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Schlagwort: Armut

Dirk Schümer: Die schwarze Lilie

Dirk Schümer: Die schwarze Lilie

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Wittekind Tentronk ist vor zwei Jahren nach Florenz gekommen. Die Pest wütet in einem unvorstellbarem Ausmaß. Und doch hat er eine heimliche Liebe gefunden. Cioccia, die sich für Waisenkinder einsetzt, verpasst ihm gegen seinen Willen einen Knecht und eine Magd. Er kann es sich leisten, schließlich arbeitet er für den reichen Bankier Pacino Peruzzi, erledigt Botengänge oder ist in einer anderen Mission unterwegs.

Wittekind sieht es als leichtes Unterfangen an, Ruffo zurückzuholen, so wie es Pacino ihm aufgetragen hat. Er kann sich denken, wo er ihn auflesen kann und hofft am Abend zurück zu sein.
Die Reise gestaltet sich kurzweilig, denn Knecht Lapo, der alle Schutzheiligen zu kennen scheint, ist als Reisebegleiter sehr unterhaltsam.

Vor Ort angekommen, findet sich jedoch keine Spur des Vermissten. Lapo macht Wittekind auf ein ein Wäldchen aufmerksam, das undurchdringlich scheint. Und doch entdecken sie hier einen versteckten Pfad. Er führt zu einer verlassenen Kapelle. Und hier finden sie die Leiche von Ruffo am Kreuz. Pacino Peruzzis Sohn ist tot. Die Art und Weise wie er zu Tode kam, kann als Botschaft aufgefasst werden. Oder ist es, wie Pacino meint, eine Kriegserklärung? Die folgenden Ereignisse lassen bei Wittekind einen schlimmen Verdacht aufkommen.

„Die schwarze Lilie“ ist die Fortsetzung von „Die schwarze Rose“. Allerdings habe ich dieses Buch nicht gelesen. Da es sich hier um einen abgeschlossenen Roman handelt, ist das auch nicht unbedingt nötig.

Man taucht tief ein in das Buch, der Autor schreibt detailreich und ausschweifend. Webt Geschichten in die Geschichte hinein, und das alles vor einem perfekt in Szene gesetzten historischen Kulisse. Erkenntnisse und Erfindungen werden eingestreut. Auch hat die ein oder andere bekannten Persönlichkeit dieser Zeit einen Auftritt.

Der historische Roman wirkt atmosphärisch dicht. Mich hat besonders fasziniert, dass die Handlung aus dem Alltagsleben heraus entwickelt wurde. Das Hauptaugenmerk liegt nicht unbedingt auf den Bankgeschäften der Casa Peruzzi und doch sind Einfluss, Macht und Geld die treibende Kräfte im Hintergrund.

Das Lesen verlangt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und teilweise erschien mir das Buch etwas langatmig. Es ist aber durchsetzt von überaus spannenden Szenen und das Ende ist eine echte Überraschung.

Rezension von Heike Rau

Dirk Schümer
Die schwarze Lilie
608 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag, Juli 2023
ISBN-10: 3552073566
ISBN-13: 978-3552073562
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Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

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Eine Frau von Mitte dreißig plagt sich redlich, ihre Familie durchzubringen. Sie wohnt in einem Dorf am Rande Rumäniens. Alle leben in ärmlichen Verhältnissen. Filip, ihr Mann, ist faul und trägt kaum zum Unterhalt der Familie bei. Daniela hat ihren Beruf als Angestellte hinter sich gelassen, da es keine Arbeit für sie gibt.
Angelica, die Tochter, studiert und hat sich von der Familie entfernt. Die Großeltern spielen eine wichtige Rolle, da sie Manuel, dem kleinen Bruder, emotionalen Halt bieten.

Eines Tages reist Daniela nach Italien. Sie hat gehört, man suche dort Hilfe für die Pflege alter Menschen und als Kindermädchen.
Man muss sich vorstellen, wie groß die Not sein muss, dass eine Mutter Familie, Kinder und die alten Eltern verlässt, um im Ausland Geld zu verdienen!

