBN-10: 3446267956
ISBN-13: 978-3446267954O
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Silke Heimes: The truth behind your lies

Silke Heimes: The truth behind your lies

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Das Abitur ist geschafft und Flo, Jens, Emmy, Rod und Ann kommen in einer Hütte in den Schweizer Bergen zusammen, die ihnen Jan vermittelt hat. Schon komisch, denn eigentlich sind sie ihm in den letzten Jahren nicht gerade freundlich begegnet.

Tatsächlich steckt eine bestimmte Absicht dahinter. Jan ist auf Rache aus. Er will die Clique bloßstellen, die ihn jahrelang gemobbt hat. Dazu hat er einen anonymen YouTube-Kanal ins Leben gerufen. Er weiß, wie er an brisantes Filmmaterial kommt. Es läuft alles nach Plan oder sogar noch viel besser. Die jungen Leute offenbaren so einiges, das schlimm genug ist, um für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Das Buch ist spannend und nervenaufreibend. Im Vordergrund stehen Jan und Emmy. Rod, Flo, Jens und Ann tragen zum dramatischen Verlauf der Geschichte bei. Der gemeinsame Urlaub ist eigentlich eine willkommene Auszeit. Wer weiß, was die Zukunft bringen wird. Nicht jeder hat schon ausgefeilte Pläne.

Emmys Blog liegt erst mal auf Eis. Es ist digital Detox für alle angesagt. Das ist gut für Jan, da so erst mal niemand erfährt, was er tut. Er verbringt viel Zeit mit seinen Beobachtungen. Jeder der Gruppe hat seine Geheimnisse. Es ist wirklich erschütternd, was hier alles an psychischen Problemen zusammenkommt und, man muss es so sagen, an Straftaten begangen wird. Jan macht das nun öffentlich.

Im Buch werden ernste Probleme angesprochen, die Aufmerksamkeit verlangen und den Leser sensibilisieren sollen. Eine intensive Auseinandersetzung erfolgt jedoch nicht. Es wird aber klar, was es bedeuten kann, aus Verzweiflung falsche Wege eingeschlagen und die Fassade auf diese drastische Weise einzureißen.

Die Handlung ist nicht abgeschlossen und man bleibt etwas ratlos und sehr nachdenklich zurück. Aber das soll wohl so sein, denn es setzt ein intensives Nachdenken in Gang. Wie hätte es besser laufen können? Was hätte Jan tun können, um sich aus der Opferrolle zu kämpfen? Das ist leider nicht Thema des Buches, steht aber detailliert in den Nachbemerkungen der Autorin. Sie listet hier entsprechende Hilfsangebote auf. Natürlich ist es gut und hilfreich, diese Liste hier aufzuführen. Aber ich hätte mir gewünscht, dass das in die Handlung mit einfließt und dass die Geschehnisse in irgendeiner Form aufgearbeitet werden.

Rezension von Heike Rau

Silke Heimes
The truth behind your lies
ab 14 Jahren
288 Seiten, gebunden
Ueberreuter Verlag, Februar 2023
ISBN-10: 3764171340
ISBN-13: 978-3764171346
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Axel Scheffler und William Petty: Bella pflanzt einen Baum

Axel Scheffler und William Petty: Bella pflanzt einen Baum

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Das kleine Eichhörnchen Bella hat eine spannende Schulaufgabe bekommen. Es soll eine Eiche wachsen lassen. Zum Glück ist gerade Herbst und ihre Oma kennt ein Eichenwäldchen. Mit einem der Bäume fühlt sie sich verbunden und so hebt Bella hier einige Eicheln vom Erdboden auf und steckt eine zu Hause in einen Topf mit Erde. Das Bäumchen soll hier wachsen, bis es kräftig genug ist, um nach draußen gepflanzt zu werden.

Nach ein paar Wochen des Wartens zeigt sich eine grüne Spitze und nach einem Jahr ist das Bäumchen schon so sehr gewachsen, dass es umgetopft werden muss. Es wächst kräftig weiter und kann dann endlich von Eichhörnchen Bella mit ins Eichenwäldchen gesetzt werden. Doch bis es so groß sein wird wie Omas Baum werden noch Jahrzehnte vergehen. Es ist also viel Geduld gefragt.

