Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

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Glattauer hat einen kurzweiligen und anregenden Roman geschrieben. Er benutzt die Möglichkeiten des Internets, um seine Geschichte in Szene zu setzen.

Zwei gut situierte Paare gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana.
Die Strobl-Marineks und die Binders sind gut befreundet. Binders haben den Sohn Benjamin, und Martineks die Tochter Lotte und Sophie mitgebracht. Damit sich die 14jährige Sophie nicht langweilt, durfte sie ihre Freundin Aayana mit in den Urlaub nehmen. Aayana ist ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia.

Was froh und entspannt beginnt, endet sehr bald in einer Katastrophe. Sophie will Aayana das Schwimmen beibringen. Doch diese nutzt die Nacht, um selber im Pool zu schwimmen. Dabei ertrinkt sie.

Was macht den Roman so lesenswert?
Glattauer baut den Roman so auf, dass der Hauptkonflikt fast sofort klar wird. Zugespitzt erlebt man eine Flüchtlingstragödie bedauerlichen Ausmaßes.
Es gibt die vielen vermeintlichen Nebensächlichkeiten, die zur Katastrophe beigetragen haben könnten.

Elisa Marinek hat einen Geliebten. Um ihre Ehe ist es nicht mehr gut bestellt. Sie ist eine emanzipierte Frau, promoviert und Abgeordnete der Grünen im österreichischen Parlament.
Ihre politische Karriere könnte durch durch Aayanas Tod Schaden nehmen.
Sophie hat einen Internetfreund, mit dem sie sich austauscht, und in den sie sich, ohne ihn je gesehen zu haben, verliebt.
Melanie bezichtigt Elisa, den Tod von Aayana bewußt nicht verhindert zu haben. Die Atmosphäre zwischen den Paaren ist angespannt.
Die Dialoge sind aufschlussreich, weil sie Stimmungen vermitteln, die konfliktträchtig und unaufrichtig sind.

Glattauer bedient sich u.a. des Internets, um Austausch und Kommentare dort zu verfassen.
Nach und nach erreichen sowohl Elisa als auch Sophie Häme und Spott über dieses Medium.
Es gibt die pubertierende Tochter, die sich angestachelt durch ihre Internetkorrespondenz in eine phantastische Liebesgeschichte hineinsteigert. Man erlebt zwei Ehepaare, die durch die ganze Geschichte aufgeregt und irritiert ihre bürgerliche Existenz gefährdet sehen.

Die Figuren sind eine jede sehr eigen in ihrer Charakterstruktur. Gebannt folgt man einer Erzählung, die uns nach Österreich mitnimmt, in die Toskana und am Ende mit allen rechtlichen Verwicklungen als Folge des Todes von Aayana wieder nach Wien.
Verwirrung der Gefühle und Befindlichkeiten auf der ganzen Linie!

Glattauer setzt allem die Krone auf, indem er die verschiedenen Erzählstränge gekonnt zusammenführt, so dass sich ein abgerundetes Verstrickungsmodell abzeichnet.

So ist das Leben: es steckt voll hintergründiger Fallstricke und führt Menschen zusammen, die sich entweder gegenseitig nutzen oder Unglück auslösen.

Daniel Glattauer hat wieder einmal einen anspruchsvollen Unterhaltungsroman geschrieben.

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Paul Zsolnay Verlag, März 2023
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552073337
ISBN-13: 978-3552073333
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Chris McGeorge: Escape Time – Die Morde von morgen

Chris McGeorge: Escape Time – Die Morde von morgen

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Das örtliche Krankenhaus hat eine Radiostation für ihre Patienten. Hier bringt sich Shirley Steadman mit ein und erfüllt die Musikwünsche der Patienten. Die ehrenamtliche Arbeit macht ihr viel Spaß. Als sie bei der Vorbereitung Radio hören möchte, entdeckt sie einen ihr unbekannten Sender. Der Moderator spricht mit verzerrter Stimmung und irrt sich auch noch im Datum. So scheint es, als würde er die Nachrichten von morgen verkünden. Doch tatsächlich hat der Unfall des Bäckers noch nicht stattgefunden, sondern ereignet sich erst am nächsten Tag. Wie konnte der Nachrichtensprecher das wissen?