Marco Balzano lässt die einzelnen Protagonisten selber sprechen. In jedem Kapitel spricht und erzählt einer/ eine in der Ichform. Es entsteht mit dem Perspektivwechsel jeweils aus unterschiedlicher Sicht das Bild einer zerrissenen Familie. Nur Filip kommt nie zu Wort. Er ist innerlich und äußerlich abwesend. Er trinkt, baut ein wenig an dem Haus herum, das sie bewohnen, und geht seiner Wege. Eines Tages ist er ganz verschwunden.

Daniela erlebt eine Phase der schrecklichen Schufterei fern von zu Hause mit häufig unzufriedenen Angehörigen derer, die sie pflegt. Es ist eine Kräfte zehrende Arbeit.

Balzano bietet schöne Landschaftsbilder, die der kleine Manuel für sich entdeckt. Er liebt das Land, die Großeltern und bleibt ein Schulversager. Ein großes Unglück bricht eines Tages über die Familie herein. Die Erzählung lässt die Folgen sichtbar werden, die dieses Unglück für alle mit sich bringt.

Balzano hat sich der Ärmsten angenommen und zeigt uns, wie schrecklich das Los der Frauen ist, die aus den armen Ländern Osteuropas zur Pflege ins Ausland gehen. Familienbindungen gehen zu Bruch, Kinder werden vernachlässigt, und das Leben ist wahrlich entbehrungsreich, da es nur ums Geld geht, das die armen Frauen ihren Familien nach Hause schicken. Das schwere Schicksal, das Daniela aufgebürdet ist, nagt an ihrem Selbstwertgefühl und lässt sie zu einer früh gealterten Frau werden. Demütigungen eingeschlossen muss sie sich bitter in der Fremde zurechtfinden. Unermüdlich nimmt sie neue Stellen an und entwickelt gelegentlich sogar Zuneigung zu den ihr anvertrauten Menschen. Insgesamt aber fragt man sich: wo bleibt das eigene Ich unter diesen Bedingungen?

Am Ende sucht jeder/ jede einen Weg für das eigene Überleben. Blessuren bleiben niemandem erspart.
Marco Balzano wählt die literarische Form, die in treffenden Bildern das Elend dieser Frauen sichtbar macht.

Marco Balzano lebt mit seiner Familie in Mailand, wo er als Lehrer arbeitet.

Marco Balzano
Wenn ich wiederkomme
Diogenes, September 2021
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257071701
ISBN-13: 978-3257071702
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Annie Ernaux: Eine Frau

Annie Ernaux: Eine Frau

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Annie Ernaux hat bereits in drei früheren Büchern Episoden aus ihrem Leben erzählt.
Ihre emotionale, visuelle und intellektuelle Wahrnehmung über Tage und Jahre oder Beziehungen ihres Lebens sind tief berührend und erschütternd.

Hier geht es um ihre Mutter, nach deren Tod sie diese Erinnerungen verfasste.
Aus ärmsten Verhältnissen stammend ist das Leben ihrer Mutter vom Kampf um Arbeit und gesellschaftlichem Ansehen hart gezeichnet.
Ihre zweite Tochter nach dem Tod einer ersten soll es einmal besser haben. Wir wissen aus Ernaux’ anderen Büchern, dass dieses Mädchen Annie begabt war und den Aufstieg ins bürgerliche Milieu geschafft hat. In den assoziativ verfassten Erinnerungen der Autorin wird man unmittelbar konfrontiert mit gesellschaftlichen Gegensätzen zwischen arm und reich, zwischen gebildeten Bürgern und denen, die sich des Geldmangels wegen um derlei Bildung nie kümmern konnten. Mühsam ist der Weg zum aufstrebendem Bürger, wenn der Alltag alle Kräfte verzehrt, so dass kein Moment der Muße, des Genusses und der Kontemplation möglich ist. Annies Mutter ging es nach außen hin um gutes Ansehen, um den Erhalt von Würde und Anstand.
Annie entfernte sich aus dieser Welt; zuerst in einem Job als Betreuerin in einem Kinderferienlager, dann durch den Besuch weiterführender Schulen bis zur Universität.
Sie heiratet einen Mann aus gut bürgerlichem Milieu und bekommt zwei Kinder.