Die kleine Geschichte vermittelt Kindern, wie sie vorgehen müssen, wenn sie einen Baum aus einem Samen ziehen möchten. Schritt für Schritt werden sie angeleitet und das auf sehr spannende Weise. Das Buch ist aufwendig und sehr schön illustriert. Bei genauerem Betrachten werden die Kinder immer wieder neue Details entdecken. Und hinter den spannenden Klappen zeigt sich, was sonst nicht zu sehen ist. So lässt sich zum Beispiel das Wurzelwachstum des Eichenschösslings im Blumentopf betrachten.

Auf ihrer Pflanzaktion wird Bella nicht nur von ihrer lieben Oma, sondern auch von einem Marienkäfer und einem Regenwurm begleitet, die gute Tipps geben und die so einige interessante Details beizutragen haben. Besonders spannend ist die letzte Klappe, die sozusagen einen Blick in die Zukunft des Bäumchens ermöglicht. Schade nur, dass die Jahreszeiten keine Beachtung finden.

Hinten im Buch findet sich noch eine Liste mit wichtigen Punkten, die beim Gärtnern helfen. Die Liste eignet sich auch schnell mal zum Nachschlagen. Das Buch ist ein schöner Begleiter für an der Natur interessierte Kinder und gibt Anlass zu vielen Gesprächen rund um die Natur.

Rezension von Heike Rau

Axel Scheffler und William Petty
Bella pflanzt einen Baum
Aus dem Englischen von Adélie und Axel Scheffler
16 Seiten, gebunden
ab 3 Jahren
Beltz & Gelberg, Februar 2023
ISBN-10: 3407756380
ISBN-13: 978-3407756381
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Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

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Wer weiß schon, was in einem Menschen vorgeht, der langsam sein Gedächtnis verliert? Arno Geiger hat es erfahren und in eine literarische Form gebracht, die anrührend, klar und feinfühlig an die Geschichte seines Vaters heranführt.

Zuerst noch unbemerkt, tastend und irritierend bemerkt der Sohn Veränderungen im Verhalten des Vaters, die er nicht deuten kann. Er verbessert Sätze, wenn sie wirr erscheinen und versucht dem Vater auf die Sprünge zu helfen bei Fehleinschätzungen und Erinnerungslücken. Doch eines Tages dämmert dem Sohn, dass der Vater die Realität nicht mit den gleichen Augen sieht wie er selber. Er muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass sich der Geist des Vaters verändert, und er sein Leben aus dem Griff zu verlieren droht. Mit wachen Sinnen und einfühlsamem Bemühen lernt der Sohn, den Vater in seiner sich stetig verändernden Andersartigkeit zu akzeptieren. Die oft wiederholte Phrase „ich will nach Hause“ bringt Arno Geiger zu der Erkenntnis, dass „Zu Hause sein“ ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Geborgenheit und Vertrautheit ist, das sich nicht zuletzt in der Religion mit dem Begriff des Himmelreichs bezeichnen lässt.

Feinsinnig und nachdenklich folgt Arno Geiger den Veränderungen im Verhalten seines Vaters und lässt noch einmal dessen Herkunft Revue passieren. Das karge Dasein eines Buben aus einer kinderreichen aber armen Familie lassen nicht viele Hoffnungen und Illusionen auf kommendes Glück zu.

Als der siebenunddreißigjährige Vater eine viel jüngere Lehrerin heiratete, waren beider Erwartungen an die Ehe und das Familienglück so diametral gegensätzlich, dass das Ende dieser Ehe geradezu vorprogrammiert schien. Sie überdauert nur die Zeit des Heranwachsens der Kinder.

Gut erinnert sich Arno Geiger an die eigene Kinderzeit, die Großeltern und die Atmosphäre im Haus und an den fleißigen und arbeitsamen Vater in seiner Rolle als kleiner Beamter in dem Ort Wolfurt in Österreich. Die Natur und erhabene Landschaft mit Blick auf den fernen Bodensee sind wiederholt Anknüpfungspunkte für Arno Geigers eigene Heimatbetrachtungen. Wohltuend steht er in seinen Erinnerungen an den Vater hinter diesem zurück und spiegelt nur seine Gefühle im Wandel zu dem an Demenz erkrankten Vater. Ein anrührendes Stück Literatur zeigt eine Vater-Sohn-Beziehung, die den Sohn zurück zu seinen Wurzeln führt und zu einem Vater, dem er sich lange entfremdet sah. Versöhnlich und liebevoll begleitet er mit wachen Sinnen dessen langsames Verlöschen aus der Gegenwart und aus den Bezügen der Vergangenheit. Wie tröstlich ist das Wiedererkennen der Charakterstrukturen des Vaters auch in seinen trüben Stunden!