Als er dann auch den Unfall des Milchlasters vorhersagt und dieser sich dann am nächsten Tag genauso ereignet, wird Shirley, die sich extra auf den beschwerlichen Weg zum Unfallort gemacht hat, misstrauisch. Als Nächstes wird ein Mord vorhergesagt. Sie muss die Polizei informieren, doch wird sie hier nicht ernst genommen.

Das angebliche Mordopfer, das sie vorwarnen möchte, macht sich ebenfalls über sie lustig. Shirley wird den Mord also nicht verhindern können. Aber vielleicht wird er auch gar nicht geschehen. Ihr sind die Anzeichen bewusst, die an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln lassen. Immer wieder sieht sie im Haus ihren verstorbenen Sohn und unterhält sich mit ihm. Aber was, wenn es doch zu diesem vom Radiomoderator vorausgesagten Mord kommt?

Die alte Dame vermag vielleicht nicht das Zeug zu einer wirklich guten Ermittlerin haben, aber sie tut, was sie kann, trotz körperlicher Einschränkungen. Sympathiepunkte kann sie trotzdem nicht zu sammeln, ich fand nicht wirklich Zugang zu ihr. Auch ihr Umfeld scheint sie als eher unfreundlich zu empfinden. Dazu kommt die Entfremdung, die zwischen ihr und ihrer Tochter dargestellt wird. Ihren Charakter so zu zeichnen, könnte Absicht sein. Denn so kommt es, dass Shirley zunächst niemanden hat, dem sie sich anvertrauen kann.

Der Krimi verläuft eher gemächlich und wirkt entsprechend einfach geschrieben. Mit mysteriösen Wendungen habe ich nicht gerechnet und so bin ich überrascht, als genau diese dann endlich Spannung aufkommen lassen. Es geht in eine wirklich unglaubliche Richtung, mit der Option erneut aufs Glatteis geführt zu werden.

Rezension von Heike Rau

Chris McGeorge
Escape Time – Die Morde von morgen
416 Seiten, broschiert
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
Knaur, April 2023
ISBN-10: 3426227886
ISBN-13: 978-3426227886
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Franziska Jebens: Immer am Meer entlang

Franziska Jebens: Immer am Meer entlang

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Der alte Bulli bedeutet für Josi Freiheit. Schon lange plant die Polizistin für ein Jahr an den Küsten Europas entlang zu reisen und Abenteuer zu erleben. Als alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, macht sie sich freudig auf die von ihr zuvor genau durchgeplante Reise.
Paul hat sich spontan nach einem inspirierenden Vanlife Reisevortrag ein passendes Auto gekauft, hat es kurzerhand ausgebaut, seinen Job gekündigt und ist losgefahren. Er ist unzufrieden mit seinem Leben und nun soll es endlich in eine andere Richtung gehen.

Die beiden begegnen sich, als Paul eine Autopanne hat und Josi ihre Hilfe anbietet. Sie reisen nicht gemeinsam weiter, begegnen sich aber hin und wieder, tauschen Botschaften aus oder machen sich auf besonders schöne Orte aufmerksam. Aber auch so kann man sich näher kommen oder zumindest Freunde sein.

Sommer, Sonne, malerische Landschaften und Meeresblick. Es ist traumhaft schön, den Roadtrips von Josi und Paul zu folgen, die sich bewusst dazu entschieden haben, allein durch Landstriche Europas zu reisen. Der Leser wird mit Naturbeobachtungen in Urlaubsstimmung versetzt. Das gelingt wirklich gut, denn die Beschreibungen sind sehr detailreich, wecken Erinnerungen und machen auch ein bisschen sehnsüchtig, sollte der letzte Urlaub ans Meer schon eine Weile zurückliegen. Die Kapitel sind in Länder untergliedert und die Reiseziele sehr abwechslungsreich.