Der Kontakt zu den Eltern bleibt erhalten. Als der Vater stirbt, kümmert sich Annie um die Mutter. Diese hat einen starken Charakter und feste Prinzipien in ihrer Lebensführung.
Es geht in dem schmalen Büchlein nur um die Mutter. Annie Ernaux versteht wie durch ein Brennglas ihre objektive Berichterstattung von ihren eigenen Gefühlen zu trennen. Doch spürt man sehr wohl, dass sie nicht ohne innere Teilnahme ist.
Mutter und Tochter sind so verschieden! Annie Ernaux schwankt zwischen beobachtender Anhänglichkeit, Rebellion und Verständnis.
Tief anrührend beschreibt sie das Alter und die Demenz der Mutter. Erst spät erkennt Annie Ernaux, wie sehr sie sich getäuscht hat, und wie sehr sie mit ihrer Mutter im Innersten doch verbunden war!
Ihr Tod lässt sie gewahr werden, dass ihre Brücke zur Kindheit Vergangenheit ist.
Man liest das schmale Büchlein in wenigen Stunden und bleibt von so viel Offenheit der Autorin ein wenig sprachlos. Die Verbindung von sezierend- klarer Einsicht und innerer Beteiligung ist frappierend. Alle vier biographischen Essays, und so möchte ich ihre Bekenntnisse bezeichnen, sind eindrucksvoll und einmalig in Sprache, Duktus und Wiedergabe von Erlebten.
Sehr lesenswert!

Annie Ernaux
Eine Frau
88 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, Oktober 2019
ISBN-10: 351822512X
ISBN-13: 978-3518225127
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Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten

Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten

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Kinderschicksale im Schatten der Gesellschaft.

Was kann es Schlimmeres geben, als ein unerwünschtes Kind zu sein? Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit und Fürsorge für den Start ins Leben sind die Grundpfeiler für die Bewältigung dessen, was das Leben so bringt. Dimitri hat hier das Gegenteil beschrieben: er zeigt uns die Hölle, die ein Kind durchläuft, wenn es abgeschoben und ungeliebt und im wahrsten Sinne des Wortes „unerwünscht“ ist.

So etwas kann man in dieser hier vorliegenden Weise nur beschreiben, wenn man es selber erlebt hat.

Dimitri Verhulst schöpft aus den Erfahrungen des eigenen Lebens, wenn er uns davon erzählt, wie man sich als ein solches unerwünschtes Kind fühlt. Er lebte in einem Heim mit vielen Kindern, die alle das gleiche Schicksal teilten.

Seine Erzählweise wechselt vom Du zum Ihr, wenn er anschaulich zu machen versucht, wie karg, armselig und bedürftig an Leib und Seele dieses Leben war. Schmucklose Zimmer, karges Essen, pietistische Lebensregeln und ein Mangel an Spiel und Spaß: so sah das Leben für die Heiminsassen aus.

Am Wochenende konnte man Besuch bekommen. Doch es kamen nur wenige Mütter oder entfernte Verwandte, die sich schnell wieder davonmachten, denn wirkliches Interesse war nicht gegeben. Zahlreiche Kinder bekamen nie Besuch.

Die Tatsachen sind schnell aufgezählt: doch wie Verhulst seine Geschichte erzählt, macht ihm so schnell keiner nach. Die Leere und der graue Alltag werden mit sparsamen Worten angedeutet, so dass man sich in die Atmosphäre hineinfühlen kann. Man spürt den Frust und die Sucht der Kinder, sich auf irgendeine Weise selber zu spüren. Das geschieht in nächtlichen Sexorgien, die einzig und alleine dem Zweck dienen, sich auf welche Weise auch immer Zärtlichkeit zuzuführen. Verhulst vermittelt die ganze Trostlosigkeit des Daseins an einem Ort des Verlusts, der mit dem Freitod einer jungen Insassin zu Beginn der Erzählung seinen Anfang nahm.

