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Schlagwort: Depression

Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

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Der holländische Autor Daan Heerma van Voss hat ein wissenswertes Buch über Depressionen und Angstzustände geschrieben.

Als sich die Freundin von ihm trennt, weil sie seine Ängste nicht mehr ertragen kann, fasst er den Entschluss, den eigenen Ängsten auf die Spur zu kommen.
Konfrontiert mit immer neuen Angstphasen, besucht er zunächst einen Freund in Frankreich, wo er sich in intensivem Studium mit den Ursprüngen der Ängste befasst. Er staunt selber über Statistiken, aus denen hervorgeht, wie verbreitet Ängststörungen sind.
Es gibt chemische Formeln, mit denen man im Gehirn bei der Untersuchung am Menschen abweichende Normen für mentale Zustände diagnostizieren konnte.
Seine Studien führen den Autor zu seinen Ahnen in Indonesien, von denen ebenso bekannt ist, dass sie unter Ängsten litten.
Sehr präzise macht er den Weg aus, der bis zur Erkenntnis des heutigen Begriffs “Angststörung“ geführt hat. Da ist zunächst von Überarbeitung die Rede, neurasthenischer Veranlagung, Nervosität, Unruhe und vielen Begriffen mehr.

Schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts finden sich Andeutungen über Melancholie. Aber es geht noch weiter zurück bis hin zur griechischen Mythologie.
Ängstlich vermieden die Betroffenen, ihren Zustand als krank zu bezeichnen. Man beließ es gerne bei äußeren Einflüssen: Überarbeitung und wirtschaftlicher Not etc. Allerdings hat man bei Forschungen schon in Darwins Tagebüchern Aufzeichnungen gefunden, die auf gelegentliche Stimmungsschwankungen schließen lassen.

In der Literatur gibt es vielfache Hinweise auf psychische Not wie z.B. bei Proust, Hölderlin, ja selbst Goethe schrieb über die Melancholie; man findet sie bei Heine, Stefan Zweig, Thomas Mann und vielen anderen mehr.

Der Autor bemüht zahlreiche Studien, führt Gespräche mit Psychiatern und Psychologen, um zu dem heutigen Begriff der „Angststörung“ vorzudringen. Er bezeichnet seinen Weg als einen, der durch die Familiengeschichte, Wissenschaft, Literatur, Geschichte und Philosophie führte, um sich selber besser zu verstehen.
Es geht ihm eindeutig darum, mit der Ursachenforschung die Begründung für seine eigenen Malaisen zu finden. Dabei geht er neben eingeschobenen eigenen Stadien der Krankheit sehr wissenschaftlich vor. Er beeindruckt durch seine klare Sprache, seinen ungetrübten Blick und die rückhaltlose Offenheit. Dazu gehört ein immenses Wissen an verschiedenen Forschungsrichtungen, mit denen man den dehnbaren Begriff der „Angststörung“ auf die Spur zu kommen trachtete. Spannend wird sein Bericht dadurch, dass häufig Wissenschaftler oder auch Entdecker für weitere Forschung am eigenen Leib mit den Merkmalen von ungeklärten Symptomen geschlagen waren als da sind: Phobien, Melancholie, Unruhe, Schwindel, Platzangst etc.

Van Voss zieht als Fazit aus seinen Studien und der Ahnenforschung die Bilanz, dass genetische Faktoren, soziale Einflüsse und defekte chemische Strukturen im Gehirn erst zu den krankhaften Erscheinungen an Leib und Seele führen können.
Durch die Einschübe eigener Angstphasen und Gesprächen mit anderen Betroffenen wird die Verbindung zwischen realem Leben und Forschungserkenntnissen einleuchtend und lebendig.

Van Voss beginnt und lässt seinen Bericht enden mit seiner Liebe zu einer Lebensgefährtin, die seine Ängste weder verstand noch tolerierte.
Tabus belegen auch heute noch diese Krankheiten, die doch seit Jahrhunderten schon die Menschheit bedrängen.

Van Voss leistet mit seinem Buch einen hervorragenden Beitrag zu den so weit verbreiteten Formen der Angst und Depression mit der damit einhergehenden Einsamkeit. Sie zeitigen häufig tragische Folgen für die Betroffenen.
Ein gründliches und verstehbares Wissen macht den Bericht auch für den Laien sehr lesenswert.