Es gibt zwei Handlungsstränge, sodass jeder seine eigene Geschichte erzählt und der Leser Gedanken und Gefühle nachempfinden und sich perfekt in Josi oder Paul hineinversetzen kann. Schließlich gibt es auch ernste Gründe für die Reise. Es bleibt viel Zeit zum Nachdenken und für eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Das ist der Vorteil, wenn man allein unterwegs ist. Wobei die beiden hin und wieder auch bewusst unterwegs neue Kontakte knüpfen und die Verbindung zu den Freunden zu Hause nicht abreißen lassen.

Das Buch ist beste Unterhaltungsliteratur. Es liest sich leicht, wirkt entspannend und vertreibt die Zeit perfekt, zumal die Autorin selbst gerne auf diese Weise reist und viele eigene Erlebnisse und Erfahrungen hat einfließen lassen.

Rezension von Heike Rau

Franziska Jebens
Immer am Meer entlang
416 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, März 2023
ISBN-10: 3423218533
ISBN-13: 978-3423218535
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Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

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Der holländische Autor Daan Heerma van Voss hat ein wissenswertes Buch über Depressionen und Angstzustände geschrieben.

Als sich die Freundin von ihm trennt, weil sie seine Ängste nicht mehr ertragen kann, fasst er den Entschluss, den eigenen Ängsten auf die Spur zu kommen.
Konfrontiert mit immer neuen Angstphasen, besucht er zunächst einen Freund in Frankreich, wo er sich in intensivem Studium mit den Ursprüngen der Ängste befasst. Er staunt selber über Statistiken, aus denen hervorgeht, wie verbreitet Ängststörungen sind.
Es gibt chemische Formeln, mit denen man im Gehirn bei der Untersuchung am Menschen abweichende Normen für mentale Zustände diagnostizieren konnte.
Seine Studien führen den Autor zu seinen Ahnen in Indonesien, von denen ebenso bekannt ist, dass sie unter Ängsten litten.
Sehr präzise macht er den Weg aus, der bis zur Erkenntnis des heutigen Begriffs “Angststörung“ geführt hat. Da ist zunächst von Überarbeitung die Rede, neurasthenischer Veranlagung, Nervosität, Unruhe und vielen Begriffen mehr.

Schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts finden sich Andeutungen über Melancholie. Aber es geht noch weiter zurück bis hin zur griechischen Mythologie.
Ängstlich vermieden die Betroffenen, ihren Zustand als krank zu bezeichnen. Man beließ es gerne bei äußeren Einflüssen: Überarbeitung und wirtschaftlicher Not etc. Allerdings hat man bei Forschungen schon in Darwins Tagebüchern Aufzeichnungen gefunden, die auf gelegentliche Stimmungsschwankungen schließen lassen.

In der Literatur gibt es vielfache Hinweise auf psychische Not wie z.B. bei Proust, Hölderlin, ja selbst Goethe schrieb über die Melancholie; man findet sie bei Heine, Stefan Zweig, Thomas Mann und vielen anderen mehr.

Der Autor bemüht zahlreiche Studien, führt Gespräche mit Psychiatern und Psychologen, um zu dem heutigen Begriff der „Angststörung“ vorzudringen. Er bezeichnet seinen Weg als einen, der durch die Familiengeschichte, Wissenschaft, Literatur, Geschichte und Philosophie führte, um sich selber besser zu verstehen.
Es geht ihm eindeutig darum, mit der Ursachenforschung die Begründung für seine eigenen Malaisen zu finden. Dabei geht er neben eingeschobenen eigenen Stadien der Krankheit sehr wissenschaftlich vor. Er beeindruckt durch seine klare Sprache, seinen ungetrübten Blick und die rückhaltlose Offenheit. Dazu gehört ein immenses Wissen an verschiedenen Forschungsrichtungen, mit denen man den dehnbaren Begriff der „Angststörung“ auf die Spur zu kommen trachtete. Spannend wird sein Bericht dadurch, dass häufig Wissenschaftler oder auch Entdecker für weitere Forschung am eigenen Leib mit den Merkmalen von ungeklärten Symptomen geschlagen waren als da sind: Phobien, Melancholie, Unruhe, Schwindel, Platzangst etc.