Man liest seine Erzählung mit leichtem Grauen, weil man gewöhnlich Kinder aus diesen Sphären kaum kennenlernt. Sie sind zerschunden und verwahrlost im Äußeren und Inneren. Wie überlebt man das?

In der zweiten Geschichte erlebt man die Folgen!

Der Autor Dimitri Verhulst hat es ganz offensichtlich geschafft, mit seinem Schreiben die bösen Geister zu bannen und sie zu fixieren. Nur so können ihn die Zerrbilder der damaligen Wirklichkeit, die seine Kinder- und Jugendjahre überschattet haben, verlassen.

Ein trauriges, aufrüttelndes, in weiten Teilen aber auch mit der notwendigen kritischen Distanz erzähltes Stück aus den Tiefen eines frühen Kinderlebens!

Dimitri Verhulst ist in den Niederlanden ein hoch anerkannter Schriftsteller.

Dimitri Verhulst
Die Unterwünschten
144 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, Oktober 2016
ISBN-10: 3630874797
ISBN-13: 978-3630874791
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Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

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Lebensphilosophie und weise Erkenntnisse…

Elizabeth Strout hat die unnachahmliche Gabe, uns die Figuren ihrer Romane in ihren Gefühlen, Gedanken und Befindlichkeit nahezubringen.

So geschieht es auch in ihrem neuen Roman über die Unvollkommenheit der Liebe.

Die Schriftstellerin Lucy Barton lag vor Jahren nach einer eigentlich unkomplizierten Blinddarmoperation im Krankenhaus. Es ging ihr lange nicht gut. Da sah sie im Halbschlaf plötzlich ihre Mutter an ihrem Krankenbett sitzen. Sie hatten sich schon 9 Jahre lang nicht mehr gesehen.

Spontan entwickelt sich ein Dialog zwischen den beiden Frauen, der viele Aspekte ihres bisherigen Lebens umfasst.

Die feinen Nuancen, mit denen über die Kindheit von Lucy nachgedacht wird, sind ebenso reizvoll, wie die Erinnerungen der Mutter, mit denen sie zum Bild der Familiengeschichte beiträgt.

Arm waren sie alle, und die Eltern hatten jeweils wenig Verständnis für die Nöte ihrer Kinder. Lucy hatte noch zwei ältere Geschwister, so dass sie so manches Mal sich selber überlassen blieb, wenn diese schon in der Schule waren.

Sie lebten in einem kleinen Kaff in Illinois und waren so arm, dass Lucy ihren Bruder dabei begleitet hat, wenn er in Mülltonnen nach Essbarem suchte.

Kann man sich diese Armut vorstellen?

Doch Lucy geht einen sehr eigenen Weg: sie will Schriftstellerin werden!

Immer wieder sind ihr im Leben Menschen über den Weg gelaufen, die ihr Wärme und Zuneigung entgegenbrachten, sie wertschätzten und sie ermutigt haben: angefangen von einem Lehrer, der ihre Schulklasse abkanzelt, weil die Mitschüler Lucy gedemütigt haben, bis zu dem Psychoanalytiker Jeremy, ihrem Nachbarn in New York, der ihr unaufdringlich und unausgesprochen signalisiert, dass er ihre Einsamkeit versteht. Erfahrungen ähnlicher Art sind zahlreich.

Jetzt ist sie erwachsen und hat einen Mann und zwei Töchter, denen sie mit großer Liebe anhängt. Ihre Mutter bemerkt es mit Erstaunen.

Es ist die subtile Beobachtungsgabe von E. Strout, die ihre Lektüre zu einem Erlebnis macht. Sie weiß Lebenserfahrung mit dem ganz alltäglichen Einerlei in Einklang zu bringen. Nichts von dem, was sie erzählt, wirkt aufgesetzt oder gar aufdringlich. Ihre Sprache ist einfach strukturiert und verständlich. Sie zeugt jedoch von tiefem Verständnis und Mitgefühl in der selbstverständlichen Akzeptanz für die unerklärlichen Wege des Menschen. Es ist eine herzerwärmende Geschichte mit zahlreichen tiefschürfenden Lebenseinsichten, die wie ganz nebenbei in den Text einfließen. Es ist erstaunlich, mit welcher Kraft, Liebe, Selbsteinsicht und Versöhnlichkeit Elizabeth Strout ihre Protagonistin zu Wort kommen lässt.