Arno Geiger zeigt ein hervorragendes Talent, sich den Gefühlen zu stellen und sie in Worte zu fassen, die ihn zurück zum Vater seiner Kindheit führen und zu dem aus der Welt verschwindenden alten Menschen, der ihm wieder so nahe gekommen ist.

Arno Geiger
Der alte König in seinem Exil
192 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, 13. Auflage November 2012
ISBN-10: 3423141549
ISBN-13: 978-3423141543
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Dr. med. Alexander Sembritzki: LungenGesundheit – Selbstheilung mit Übungen und Tipps für Atemwege und Abwehrkraft

Dr. med. Alexander Sembritzki: LungenGesundheit – Selbstheilung mit Übungen und Tipps für Atemwege und Abwehrkraft

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Wenn die Lunge Probleme macht und freies Atmen nicht möglich ist, kann das verschiedene Ursachen haben. Dr. med. Alexander Sembritzki favorisiert eine ganzheitliche Behandlung und zeigt praktische Hilfe auf. Auch wer vorbeugend etwas gegen Lungenprobleme tun möchte, findet hilfreiche Tipps. Denn auch Stress kann dafür sorgen, dass uns die Luft wegbleibt. Dementsprechend sollen die zusammengestellte Übungen zu einem neuen Körperbewusstsein verhelfen, entspannend wirken, gesundheitsfördernd sein und die Abwehr stärken.

Aber zunächst geht es erst einmal darum, die Lungenfunktion zu verstehen. Der Autor erklärt sehr gut verständlich, was beim Atmen passiert und warum wir es überhaupt tun müssen. Und dazu gibt es gleich mehrere Übungen zum Einstieg, bei denen die Atmung und die Atemräume bewusst wahrgenommen werden können. Ich fand es spannend zu sehen, wie sich die Atmung schon durch eine bewusste Haltung vertieft.

In weiteren Verlauf werden verschiedene Atemübungen Schritt für Schritt und mit Fotos vorgestellt. Zwischen den Übungen sind immer wieder Erklärungen zu finden, die zeigen, welchen Einfluss die Lunge aus fernöstlicher Sicht auf die verschiedenen Stoffwechselprozesse und die Gesundheit hat. Übungen aus dem Qigong, die mit bestimmten achtsamen Bewegungen verbunden sind, schließen sich an. Und die Frage, in welcher Weise sie die Lunge stärken können, wird beantwortet. Dazu muss man die energetische Wirkung der Bewegungsabläufe kennen, die der Autor ausführlich erklärt. In sich hineinzuhören und nachzuspüren, erhöht die Vorstellungskraft.

Der Autor leitet auf eine Weise an, die gut nachvollziehbar ist und die Zusammenhänge erkennen lässt, sofern das mit dem Vorstellungsvermögen funktioniert. Anfangs ist es sicher nicht leicht. Die Übungen müssen einstudiert werden, damit die Bewegungen fließen und man sich achtsam auf sein Tun und die Atmung konzentrieren kann. Aber nur dann kann sich eine Wirkung entfalten. Sehr hilfreich sind in diesem Zusammenhang die bildhaft dargestellten Übungsabfolgen mit Kurztext im hinteren Teil des Buches. Auch die Sitz-Meditationen finden sich hier noch einmal.

Rezension von Heike Rau

Dr. med. Alexander Sembritzki
LungenGesundheit – Selbstheilung mit Übungen und Tipps für Atemwege und Abwehrkraft
112 Seiten, broschiert
Knaur MensSana, Februar 2023
ISBN-10: 3426659166
ISBN-13: 978-3426659168
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Annie Ernaux: Der junge Mann

Annie Ernaux: Der junge Mann

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Mit dem neuesten Buch von Annie Ernaux erfahren wir eine weitere kleine Episode aus ihrem Leben. Andere hat sie schon in ihren vorangegangenen Büchern thematisiert.

Wie Mosaiksteinchen kommen sie einem vor. Nicht die große Biographie ist ihr Metier, sondern Einzelheiten, in denen sie mikroskopisch sezierend in der Welt der Werte und Moral nach ihrem Platz im Leben sucht.