Van Voss zieht als Fazit aus seinen Studien und der Ahnenforschung die Bilanz, dass genetische Faktoren, soziale Einflüsse und defekte chemische Strukturen im Gehirn erst zu den krankhaften Erscheinungen an Leib und Seele führen können.
Durch die Einschübe eigener Angstphasen und Gesprächen mit anderen Betroffenen wird die Verbindung zwischen realem Leben und Forschungserkenntnissen einleuchtend und lebendig.

Van Voss beginnt und lässt seinen Bericht enden mit seiner Liebe zu einer Lebensgefährtin, die seine Ängste weder verstand noch tolerierte.
Tabus belegen auch heute noch diese Krankheiten, die doch seit Jahrhunderten schon die Menschheit bedrängen.

Van Voss leistet mit seinem Buch einen hervorragenden Beitrag zu den so weit verbreiteten Formen der Angst und Depression mit der damit einhergehenden Einsamkeit. Sie zeitigen häufig tragische Folgen für die Betroffenen.
Ein gründliches und verstehbares Wissen macht den Bericht auch für den Laien sehr lesenswert.

Daan Heerma van Voss, Historiker, Autor und Journalist gilt als eine wichtige Stimme seiner Generation in Holland.

Im Anhang gibt es ein ausführliches Quellenverzeichnis.

Daan Heerma Van Voss
Die Sache mit der Angst
Diogenes, März 2023
384 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072309
ISBN-13: 978-3257072303
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Edvard Hoem: Die Hebamme

Edvard Hoem: Die Hebamme

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Der Autor hat sich mit diesem Buch der Lebensgeschichte seiner Ururgroßmutter Marta Kristine Andersdatter Nesje angenommen, geboren 1793. Er hat Dokumente ausfindig gemacht, aus Kirchenbüchern Details übernommen, die Aussagen über sie und ihr Umfeld machen, und die geschichtlichen Hintergründe und damaligen Traditionen recherchiert, um daraus eine Geschichte zu konstruieren, die ich als sehr gelungen und einfühlsam empfinde.

Marta Kristine ist die älteste Tochter des Schuhmachers Anders Knudsen und seiner Frau Karen. Sie ist an vielen Dingen interessiert und hinterfragt selbstbewusst, was sie nicht versteht.

Schon in der Schule begegnet sie Hans und es scheint, als haben beide eine gemeinsame Zukunft vor sich. Tatsächlich werden die beiden ein Paar, doch es sollen viele Jahre ins Land gehen, bis Hans ein Häuschen am Fjord baut und sie es beziehen. Den Wunsch, Hebamme zu werden, hat Marta Kristine frühzeitig, aber ihn durchzusetzen ist eine andere Sache. Pastor Stubbe ist es, der ihr einen Weg eröffnet. Allerdings wird diese doch sehr kurze Ausbildung nicht von allen werdenden Müttern anerkannt. Sie setzen lieber auf Frauen aus ihrem Umfeld, die bei der Geburt unterstützen.

Wieder vergehen Jahre und es eröffnet sich die Möglichkeit, im von der Westküste Norwegens weit entfernten Christiana, eine umfassende Weiterbildung zu absolvieren. Nur hat sie zu diesem Zeitpunkt schon eine Familie. Dennoch entschließt sie sich dafür und lässt Mann und Kinder zurück. Es ist ihr wichtig und auch unbedingt notwendig, etwas zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen zu können. Doch die Mütter haben kaum das Geld, sie zu bezahlen. Es sind schwere Zeiten und Hans wird immer schwermütiger, hat er im Krieg seine Kameraden sterben sehen.

Das Buch schließt ab mit dem Tod von Marta Kristine, die mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen leben musste und viele Schicksalsschläge zu verkraften hatte. Der Autor beschreibt den Alltag, das Dorfleben und bezieht hier die Jahreszeiten mit ein.