Man möchte diese Geschichte jedem nachdenklichen Leser ans Herz legen, der sich für die Zusammenhänge menschlichen Seins interessiert.

Ich wollte jeden Satz in Gedanken festhalten, um so lange wie möglich bei diesem Roman verweilen zu können.

Elizabeth Strout ist eine herausragende Erzählerin, deren Romane mit zunehmender Lebenserfahrung an Substanz noch gewinnen. Sie lebt in Maine und in New York und ist Pulitzerpreisträgerin.

Elizabeth Strout
Die Unvollkommenheit der Liebe
208 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, August 2016
ISBN-10: 3630875092
ISBN-13: 978-3630875095
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Emily St. John Mandel: Das Licht der letzten Tage

Emily St. John Mandel: Das Licht der letzten Tage

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Apokalyptische Visionen.

In dieser Geschichte, teils Fiktion, teils Rückblende, ist zunächst schwer ein roter Faden auszumachen.

Er zeigt apokalyptische Formen, die fast ein wenig an den ebenfalls sehr apokalyptischen Roman „Die Strasse“ von Cormac McCarthy erinnert.

Hier geht es um einen Virus, der binnen kurzer Zeit alles menschliche Leben auf Erden vernichtet. Es gibt nur wenige Überlebende.

In der Rückblende erfährt man erst Näheres über die einzelnen Akteure, Schauspieler, Liebende oder Freunde verschiedener Profession.

Arthur Leander, ein inzwischen berühmter Schauspieler, ist einer der Hauptakteure. Er hat verschiedene Ehen hinter sich. Zuerst mit Miranda, einer sieben Jahre jüngeren Frau, die er schon nach drei Jahren über hat und sie ihn! Hinreißend ist die Beschreibung, wie sie erkennt, dass sie in dieses Hollywood jener Schauspieler von Rang und Namen nicht gehört.

Doch sie ist eine aparte Person mit einem eigenwilligen Charakter. Schon lange arbeitet sie an einem Comic mit dem Titel „Das Licht der letzten Tage“. Es handelt sich nach ihren Aussagen um eine Graphic Novel, aber sie bietet niemandem Einblick in ihr Werk. Nur wir können uns vorstellen, dass dieser Comic uns an den Anfang der Geschichte zurückkatapultieren will.

So weit so gut.

Im Grunde geht es hier um die ganzen menschlichen Eitelkeiten, Entwicklungen, Trauer, Verlust und die Liebe!

Die Erzählung ist fein gesponnen, klug durchdacht und sprüht nur so vor Ideen, die den Leser herausfordern, sich intensiv mit dem Sujet zu befassen. Denn häufige Orts- und Szenenwechsel müssen verfolgt und erkannt werden.

Dann aber bekommt man Einblicke in gesellschaftliche Tabus und Verlockungen, in das Wechselspiel zwischen Beziehungen vom Beginn bis zum Ende bieten und in die Verwicklungen, in denen sich Menschen in Verkennung von Realität und Traum verfangen können.

Umrahmt bleibt die ganze Geschichte vom apokalyptischen Untergang. Die Menschen sind alle irgendwo gestrandet, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen unter Bedingungen, wie sie die Frühzeit kannte: jagen, essen, überleben und das alles immer mit dem Bedürfnis, diese Hölle alter Zeiten in die noch in Erinnerung gebliebene Zivilisation wieder verlassen zu können. Doch geht denn das?

Ratlos und geschockt bleibt der Leser zurück. Der Roman zeigt, wie es uns allen gehen könnte, wenn eine Pandemie unser gegenwärtiges Leben auslöschen würde.