Daan Heerma van Voss, Historiker, Autor und Journalist gilt als eine wichtige Stimme seiner Generation in Holland.

Im Anhang gibt es ein ausführliches Quellenverzeichnis.

Daan Heerma Van Voss
Die Sache mit der Angst
Diogenes, März 2023
384 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072309
ISBN-13: 978-3257072303
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Martine Bijl: Königin außer Dienst

Martine Bijl: Königin außer Dienst

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Martine Bijl war in den Niederlanden Schauspielerin am Theater, bis sie einen Schlaganfall erlitt. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Es reißt sie aus dem gewohnten Leben. Sie lernt mit der Zeit, sich wieder zu orientieren und ihren Körper halbwegs zu kontrollieren. Gerne möchte sie sich in der Rehabilitationsklinik erholen und zu ihrer alten Stärke zurückfinden. Doch es tun sich recht schnell Grenzen auf.

Ein Schlaganfall ist eine sehr ernste Erkrankung. Jeder hat schon davon gehört. Wie ein Erkrankter sich fühlt und was in seinen Gedanken vorgeht, weiß man jedoch nicht. Martine Bijl hat aus ihrer Krankheit heraus dieses Buch geschrieben. Sie schildert ihren Krankheitsverlauf, ihre Erfahrungen und gibt hier sehr Persönliches preis. Sie beschreibt, was sie verloren hat, was sie zurückgewinnen konnte und was sie noch zu erreichen hofft. Sie schreibt aber auch ehrlich von den Ängsten, Albträumen und Depressionen, gegen die sie zu kämpfen hat. Sie versteht selbst kaum, was in ihrem Kopf vorgeht, woher die Wahnvorstellungen kommen und warum ihr Körper ihr manchmal nicht mehr gehorcht. Und doch schafft sie es, das auf bildhafte Weise nachvollziehbar zu veranschaulichen.

Der Schlaganfall bringt eine Veränderung ihrer Persönlichkeit mit sich. Das spürt sie. Martine Bijl ist in Seenot geraten und der Sturm will kein Ende nehmen. Aber ihr Mann Berend fungiert als Anker, wie hoch die Wellen auch schlagen. Sie weiß, dass sie es ihm nicht einfach macht und kann doch nicht anders.

Das Buch ist sehr berührend. Es ist traurig und dennoch lebensbejahend. Nicht selten blitzt eine gewisse Selbstironie auf. Es ergeben sich immer wieder Szenen, die ihr Hoffnung machen, dass es vielleicht doch ein Stück weit in die richtige Richtung geht.

Auf andere Patienten fällt ihr Blick ebenfalls, auch wenn es kaum möglich ist, so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl aufkommen zu lassen. Man hat zu viel mit sich selbst zu kämpfen.

Das Buch endet plötzlich. Martine Bjil starb 2019 an den Folgen des Schlaganfalls.

Rezension von Heike Rau

Martine Bijl
Königin außer Dienst
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
144 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag, Janur 2021
ISBN-10: 3552072306
ISBN-13: 978-3552072305
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Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

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In dem hier vorliegenden biographischen Roman geht es um das letzte Lebensjahr von Virginia Woolf.

Wir haben das Jahr 1941. Der Zweite Weltkrieg steckt in einer beängstigenden Phase, und Fantasien von einer Invasion mit schrecklichen Folgen bedrängen V. Woolf.

Michael Kumpfmüller hat die besondere Gabe, sich ganz in seine Hauptfigur hineinzuversetzen. Aus ihren Gefühlen und Empfindungen heraus berichtet er über innere seelische Befindlichkeiten wie keiner nach ihm.

Nach seinen Darstellungen erscheint uns Virginia Woolf als eine hypersensible, dramatische und krankhaft ichgestörte Person. Aus ihrer Lebensdaten geht hervor, dass sie an manisch- depressiven Zuständen litt.

Sie denkt nur über ihre eigene Unzulänglichkeit nach und beklagt ihre mangelnde Fähigkeit, einen achtbaren Roman zu schreiben. Insgeheim bewegt sie die ganze Zeit die Möglichkeit zu einem erfolgreichen Suizid.

Männer scheinen ihr ein Gräuel gewesen zu sein, einschließlich ihr eigener Mann Leonard.