Die Geschichte der Hebamme ist sehr eindrucksvoll, tiefgreifend und detailreich geschrieben, durchwoben von Melancholie. Man wird gefangen genommen von Marta Kristines Lebensweg, den sie sich erkämpft hat, und der sehr zu Herzen geht. Sie war eine fortschrittliche Frau und offen für neue medizinische Kenntnisse, die sie als Hebamme nutzen konnte. Diese längst vergangene Zeit lebt mit diesem Buch noch einmal auf und ich habe mich beim Lesen ein bisschen wie eine Zeitreisende gefühlt.

Rezension von Heike Rau

Edvard Hoem
Die Hebamme
Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer
352 Seiten, broschiert
Unionsverlag, März 2023
ISBN-10: 3293209726
ISBN-13: 978-3293209725
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Annika Büsing: Koller

Annika Büsing: Koller

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Dieses Buch ist ein Roadmovie der besonderen Art.

In einer trockenen und spröden Sprache beschreibt Annika Büsing die Geschichte von Chris und Koller, der eigentlich Kolja heisst.
Es fängt mit der Liebe an und hört mit ihr auf.
Wer ist Chris: Junge oder Mädchen?
Dann wird es klar: Koller hat sich in ihn verliebt! Chris ist der Icherzähler, ein nachdenklicher und ruhiger Mensch.
Zwischen den Zeilen wird die Geschichte eines jeden Jungen eingeblendet.
Sie lassen sich treiben und gehen keiner regelmäßigen Beschäftigung nach. Koller hat Medizin studiert. Das praktische Jahr stünde an; aber er mag nicht arbeiten.

Chris erzählt in Andeutungen von seiner Mutter. Sie ist Ärztin und liest Hegel. Er wuchs in einem gebildeten aber vaterlosen Haushalt auf.

Koller erfährt unvermutet, dass er Vater einer 4jährigen Tochter ist. Das haut ihn um. Also macht er sich mit Chris auf den Weg, sie zu besuchen. Sie fahren mit einem alten Polo an die Ostsee. Der Weg wird von allerhand Misshelligkeiten unterbrochen.

Den trockenen Sprachstil erkennt man wieder. Schon in „Nordstadt“ war dieser Sound sprachbestimmend. Er hat eine seltsame Faszination für den Leser*In.

Annika Büsing lässt die Männer unterschiedliche Stationen passieren. Mal ist es das Heim, in dem die behinderte Schwester von Koller lebt. Dann wieder suchen sie die Kate von Kollers Oma. Im Grunde erleben sie Nichtigkeiten. Eine gewisse Lethargie und Antriebslosigkeit lässt die Burschen ihres Weges ziehen. Haben sie ein Ziel? Es ist nicht erkennbar. Vielleicht einfach: in den Tag hineinleben, um den Moment zu genießen.

Auffällig sind Einschübe von poetischer Sprachkraft. Sie erinnern an biblische Aussprüche. Mitten hinein in einen ganz gewöhnlichen Augenblick „Die Sonne geht unter. Und siehe, es ist alles gut“ erscheinen diese Sätze wie aus dem Rahmen fallende Momente der Ruhe.
Alle dargestellten Beziehungen sind konfus. Sie sind ganz sicher nicht bürgerlich.
Am Ende geht es um Identitätsfindung, Autonomiesuche und um die Frage, was und wozu leben wir.

Verklausuliert in ihrer stockenden Alltagssprache bietet die Erzählung mit ihrem Tiefgang einen ganz einmaligen Reiz.
Es handelt sich um eine verlorene Generation mit starken Gefühlen, die nur sehr verhalten rüberkommen. Nicht zuletzt spielt das Leben in West und Ost vor und nach der Wende eine Rolle.

Am Ende wirkt die Geschichte, als ließe die Autorin uns mit einem Fragezeichen zurück. Glück? Freude?
“Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht.“ Momente scheinen den Augenblick zu bestimmen.