Emily St. John Mandel
Das Licht der letzten Tage
416 Seiten, broschiert
Piper Paperback, September 2015
ISBN-10: 3492060226
ISBN-13: 978-3492060226

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Édouard Louis: Das Ende von Eddy

Édouard Louis: Das Ende von Eddy

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Geboren im Elend und auferstanden…

Mit ungeheurer Sprachgewalt zieht uns dieser Roman von Édouard Louis in seinen Bann. Hier spricht einer aus Erfahrung vom Abgrund des Daseins.

Hoch im Norden Frankreichs befindet sich ein Dorf in der Picardie, in dem die Handlung angesiedelt ist. Die Männer arbeiten in der Fabrik, und die Frauen haben sich um die zahlreichen Kinder zu kümmern und müssen das Überleben der Familie sichern. Ein „Fehler“ in ihrer Entscheidung kann das ganze Budget über Bord werfen. Die Mutter erkannte nicht, … “das, was sie ihren Fehler nannte, ganz im Gegenteil durch ein Regelwerk vollkommen absehbarer Mechanismen bedingt war, geradezu ausweglos von vornherein festgelegt.“ (S.64)

Als kleiner, schmächtiger Junge wird Eddy schon von seinem Vater als Enttäuschung erlebt. Er ist kein „ganzer Kerl“ im Sinne der Gemeinschaft. Da muss man stark und durchsetzungsfähig sein. Von Jungen in seiner Schule wird er gehänselt und malträtiert. Seine feminine Seite fordert zu Quälereien heraus, die unmenschlich erscheinen. Sein Schwulsein macht ihm schwer zu schaffen, und der von ihm beschriebene Kampf gegen das Anderssein ist erschütternd. Grausamkeit ist Bestandteil in einer Gesellschaft, die beständig am Abgrund lebt. Hier herrschen raue Sitten in den Familien und in der Dorfgemeinschaft.

Kälte, Hunger, Alkohol und dürftigste Lebensbedingungen haben zu einer Verrohung der Umgangsformen beigetragen. Wut, Angst, Hass und Gewalttätigkeit prägen das Leben. Da ist der kleine, zarte Eddy Opfer nicht nur seiner Mitschüler, sondern gleich der ganzen Dorfgemeinschaft. Als Schwuchtel und Tussi wird er, der so gerne in Mädchenkleidern lebt und mit Puppen spielt, verhöhnt. Das ist ein schreckliches Leben. Archaische, patriarchale und gewalttätige Machtstrukturen machen das Leben und Überleben schwer.

Die Dürftigkeit der Behausungen und die Armut erinnern an die Romane von Émile Zola, der die Not der Fabrikarbeiter als Folge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in seinen Romanen heraufbeschworen hat.

Die Sprache ist rüde und ungepflegt. Eddy durchläuft alle Schikanen der Erniedrigung, bis er sich aus diesem Sumpf zu befreien lernt.

Dieser Roman ist von außerordentlicher Brisanz. Zeigt er doch das Elend der Menschen in den „Banlieue“, den Randgebieten um Frankreichs Großstädte herum und in den großen Industriezentren.

Die differenzierte Betrachtungsfähigkeit von Édouard Louis ist beachtlich und zieht einen absolut in Bann. Das Bild auf dem Klappentext zeigt einen empfindsamen und wachen jungen Mann. Er studiert inzwischen Soziologie in Paris. Sein altes „Ich“ hat er hinter sich gelassen. Sehr lesenswert!

Édouard Louis
Das Ende von Eddy
208 Seiten, gebunden
FISCHER, Februar 2015
ISBN-10: 3100022777
ISBN-13: 978-3100022776
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Sonia Sotomayor: Meine geliebte Welt

Sonia Sotomayor: Meine geliebte Welt

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Was für ein reiches, pralles Leben!

Sonia Sotomayor wurde als Tochter von Einwanderern aus Puerto Rico 1954 in New York geboren. Nach dem Jurastudium mit herausragenden Abschlüssen und einem erfolgreichen Berufsweg wurde sie 2009 in Amerika von Barack Obama in den Supreme Court, das höchste amerikanischen Gericht, berufen.