Mit 54 Jahren hat sie ein leidenschaftliches Verhältnis mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten.
Durch die Beziehung zu dem so viel jüngeren Mann erinnert sie sich an ihre eigene Zeit noch als armes Mädchen und Studentin. Die Reaktionen der Umwelt und so vieles mehr werden minutiös beschrieben. Bösartige Blicke in Kaffees und Restaurants und Argwohn bei den gemeinsamen Auftritten in der Öffentlichkeit wecken ihre Aufmerksamkeit.
Sie war so lange das skandalöse Mädchen! Damit ist es nun vorbei!
Doch sie sieht bereits die kommende Trennung.

Es gibt zahlreiche Momente, von denen er nichts weiß, und in denen sie ihm weit voraus ist: Studentin sein, arm sein, eine Abtreibung im Visier mit der Trauer und der Einsamkeit, die sie dabei erfahren hat. Als sie ihm ein Bild zeigt von sich als junger Frau, wird er traurig. Er kennt sie doch JETZT und will nichts von ihrem vergangenen Leben wissen.

In Gedanken ist sie bei einem neuen Buch, das sie schreiben wird. Sie reflektiert jedes Detail ihres Daseins, sieht, wie die Momente vergehen und ihr Leben sich in Wiederholungen verliert.
Mit der Abtreibung, an deren Darstellung sie schreibt, beginnt die innere Ablösung von A.

Sex, Lust, Begehren und Schreiben verschwimmen zu einem gemeinsamen Prozess. Mit dem Ende des Buches ist das Ende der Beziehung in ihren Augen vorprogrammiert.

Hier wird wieder nur eine Episode beschrieben, in der Annie Ernaux erneut ihr Leben reflektiert.
Für die Lektüre dieses schmalen Bandes braucht es nur knapp zwei Stunden.
Fasziniert legt man das Buch zur Seite. Wieder ein gelungenes Stück Erinnerung mit tiefenscharfem Blick!
Im Grunde hat sie beim Schreiben immer ihr Leben zum Thema ihrer literarischen Betrachtungen gemacht. Das ist ihr hervorragend gelungen.

Annie Ernaux bekam 2022 den Nobelpreis für Literatur.

Annie Ernaux
Der junge Mann
Suhrkamp Verlag, Januar 2023
48 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3518431102
ISBN-13: 978-3518431108
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Kerstin Holzer: Monascella

Kerstin Holzer: Monascella

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Es war sicher nicht leicht, im Hause von Thomas Mann Kind zu sein! In der vorliegenden Biographie von Kerstin Holzer über Monika Mann wird das sehr deutlich.

Sechs Kinder hatten Thomas Mann und seine Frau Katia. Im Abstand von jeweils einigen Jahren kamen kurz hintereinander ein Junge und ein Mädchen zur Welt.

Über die Familie des berühmten Schriftstellers und über seine Kinder gibt es zahlreiche Bücher. Man weiss, dass die sechs Kinder unterschiedliche Begabungen hatten und unterschiedliche Lebenswege beschritten.

Am wenigsten bekannt war bisher Monika Mann, das vierte der sechs Mannkinder. Sie galt als Sonderling und trat wenig in Erscheinung. Bei der Flucht aus Europa 1940 während des 2.Weltkriegs verlor sie ihren Mann bei einem Schiffsuntergang, den sie überlebte.
Fortan und schon in ihrer frühen Kindheit galt sie als lästig. Als Jahre nach ihr noch Elisabeth geboren wurde, beschreibt Monika selber diesen Augenblick als „das Ende ihrer Kindheit“. Die Mutter mochte Monika schier gar nicht um sich haben. Nach einem Besuch 1953 schreibt Katia über sie, dass sie als Hausgast „unvorstellbar in ihrer Muffigkeit“ sei. Man ging sich lieber aus dem Wege.

Kerstin Holzer hat sich verdienstvoller Weise dieser Tochter von Thomas und Katia Mann angenommen und ihren Lebensweg nachgezeichnet.

Niemand liebte die Tochter/ Schwester wirklich. Erika und Klaus waren exzentrisch und brillierten in der Öffentlichkeit, Golo wurde Historiker, Elisabeth, das vom Vater besonders geliebte „Kindchen“, hatte als einzige wohl eine fröhliche und unbeschwerte Lebensart; Michael wurde Musiker und schenkte dem Vater den geliebten Enkel Frido.
Wo aber blieb Monika?