Annika Büsing
Koller
Steidl Verlag, 2. Auflage, März 2023
176 Seiten, gebunden
ISBN-10: 396999196X
ISBN-13: 978-3969991961
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Marko Simsa und Anna-Lena Kühler: Die Kindersinfonie

Marko Simsa und Anna-Lena Kühler: Die Kindersinfonie

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Herr Leopold, der Musikmeister des Hofes, wird vom König beauftragt, ein neues Musikstück zu komponieren, denn der König des Nachbarlandes kommt mit seiner Frau zu Besuch. Da sie auch ihre fünf Kinder mitbringen, muss es auch ihnen gefallen. Herr Leopold weiß, wie anspruchsvoll Kinder sind. Da muss er sich wohl etwas Besonderes einfallen lassen. Die neue Sinfonie soll lustig und abwechslungsreich sein.

Schon bald hat er eine Melodie im Sinn, aber das reicht nicht aus. Die Königskinder Prinz Luis, Prinzessin Rosmarie und ihre Freundin Laura steuern lustige Ideen bei. Eine Trommel, eine Kindertrompete und eine Ratsche sollen im Orchester spielen. Der Hofnarr hat eine Vogelpfeife und eine Kuckucksflöte. Und so wird auch er zum Orchester gehören. Dem König wird aber nichts verraten. Nicht nur für die Gäste, sondern auch für ihn soll die Kindersinfonie eine Überraschung werden.

Schon das Buch liest sich spannend. Hier erfahren die Kinder ganz genau, wie das neue Musikwerk entsteht und was die Kinder beitragen. Es ist durchgehend sehr ansprechend und farbenfroh illustriert, sodass es viel auf den Seiten zu entdecken gibt.

Zum Buch gehört ein Begleit-Hörbuch auf CD, das auch digital zur Verfügung steht nach Anmeldung. Es ist eine ideale Kombination. Das Buch wird vorgelesen und die Musik ist zu hören. Auf den Seiten sind entsprechend Zahlen vermerkt, sodass es bei Bedarf leicht ist, eine bestimmte Szene zu hören, die den Kindern vielleicht besonders gut gefallen hat oder zum Beispiel die lustige Vogelpfeife herausgehört werden soll.

Schön ist, dass das Musikbilderbuch auch zum Mitmachen einlädt. Auch wenn diese Kinderinstrumente nicht zur Verfügung stehen, findet sich doch sicher etwas anderes, mit dem sich Musik machen lässt und die Kinder beim ersten Stück, einem Allegro, dabei sein können. Da reicht schon eine einfache Kindertrommel aus oder ein Topf und ein Kochlöffel. Kinder sind einfallsreich und werden Ideen beisteuern oder einfach beim zweiten Stück, einem Menuett, mittanzen. Besonders spannend ist das große Finale, das dreimal gespielt wird und jedes Mal schneller wird. Es ist ein schöner Abschluss und wie zu hören ist, sind die Gäste begeistert.

Rezension von Heike Rau

Marko Simsa und Anna-Lena Kühler
Die Kindersinfonie
mit Musik von Leopold Mozart
24 Seiten, mit Begleit-Hörbuch auf CD
ab 3 Jahren
Annette Betz im Ueberreuter Verlag, März 2023
ISBN-10: 3219120032
ISBN-13: 978-3219120035
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Helga Schubert: Der heutige Tag

Helga Schubert: Der heutige Tag

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Eine Frau begleitet ihren Mann auf seinem letzten Lebensabschnitt. Seine Demenz ist offensichtlich. Wie geht man damit um?

Helga Schubert beschreibt im Wechsel mit ihrer Gegenwart, wie sie mit ihrem Mann zusammengelebt hat, wie ihre Liebe entstand und Bestand hatte und wie das „Heute“ aussieht.

Derden, wie sie ihn nennt, ist alt, krank und abhängig von ihr wie nie zuvor in ihrem langen gemeinsamen Leben.

Die Anfänge ihrer Ehe waren holprig; beide hatten Ehen hinter sich und Kinder aus diesen vergangenen Ehen. Während sie ihr Leben alleine schon bald gestaltet, zieht es ihn immer wieder zurück zu seiner Ehe und dem Familienleben. Sie konnte dem alternativlos ein Ende setzen. Nun sind sie seit 58 Jahren zusammen und lieben sich immer noch!