Sie wird getrieben durch die Gedanken, in denen sie sich fast masochistisch klein macht, und die sie umkreisen und ihr den Schlaf rauben. Leonard ist dauernd um sie und sorgt für ihr leibliches Wohl. Sein eigenes Wohl geht in der Fürsorge für seine Frau ganz unter.

Ihre selbstverachtende Mentalität bietet ihr nirgends inneren Frieden. Schuldgefühle, ihrem Mann keine gute Ehefrau zu sein, treiben sie um. Visionen und Einbildungen täuschen eine Realität vor, die es so nicht gibt. Zuweilen wechseln Wachträume mit Ängsten aller Art. Und immer wieder treibt sie ihr Tun zu dazu, sich ihren Suizid im Fluss vorzustellen, was ihr zuletzt auch gelingt.
Fast kann man ihren Lebensüberdruss verstehen. Allerdings sind die Mitgefühle ambivalent, da sie so eine manisch vom eigenen Ich besessene Person gewesen zu sein scheint, die alle anderen Menschen nur im Bezug zu sich selbst betrachtet.

Michael Kumpfmüller schreibt assoziativ ganz aus der Innenschau seiner Figur. Diese wabernden Gefühle, Gedanken und Fantasien gewinnen an Intensität und Farbigkeit. Stimmungen werden nachvollziehbar und stecken fast an in ihrer düsteren Besessenheit.

Der Autor begibt sich so sehr in den inneren Seelenzustand seiner Protagonistin, dass man sich quälend selbst betroffen fühlt.

Es ist eine bedrückende Szenerie, die sich dem Leser da auftut; und doch ist Virginia Woolf in ihrer Erscheinung, ihrer intellektuellen Brillanz und in ihrem exotischen Auftreten ganz präsent. Sie hatte Wirkung auf die Frauenbewegung und Emanzipation und war eine allseits anerkannte Persönlichkeit. Man kann sich sehr gut vorstellen, wie sie am Leben litt. Dieses Bild von ihr bringt der Autor mit seinem tiefen Einfühlungsvermögen hervorragend zu Geltung. Michael Kumpfmüller ist ein anerkannter Schriftsteller, dem schon zahlreiche hervorragende Lebensbilder gelungen sind. Einer seiner Bestseller gilt dem letzten Jahr von Franz Kafka mit dem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“.

Michael Kumpfmüller
Ach, Virginia
240 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2020
ISBN-10: 3462049216
ISBN-13: 978-3462049213
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Andrea Winkler: Die Frau auf meiner Schulter

Andrea Winkler: Die Frau auf meiner Schulter

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Martha hat sich eine Auszeit genommen. Es ist zu viel geschehen. Sie muss sich erholen von verschiedenen Schicksalsschlägen, nachdenken und sich sortieren. Ein Haus in einem Dorf, das sie mietet, wird ihr Rückzugsort. Friedrich, der einstige Hausbesitzer, liegt auf dem nahen Friedhof, der neben einer Ruine, die als Sommertheater genutzt wird, begraben. Nicht nur seine Möbel, auch Persönliches ist noch im Haus. Martha kann hier bleiben solange sie will oder solange das Geld reicht. So beginnt das neue Jahr und Martha lässt sich treiben. Wirklich einsam ist sie nicht. Es gibt einen Bahnhof mit Bedarfshalt, von dem aus sie in die Stadt fahren kann. Sie ist den Menschen gegenüber offen, den Leuten, die sie im Dorf und unterwegs trifft. Und so entwickeln sich ganz langsam Freundschaften, während die seltsamen nächtlichen Träume an Bedeutung verlieren.

Das Buch ist in einer sehr schönen Sprache geschrieben. Die Autorin beschreibt die eigenwillige Suche Marthas nach einem erfüllenden Leben sehr einfühlsam und nachdenklich stimmend. Träume geben den Ton an und wirken auch am Tag noch nach. Das heißt nicht, dass Martha realitätsfremd ist. Aber dem normalen Leben mit seinen Verpflichtungen kann sie sich im Moment nicht stellen. Sie wartet ab und nimmt an, was ihr begegnet. Auf unkomplizierte Art findet sie so Freunde und tauscht sich mit ihnen aus. Seltsame Dialoge entstehen, die einen Sinn haben, der nicht leicht zu erkennen ist, da die Worte möglichst unbefangen klingen sollten. Es ist keine Option, jemanden zu nahe zu treten.