Kerstin Holzer beschreibt ein Leben, das unausgefüllt und chaotisch war.
Die Geschwisterzahl, der ruhebedürftige Vater und eine lieblose Mutter hatten ihr eine unglückliche Kindheit beschert. Sie irrt durchs Leben, schreibt kleine Feuilletons, die vom berühmten Vater nicht besonders wohlwollend beurteilt werden und will zwischendurch Pianistin werden. Alle ihre Vorhaben scheitern. Sie wird von der Familie als faul, träge, antriebsarm und lästig empfunden.

Bezugnehmend auf die Analytikerin Karen Horney kann Kerstin Holzer überzeugend darlegen, dass Monika von Beginn ihres Lebens an ungeliebt, vielleicht sogar unwillkommen, an einem tiefen Entwicklungsdefizit litt, dass sie zur Außenseiterin in der Familie verdammte.
Als sie nach langen Jahren schließlich Capri für sich als lebenslänglichen Aufenthaltsort entdeckte, dazu in Antonio Spadaro einen liebevollen Lebensgefährten, konnte sie endlich zur Ruhe kommen.

Karin Holzer hat einen offenen und unvoreingenommenen Blick auf Monika. Sie beschreibt sie mit Empathie und Einfühlungsvermögen. Monika hat ihren Außenseiterstatus erkannt und beklagt. Mit ihrem Aufenthalt auf Capri fand sie endlich Ruhe.

Das Bild dieser außergewöhnlichen Familie, die in der literarischen Welt durch den Schriftsteller Thomas Mann Berühmtheit erlangte, ist immer wieder spannend. Familien aber sind zu allen Zeiten im Bemühen um Einigkeit sehr häufig zum Scheitern verurteilt. In der Literatur gibt es zahlreiche Beispiele dafür.

Das Quellenverzeichnis ist aufschlussreich und zeigt die Sorgfalt, mit der das Buch konzipiert ist.

Eine klare Empfehlung!

Kerstin Holzer
Monascella
208 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, 2. Auflage, November 2022
ISBN-10: 3423290420
ISBN-13: 978-3423290425
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Gabrielle Filteau-Chiba: Bis der Fluss taut – Tagebuch aus der Wildnis

Gabrielle Filteau-Chiba: Bis der Fluss taut – Tagebuch aus der Wildnis

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Anouk hat Montreal den Rücken gekehrt, um in einer einfachen Hütte in der Wildnis von Kamouraska zu leben. Um in dieser eisigen Kälte überleben zu können, muss sie sich jeden Tag bei durch den Schnee kämpfen, um Holz zu holen, damit der kleine Ofen, er ist ihre einzige Wärmequelle, nicht ausgeht. Bald friert der Fluss zu und gibt kein Wasser mehr her, sodass ihr nichts anderes übrig bleibt, als Schnee zu schmelzen. Von der Zivilisation hört sie nur den Zug, der ihr eine zeitliche Orientierung gibt und für eine gewisse Struktur im Alltag sorgt. Doch eines Tages fährt er nicht mehr.

Zurück will Anouk keinesfalls, denn das zivilisierte Leben hat ihr noch viel weniger zu bieten. Sie zieht die Einsamkeit vor, doch wäre ihr Zweisamkeit lieber. Die junge Frau denkt viel nach, träumt und beschäftigt sich mit dem Schreiben in den wenigen hellen Stunden und in der Dunkelheit bei Kerzenschein. Sie versucht, mit ihren Ängsten klarzukommen und sich auf das Wesentliche hier draußen zu konzentrieren, denn auch ernste Gefahren hält die Natur bereit, wie sie bald feststellen muss. Anouk ist froh, als eines Tages ein Kater kommt und ihr Gesellschaft leistet. Nach Wärme und Nähe sehnt sich sehr. Er soll nicht der einzige Überraschungsgast bleiben.

Die Autorin bedient sich einer tiefgehenden Sprache und schafft eine besondere Atmosphäre. Sie malt mit Worten faszinierende Naturbilder, die einen Gegensatz zur Enge in der einfachen Hütte bilden.