Das ist eine lange Zeit, um sich nah zu sein und zu bleiben. Es scheint ihnen gelungen, ein glückliches gemeinsames Leben gemeistert zu haben. Er malt, sie schreibt, doch das jetzige Leben mit Pflege und allen Begleiterscheinungen eines vergänglichen Lebens hat nochmal eine ganz neue Dimension.

Es gibt wunderbare Berichte über ihr Leben auf dem Land in einem stillen Bauernhaus in Mecklenburg, das Ruhe und Beschaulichkeit verspricht.

Die Düfte und Geräusche der natürlichen Umgebung sind berückend. Man vergisst vorübergehend ganz, was die Pflege ihres Mannes  für die Autorin an Beschwerlichkeiten mit sich bringt. 

In ihrem Alter, 83, sieht sie bei Freunden und Bekannten Veränderungen mit den unterschiedlichsten Merkmalen. Es gibt weit verbreitet Demenz, Heimunterbringungen, Todesfällte; auch späte Liebe mit über neunzig Jahren kommt vor! Sie selber ertappt sich gelegentlich bei eigener Vergesslichkeit. Die ganze Wahrheit des Altwerdens wird sichtbar. Es gibt glückliche Momente, das ja. Sie bestehen in der Stille, dem Gesang einer Amsel, dem Betrachten der Blumen im Sommer, und für Helga Schubert im Schreiben am Laptop. Doch alles wird überlagert von der schwer zu bewältigende Pflege für ihren schwer kranken und viele Jahre älteren Mann.

Wie viel Geduld das erfordert!

Eine zärtliche Geste hier, ein Hauch von Verzweiflung da: die Autorin berichtet hautnah, wie es sich lebt im Angesicht des langsamen Untergangs von Geist und Körper!

Die Liebe und die Nähe, gemeinsamer Humor und das Lachen: das alles gilt es zu bewahren und doch den nahenden Abschied nicht zu verleugnen. Wie schwer das fällt, bis er zur unabänderlichen Wahrheit wird!

Es ist ein schönes Buch, ein melancholisches auch, doch alles durchdrungen von einer langen Liebe! 

Helga Schubert
Der heutige Tag
dtv Verlagsgesellschaft, März 202
272 Seiten, gebunden
ISBN-10: ‏342328319X
ISBN-13 :978-3423283199
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Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

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„Ich liebe dich“ und „Ich verlasse dich“. Mit diesen drei Wörtern kann eine langjährige Beziehung umschrieben werden.

Im neuen Roman von Julia Schoch will eine Frau ihren Mann verlassen.
In Gedanken lässt sie, die selber Schriftstellerin ist, ihre gesamte Liebesgeschichte noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen.
Zuerst ist sie jung, verliebt und neugierig auf das Leben.
Zwischen den Zeilen, die teilweise einem Monolog gleichen, spürt man allerdings von Beginn an, dass hier eine junge Frau einen Freund liebt, dessen sie sich nie so ganz sicher gewesen zu sein scheint.
Sie studierten in der Nachwendezeit und trafen sich immer wieder.
Man verbringt Tage und Nächte zusammen, geht gemeinsam ins Kino, und sie ist ganz hingerissen von ihm. Ist er das auch von ihr?
Auf jeden Fall ist er in ihrer Darstellung einer, den sie als überlegen wahrnimmt. Sein Wort gilt, und sie fühlt sich wohl in seinem Schatten.

Was mit Überschwang beginnt, zeigt schon bald kleine Risse. Ein versäumter Termin, lange Tage ohne Kontakt: man spürt es schon. Hier wird nicht alles ganz reibungslos verlaufen.
Die euphorische Feststellung, „das Liebespaar des Jahrhunderts“ zu sein, wird nicht so bleiben!

Julia Schoch fühlt sich ganz in das Leben des Paares ein. Sie beschreibt, wie die anfängliche Hochstimmung nach und nach einem Alltag weicht, der dem so vieler anderer Paare gleicht.

Kinder werden geboren; Beruf, Alltag und Familienleben müssen in Gleichklang gebracht werden. Abnutzung und Ermüdung betreffen neben den alltäglichen Verrichtungen auch das sexuelle Leben der beiden. Man läuft schweigend aneinander vorbei, und die Zeit verrinnt. Sind die Träume des glücklichen Liebeslebens zerronnen?