Tröstlich wirkt das Buch. Denn jeder kann „aus der Zeit fallen“ und muss dennoch das bisherige Leben fortsetzen oder ein neues beginnen. Eine Auszeit ist ein guter Weg, sich vom Alltag zu befreien und sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie es weitergehen soll. Die Autorin ist undeutlich in ihren Worten, sodass jeder sich selbst herausnehmen kann, was ihm hilfreich erscheint.

Rezension von Heike Rau

Andrea Winkler
Die Frau auf meiner Schulter
192 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag
ISBN-10: 3552059040
ISBN-13: 978-3552059047
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Miriam Toews: Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt

Miriam Toews: Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt

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Zweifel und Tod: eine Bilanz.

Miriams Vater gab zeitlebens Rätsel auf: er war ein mitreißender Lehrer, witzig, erfindungsreich und beliebt. Zu Hause aber war er ein Schweiger. Fragte man ihn nach seinem Befinden, so ging es ihm nach seinen Aussagen gut. Doch tief im Inneren wütete eine Krankheit in ihm, die weit verbreitet ist und zu oft verleugnet wird: er leidet an einer Depression. Mit 17 wurde eine manisch depressive Krankheit bei ihm diagnostiziert. Man riet ihm von einer Familiengründung ab. Doch er heiratete Elvira, die er schon aus der Schulzeit kennt, und bekommt zwei Töchter mit ihr. Die Tochter Miriam ist es, die sich auf Spurensuche begibt, als sie nach dem Suizid des Vaters, den er kurz nach der Pensionierung beging, seine Vergangenheit durchforscht.

Sie hat ein liebevolles und ehrliches Bild ihres Vaters ersonnen und beschrieben. Dazu gehören Rückblicke auf die Familiengeschichte, das Leben in Kanada in einem Ort namens „Steinbach“, die Berufszeit des Vaters als Lehrer und das Familienleben im Allgemeinen. Die Familie gehörte über Generationen zur religiösen Gemeinschaft der Mennoniten. Das ist eine streng gläubige und moralisch rigide Freikirche.

Melwin Toews war ein Grübler und Zweifler. Er hat sich über die Umwelt gelegentlich lustig gemacht; über Krankenschwestern, Ärzte  und ihre Medikationen. Niemand konnte ihm helfen, zumal er zu Hause schwieg. Woher sollte man wissen, wie es in seinem Inneren zuging? Sein ganzes Leben erscheint als eine Flucht vor der Krankheit. In der Arbeit, die er weit über das übliche Maß hinaus betreibt, findet er Zufriedenheit. Fällt sie weg, so fällt er in sich zusammen, und zurück bleibt die innere Leere, das Gefühl des Versagens und der Unfähigkeit. Weit in die Kindheit reichen die Wurzeln für diese Störung zurück.

Zart angedeutet darf man sich ein Bild machen von der Lieblosigkeit, mit der Melvin in frühester Kindheit konfrontiert wurde. Hier ruht bereits der schicksalhafte Konflikt zwischen Schuld und Versagen. Frustrationen in frühester Kindheit verursachen Entwicklungen, die gravierende Folgen zeitigen können.

In einem langen Rückblick geht die Autorin der Familiengeschichte nach. Sie lässt den Vater selber zu Wort kommen und skizziert seine Gedanken über die Welt, die Brüder, die Schwestern und den ganzen Familienclan. Herausgekommen ist eine wirklich witzige und amüsante Familiengeschichte, die mit Leichtigkeit berichtet, wo Tragik womöglich belasten könnte. Ernst wird mit Ironie und Komik vermischt, so dass mit Distanz die Traurigkeit vertrieben wird. Zahlreiche Szenen aus dem gelebten Familienleben bieten Einblicke in das Dasein auf dem Lande, in Familienkonstellationen mit ihren Erfolgen, Niederlagen und religiösen Bindungen.

Die Krankheit „manische Depression“ bekommt ein Gesicht, das anrührt und erschüttert.

Der Text ist locker aufbereitet und bietet Unterhaltung mit tiefgründiger Lebenserfahrung auf hohem Niveau.

Miriam Toews

Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt
258 Seiten, gebunden
Berlin Verlag, April 2013
ISBN-10: 3827011310
ISBN-13: 978-3827011312
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Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter

Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter

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Ein Leben voller Emotionen und gravierender Einbrüche.