Viel ist in diesem Buch leider nicht über Anouk zu erfahren. Dazu ist es viel zu kurz. Ihre Motivation stellt sich vor allem in ihrer engen Naturverbundenheit dar. Sie sieht das Ökosystem bedroht und ist damit nicht allein. Was wird wohl aus ihr werden? Was wird sie tun nach dieser Kältewelle und nach diesem Winter? Wir erfahren es nicht, aber es ist auf den letzten Seiten ihres Tagebuchs von Hoffnung zu lesen und einem großen Vorhaben, das sie angehen will.

Rezension von Heike Rau

Gabrielle Filteau-Chiba
Bis der Fluss taut
Tagebuch aus der Wildnis
Aus dem Quebecfranzösischen von Katrin Segerer
112 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Dezember 2022
ISBN-10: 3423290277
ISBN-13: 978-3423290272
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Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

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In diesem Debütroman aus dem Jahr 2016 von Daniela Krien geht es um eine außergewöhnliche Liebesgeschichte und um eine weitläufige Bauernfamilie jenseits der westdeutschen Grenze in der DDR.

Der Brendel- und der Hennerhof sind zwei benachbarte Höfe. Das Leben in und um die Höfe ist geprägt von den Bewohnern, die in ihrer ganzen vielfältigen Verwandtschaft in die Geschichte hineinspielen.

Die Wende hat gerade stattgefunden. Hier aber geht das Leben seinen Gang. Die LPGs gibt es nicht mehr, und einzelne Bauern sind wieder Besitzer ihrer Höfe. Ein großes Fest zur Wiedervereinigung steht an!

Maria, die Icherzählerin, ist 16 und geht in die Schule. Dort trifft sie Johannis vom Brendelhof. Er nimmt sie mit und stellt sie seinen Eltern vor. Fortan lebt sie mit ihm auf seinem elterlichen Gehöft, da ihre Mutter verlassen vom Vater ein ärmliches Leben führt.

Herrliche Landschaftsbilder in einem flimmernden Sommer führen einen sogleich in das Landleben ein. Maria ist jung, hübsch und unbeschwert. Sie schwänzt die Schule und geht ihren eigenen Träumen nach. Dem Lesen gehört ihre Leidenschaft. Es sind die „Brüder Karamasow“, die sie besonders faszinieren.

Bei all dem Treiben und den Begegnungen lernt sie den viel älteren Bauern Henner vom Nachbarhof kennen. Er ist schon vierzig Jahre alt.
Zwischen den beiden bahnt sich eine große Leidenschaft an. Maria ist diesem Mann sehr bald hörig. Ihre Gefühle schwanken zwischen Scham, Schuld und Ekstase. Die Lüge überdeckt ihr geheimes Leben mit Henner, der ihr Vater, Mutter, Freund und Geliebter in einem ist.

Der Krieg mit seinen Auswüchsen, die DDR mit ihrem Gefolgschaftswahn und ihren Schrecken: durch die Schicksale der einzelnen Figuren kommt vieles zur Sprache.
Mit der Wende soll nun alles anders werden.

Hinreißend sind die Naturbeschreibungen und die von Maria wahrgenommenen Empfindungen beim Betrachten der Häuser, der Zimmer mit allen Einzelheiten und der Küche mit ihren wunderbaren Gerüchen vom Backen, Braten und Kochen. Die Ansprüche der Bewohner sind bescheiden. In der Kneipe mit ihren Besuchern findet man Einblicke in das Dorfleben, und in der Natur erlebt man die Vielfalt an Stimmungen mit ihren wechselnden Jahreszeiten.

Die amour fou zwischen dem vierzigjährigen Henner und der bald siebzehnjährigen Maria bleibt das untergründig beherrschende Thema der Geschichte, geheim und verboten. Das Reifen des jungen Mädchens zur Frau ist nachvollziehbar. Es gibt der Geschichte Spannung und wird in einer so authentischen Weise geschildert, dass man meint, alles könnte sich genau so zugetragen haben.

Daniela Krien kann schreiben! Sie hat das Feingefühl und das richtige Gespür für menschliche Schwächen, Größen und, ja, auch Details des Alltagslebens auf dem Land. Wie sich die Zeiten verändern, wie es auch nebenbei politische Betrachtungen gibt, das ist meisterhaft geschildert.
Das Ende kommt überraschend, erschreckend und passt genau.

Ein wunderbares Buch, das einmal mehr Daniela Kriens Fähigkeiten als herausragende Autorin unter Beweis stellt.

Daniela Krien
Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Diogenes, 1. Auflage, November 2022
272 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072198
ISBN-13: 978-3257072198O
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