Die Erzählerin vermerkt minutiös, wie sie sich mit dem Gedanken plagt, den Mann zu verlassen.

Gemessen an dem, was sie erwartet hat, wirkt der fortschreitende Prozess des Alltags recht trostlos. Julia Schoch kann Stimmungen einfangen und Situationen, Handreichungen und Haushaltsverrichtungen so beschreiben, dass der Leser*In ganz in dieses Milieu eintaucht.
Sie beweist einmal mehr, wie genau sie beobachten kann. Ihre Darstellung einer ermüdenden Beziehung ist echt und überzeugend und fängt das Leben ein, wie es ist.
Glücksgefühle allerdings sind rar in der Beziehung. Auch das ein Stück Realität?
Der Leser*In wird es prüfen und mit dem eigenen Leben vergleichen.

Das überraschende Ende des Romans lässt erkennen, dass „Leben und Liebe“ so ist, wie man es hier beschrieben findet.

Julia Schoch
Das Liebespaar des Jahrhunderts
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2023
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423283335
ISBN-13: 978-3423283335
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Eva Wlodarek: Souverän ich selbst – So gewinnen Frauen Sicherheit und Stärke

Eva Wlodarek: Souverän ich selbst – So gewinnen Frauen Sicherheit und Stärke

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Sich immer gelassen zu geben und selbstbewusst zu fühlen, ist eine schöne Vorstellung. Aber dann kommt wieder eine bestimmte Situation und das mühsam errichtete Kartenhaus stürzt zusammen. Selbstsicheres Auftreten sieht anders aus. Doch was passiert da eigentlich? Warum gelingt es nicht, mutig zu handeln, sich durchzusetzen oder sich mal was zu trauen?

Die Psychologin Dr. Eva Wlodarek schaut hinter die Kulissen und erklärt zunächst, was Frauen daran hindert, souverän aufzutreten, und dazu werden die Vergangenheit und bisher gemachte Erfahrungen beleuchtet. Wir alle haben unseren Erfahrungsschatz, der uns auf eine bestimmte Weise beeinflusst und diese Erkenntnis ist nicht unbedeutend.

Infolge zeigt die Autorin bewährte Strategien auf, die zu mehr Souveränität führen. Das Buch ist praktisch ein Seminar für ihre Leserinnen und es ist lebendig geschrieben und wirkt wie ein Vortrag mit direkter Ansprache. Fragen und Anmerkungen, die gestellt werden könnten, bindet sie mit ein, außerdem Checklisten und Tests, die eine bessere Selbsteinschätzung ermöglichen.

So geht es durch die Kapitel, die sich mit verschiedenen Aspekten des täglichen Lebens beschäftigen. Überlegungen werden vertieft und Anleitungen aufgezeigt, die eine Veränderung im Denken und Verhalten in Gang setzen können.
Die Autorin beschreibt viele persönliche Beispiele und zeigt zudem Erkenntnisse anderer Fachleute auf. Manchmal sind es auch einzelne Sätze, die, wie man gleich merkt, anders formuliert, viel besser wirken. Außerdem werden bestimmte Verhaltensweisen hinterfragt und bessere Optionen genannt, die überzeugen.

Ich kenne den YouTube-Kanal von Eva Wlodarek, fand die Buchform aber noch besser, da es eine intensivere Beschäftigung mit dem Thema ermöglicht. Es ist ja nicht mit dem Hören eines Vortrags oder dem Lesen eines Buches getan, auch wenn das inspirierend sein kann. Vielmehr ist es ein Prozess, ein ständiges Lernen und mit sich selbst auseinandersetzen, das einen Fortschritt möglich macht. Also gilt es, das Buch immer mal wieder zur Hand zu nehmen und sich damit zu beschäftigen.

Rezension von Heike Rau

Eva Wlodarek
Souverän ich selbst – So gewinnen Frauen Sicherheit und Stärke
244 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2023
ISBN-10: 3423263458
ISBN-13: 978-3423263450
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