Die wunderschöne Mutter der Autorin Delphine de Vigan umgibt eine geheimnisvolle Aura aus Schönheit, Sensibilität und Geheimnis.

Delphine möchte Näheres über ihre Mutter in Erfahrung bringen.
Wer und wie war diese Person, die sie einst tot aufgefunden hat?

In ihrem Buch befasst sie sich intensiv mit der Herkunftsfamilie, in der es zahlreiche Kinder und Anverwandte gab. Ihre Mutter Lucile gehörte zu den älteren Schwestern einer großen Geschwisterschar. Man erlebt ein lautes, munteres und selten intensives Familienleben. Jedes Jahr kommt ein neues Kind dazu, und Lucile kann sich nicht vorstellen, dass die Fruchtbarkeit der Mutter womöglich einmal enden könnte. Gesellige Runden und ein lebhaftes Miteinander bestimmen den Familienalltag. Der tragische Tod eines kleinen Bruders, der in einem Brunnenschacht ertrunken ist, wirft einen ersten Schatten von Tod und Verzweiflung auf das Leben Luciles.

Es ist das Geheimnis um ihre Mutter, das die Autorin antreibt, sich intensiver mit dem Leben dieser Frau zu befassen.

Sie wechselt erst im zweiten Teil zur Icherzählung, um ihre eigene Eingebundenheit in den Familienclan zu dokumentieren.

Herausgekommen ist mit ihrer Geschichte das Psychogramm einer Familie, in der es alles gab: Schönheit, Vitalität, Lebendigkeit, inzestuöse Bedrängungen, Zusammenhalt, Unglück und vieles andere mehr, das zum Bild dieser Großfamilie gehörte.

Die Autorin verstand erst nach und nach, dass das runde und gute Bild nicht dem wahren Kern der Familie entsprach. Die freie und offene Erziehung imponiert der Erzählerin. Erst spät merkt die Autorin, welche Tücken in dieser Erziehungsform lauerten.

Delphine de Vigan zeigt sich als einfühlsame Schriftstellerin. Sie bringt mit feinem Gespür für das Hintergründige die Licht- und Schattenseiten ihrer Herkunftsfamilie zur Entfaltung.

Die Erinnerungen an ihre Mutter Lucile, die sehr früh schon Mutter geworden war, sind durchzogen von Angst um deren seelische Gesundheit. Lucile hatte einen fragilen Charakter, zahlreiche Liebhaber und immer wieder Schübe von manisch-depressiven Phasen. Sie musste schließlich in die Psychiatrie eingewiesen werden und war von nervöser Zerrissenheit, die sich ihrer Umwelt massiv mitteilte. Ihre Töchter wuchsen zeitweise beim Vater und immer wieder auch bei der Mutter auf.

Delphine de Vigan kann in ausdrucksstarken Bildern über die Labilität ihrer Mutter reflektieren. In ihnen zeigt sie ihre eigene unruhige und beängstigende Kindheit.

Durch alle Familiengeschichten hindurch zieht sich das Interesse Delphines am Schicksal ihrer Mutter. Sie hat dieser schönen, interessanten und von Emotionen unterschiedlichster Qualität gebeutelten Frau ein humanes und mitreißendes Denkmal gesetzt. Bei allen schrecklichen Erfahrungen, die sie mit ihrer Mutter durchstehen mussten, haben sie und ihre Schwester in unergründlicher Weise einen tiefen Zugang zu ihr gesucht und kaum wirklich gefunden. Geblieben ist eine innere Zuneigung, die sich erst bei ihrem Tod wirklich zeigt.

Die gesamte Familiengeschichte ist in ungewöhnlicherweise lebendig, bunt und erlebnisreich. Zahlreiche psychische Störungen findet man bei einzelnen Familienmitgliedern, so dass sie alle von immer währenden neuen Schrecknissen bedroht zu sein scheinen.

Das Buch der Erinnerung über eine psychisch labile Frau und ihren Lebenskampf ist ergreifend und anrührend. Man legt es nachdenklich und berührt über die wechselnden Gefühlsausbrüche aller Beteiligten aus der Hand.

Delphine de Vigan lebt mit ihren beiden Kindern in Paris.

Delphine de Vigan
Das Lächeln meiner Mutter
384 Seiten, gebunden
Droemer, März 2013
ISBN-10: 3426199467
ISBN-13: 978-3426199466
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