Ihr Aufstieg ist umso bemerkenswerter, da sie in einem Sozialbau- und Armenviertel im Umkreis zahlreicher anderer Einwanderer aus Puerto Rico in der Bronx/NY aufwuchs. Hier erlebte sie ihre sich streitenden Eltern und eine Vielzahl anderer Jugendlicher, deren Gedeihen und Verderben sie mit lebhafter Neugierde und Anteilnahme erkundete. Ihre Verwandten, vor allem die geliebte Großmutter Abuelita, waren wichtige Bezugspersonen, von denen sie voller Begeisterung und Respekt erzählt.

Dass sie als Achtjährige an Diabetes erkrankte, deren Behandlung mit den erforderlichen Spritzen sie schon bald selbst in die Hand nahm, bedeutete eine Erschwernis mehr für das junge Mädchen, das sich durch herausragende Intelligenz, Fleiß und eisernem Willen auszeichnete.

Ihre Erzählweise vermittelt den Eindruck einer äußerst aufgeweckten, neugierigen Person, die sich mit Verve und Temperament auf das vor sich liegende Leben freut. Jede Beobachtung und jede neue Erfahrung reizen zum Nachdenken und zur Ursachenforschung. Ob es sich dabei um die eigene Erfahrung mit Diabetes, Begebenheiten mit der Großmutter auf dem Markt oder dem Besuch eines total unbekannten Großvaters im Krankenhaus handelt: alles nimmt sie mit wachen Sinnen auf.

Die detailreichen Aufzeichnungen umreißen das Bild einer Frau, deren persönlicher Lebenskreis sich in weitem Bogen von der Geburt bis zu den zahlreichen Verwandten und später Freunden, Mitstudenten und Kollegen erstreckt. Da sie eine ausgezeichnete Schülerin und Studentin war, gelingt ihr der Sprung zu den höchsten Weihen des amerikanischen Universitätslebens: sie studiert Jura in Princeton und Yale und macht überall fabelhafte Abschlüsse. Ihr Berufsweg führt steil nach oben.

Latinos gehören im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zur so genannten Unterschicht. Hier hat es eine Frau geschafft, sich in die höchsten Kreise vor zu arbeiten ohne ihre Vergangenheit zu verleugnen oder gar zu vergessen.

Das beeindruckende Porträt dieser äußerst vitalen und lebendigen Frau lässt wohl beim Lesen niemanden unberührt. Eine bemerkenswerte Autobiographie!

Sonia Sotomayor
Meine geliebte Welt
349 Seiten, gebunden
C.H.Beck; Auflage, Februar 2014
ISBN-10: 3406659470
ISBN-13: 978-3406659478
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Zadie Smith: London NW

Zadie Smith: London NW

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Nord-West London mit seinem besonderen Flair.

Nach Zadie Smith’ wunderbarem Roman „Von der Schönheit“, der sich mit der Liebe, der akademischen Welt und den Wirrnissen des Lebens zweier Mischehen beschäftigt hat, haben wir es in ihrem neuen Roman mit den sozial Randständigen und den gesellschaftlichen Verlierern zu tun. NW steht für „North-West“ London, einem Arbeiterviertel, in denen es den Menschen weder materiell noch mental besonders gut geht. Es ist ein buntes Völkergemisch hier zusammen gekommen: irisch stämmige Männer und Frauen und Karibikeinwanderer.

Leah arbeitet trotz abgeschlossenem Philosophiestudiums in einem Büro als einzige Weiße mit zahlreichen farbigen  Frauen zusammen. Ihre große Liebe gilt Michel, ihrem Mann, der sich sehnlichst Kinder wünscht, die sie ihm heimlich verweigert: sie will eigentlich gar keine Kinder sondern immer nur das Liebesleben mit ihrem Michel. Er ist zur Hälfe Algerier und zur anderen Hälfte stammt er aus Guadeloupe und arbeitet als Friseur in einem nahe gelegenen Frisörgeschäft.

Zadie Smith spürt den Wünschen der Bewohner in diesem abgeschotteten Mikrokosmos nach. Man lebt gerne unter sich, und auf den Dinnerpartys bei der farbigen Natalie, Leahs engster und längster Kinderfreundin, die es als einzige zur erfolgreichen Anwältin gebracht hat, langweilen sich Leah und ihr Mann. Sie versuchen ihr eigenes Leben ohne große Störungen von außen zu leben.

Zadie Smith erzählt abgehackt in wechselndem Stil, je nach dem, wessen Geschichte sie gerade erzählt. Verlorene Sätze, die im Nichts enden, Gedichte, Worte, ungewöhnliche Einfälle – sie entwickelt ihren ganz eigenen Stil. So entstehen Fragmente, die einem erst nach und nach den Inhalt und das Wesen der Romanfiguren erschließen. Atmosphärisch ist die Erzählweise gut nachzuempfinden. Man bekommt einen nachhaltigen Eindruck von dem Milieu und den Zusammenhängen, in denen sich die Personen in ihrem je eigenen Wirkungskreis bewegen. Da gibt es Langeweile, Drogenkonsum, und immer  wieder Reflexionen über das wahre Leben. Letztere verstecken sich im Alltagsgeschehen sei es im Supermarkt, auf einem Kinderspielplatz oder im ganz alltäglichen Alltagsleben mit ihren Berufswegen und geheimen Kinderwünschen.

Der Roman ist nicht so leicht zu lesen wie das o.g. Buch über die Schönheit.

Es fehlt ein wenig der rote Faden, der die Geschichte überschaubar zusammenhält.

Eine Multikulti Gesellschaft bietet Atmosphäre, Kurzweil und Einblicke in unterschiedliche Lebensschicksale. So richtig fesselnd war der Roman jedoch für mich nicht.

Zadie Smith
London NW
432 Seiten, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, Januar 2014
ISBN-10: 3462045571
ISBN-13: 978-3462045574
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Jesmyn Ward: Vor dem Sturm

Jesmyn Ward: Vor dem Sturm

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Die Mutter lebt nicht mehr. Sie ist bei der Geburt von Junior, der heute 7 Jahre alt ist, gestorben. Versorgt wurde der Kleine von seinem Vater und später von den beiden Brüdern Skeetah und Randall und seiner Schwester Esch. Das Leben ist hart und von Sorgen geprägt. Und nun braut sich über dem Mississippi-Delta auch noch ein Hurrikan zusammen.

Der Vater hält die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bis ein Unfall ihn davon abhält und auch davon die baufällige Hütte zwischen alten Autoteilen, Wildwuchs und einer Schar Hühner, wetterfest zu machen.

Skeetah hat auch noch seine Pitbull-Hündin und ihre Welpen durchzubringen. Randall hat die Hoffnung auf eine Karriere als Basketballprofi noch nicht aufgegeben. Die 15-jährige Esch muss in dieser Zeit vor dem Sturm feststellen, dass sie schwanger ist.

Seit die Mutter gestorben ist, muss sich jeder zunächst selbst um seine Probleme kümmern und irgendwie dazu beitragen, dass die Familie zusammenhält und überlebt. Und tatsächlich stehen alle zusammen, als es wieder einmal darauf ankommt.

Es ist die Art und Weise wie diese Geschichte erzählt wird, die beeindruckt. Die Trostlosigkeit in der die Familie, wird überspielt mit den Wünschen und Hoffnungen der Charaktere, die nicht wirklich eine Chance haben.

Die Geschichte wird aus der Sicht Eschs erzählt, die wohl am wenigsten in der Lage ist, sich um sich selbst zu kümmern und die ihre Sehnsucht nach ein bisschen Liebe teuer bezahlen muss. Sie ist eine gute und emotional tiefgehend beschreibende Beobachterin.

Das Buch ist traurig und ernüchternd. Der Hurrikan nimmt der Familie auch das Wenige noch, dass ihr gehört. Ein Neuanfang wird noch härter sein, als das bisherige Leben, denn jetzt ist die Familie auch noch auf andere angewiesen. Aber möglicherweise wächst aus Freundschaft und Zusammenhalt doch wieder etwas heran.

Rezension von Heike Rau

Jesmyn Ward
Vor dem Sturm
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
320 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann
ISBN-10: 3888978610
ISBN-13: 978-3888978616
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