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Autor: Claudine Borries

Dieter Forte: Als der Himmel noch nicht benannt wurde

Dieter Forte: Als der Himmel noch nicht benannt wurde

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In einem fast traumähnlichen Zustand geht ein Schriftsteller durch eine alte Bibliothek.
Hier verstecken sich Folianten und erste Schriftaufzeichnungen längst vergangener Zeiten.

Im Wechsel zur Bibliothek sieht man sich immer wieder ins Endlose geworfen, wo wir auf die alten Fragen der Menschheit treffen: woher kommen wir, wohin gehen wir und wer sind wir?

Mit kurzen Worten werden Andeutungen gemacht, wie die Welt entstand, wie Himmel, Mond und Sterne, die Nacht und der Tag.

Es ist ein Gemisch aus mythischen Begebenheiten, biblischen Aussagen, Anklängen an erste Aufzeichnungen überhaupt und die Menschheit in ihren allerersten Anfängen. „Aus Erzählungen entsteht Erinnerung, aus Erinnerung Vergangenheit“. Die Sprache aber machte den Menschen erst zum Menschen. Feststellungen dieser Art findet man fast auf jeder Seite dieser kleinen Geschichte.
So auch diese: bei Ovid steht “Bevor es Meer gab und Land und Himmel war nur das Chaos“.

Man könnte die Erkenntnis über das Menschsein auch so definieren, dass aus Chaos die Schöpfung entstand.

Wie Dieter Forte seine Aufzeichnungen angeht, das ist assoziativ und doch aufklärend.
Menschliche Weisheit durchzieht sein Büchlein in Form aneinander gereihter Hinweise auf die Entstehungsgeschichte der Menschheit. Da sieht man hinter Schleiern Galileo Galilei vorbeiziehen, alte Götter und Gelehrte und die zahlreichen Philosophen und Mystiker vieler Jahrhunderte. Das Alles in einer hinreißenden Sprache, zart, wissend und zuweilen verwischend, weil es keine endgültigen Antworten gibt.

Wie ein Schriftsteller auf 91 Seiten die ganze Geschichte der Menschheit in kurzen Momenten durchläuft, das ist meisterhaft! Mehr lässt sich dazu nicht sagen!

Dieter Forte
Als der Himmel noch nicht benannt war
96 Seiten, gebunden
FISCHER, Februar 2019
ISBN-10: 3103972202
ISBN-13: 978-3103972207
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Herman Koch: Einfach leben

Herman Koch: Einfach leben

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In einer sehr munteren und ansprechenden Weise lehrt uns Herman Koch, dass das Leben doch nicht immer so einfach ist, wie der Titel zu versprechen scheint.

In diesem kleinen Roman spielt der Schriftsteller Tom Sanders die Hauptrolle. Er ist ein erfolgreicher Autor von zahlreichen Ratgeberbüchern. Mit Julia ist er glücklich verheiratet. Sein Beruf hat ihn erfolgreich, zufrieden und wohlhabend gemacht. Die beiden erwachsenen Söhne sind längst verheiratet und haben selber Kinder.
Dennis, der ältere Sohn, lebt weit weg in Kanada! Sollte dessen weit entfernter Wohnsitz etwa etwas mit dem Schreiben und Leben seines Vaters zu tun haben? Man wird sehen!

Tom und Julia schauen argwöhnisch auf die Schwiegertochter Hanna, die ihren Sohn Stefan zu dominieren scheint. Die Enkelkinder werden nach den strengen Prinzipien ihrer Mutter gesund und ordentlich erzogen.

Die Überraschung passiert, als Hanna eines Tages mit verschwollenem Gesicht bei Tom erscheint. Alles deutet darauf hin, dass Stefan sie misshandelt hat! Da fährt Tom seine Antennen aus und denkt sich als Ratgeber einen Plan zum Handeln aus.

In leicht ironischem Ton und mit witzigen Zwischenbemerkungen versteht Herman Koch, uns teilhaben zu lassen an der guten Ehe von Tom und Julia. Er lässt Julia als die Überlegene daherkommen, die Tom gelegentlich ein wenig auf den Arm nimmt. Sie hat den genauen Blick auf die Menschen und macht sich so schnell nichts vor. Kleine Geselligkeiten und nette Diskussionen beleben die Geschichte. Alle Gedanken scheinen von Lebensweisheiten durchströmt. Tom hat aber auch für alles eine Lösung parat!
Ist Tom nicht ein wenig zu sehr ein „Besserwisser“?

Man staunt und wundert sich, dass alles wirklich so glattgehen soll. Wäre da nur nicht die unzufrieden wirkende Schwiegertochter!

Hier passiert nun wirklich das große Malheur, das alle bisher ausgesprochenen Weisheiten auf den Kopf stellt.

Herman Koch hat eine herrliche Satire auf die Gesellschaft, ihre Zwänge und Lügen geschrieben. Er stellt all’ die klugen Lebensweisheiten am Ende auf den Prüfstand. Man amüsiert sich köstlich und ist gerührt, wie kleinlaut Tom am Ende dasteht.

Die Lebensregeln, die am Ende noch einmal aufgelistet werden, hören sich sehr praktikabel an. Im wahren Leben gelingt die Umsetzung aber nicht immer so ohne weiteres.

Dieser kleine Roman ist heiter, amüsant und leichtlebig und enthält dennoch einige wirklich gute Einsichten. Man kann die Lektüre guten Mutes und uneingeschränkt empfehlen.

Herman Koch
Einfach leben
Taschenbuch, 112 Seiten
KiWi-Taschenbuch, Juni 2019)
ISBN-10: 3462052101
ISBN-13: 978-3462052107
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Katharine Dion: Die Angehörigen

Katharine Dion: Die Angehörigen

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Es handelt sich in diesem Roman um eine Familiengeschichte der besonderen Art.
Genes Frau ist kürzlich verstorben. Nicht ihr plötzlicher Tod wird von Katharine Dion analysiert, sondern durch die Augen und Worte seiner Freunde und seiner Tochter lernt Gene, der Icherzähler, eine Frau kennen, von der er in dieser Form nichts wusste.

Sie hatten ein gutes, bescheidenes und auskömmliches Leben. Noch aus gemeinsamen Studienzeiten stammt die Freundschaft zu Ed und Gayle. Sie haben zusammen Urlaube verbracht, haben nach und nach ihre Kinder bekommen, zu denen sich inzwischen noch Enkel und Enkelinnen gesellten, und fühlten sich in dieser Gemeinschaft geborgen. Das waren „die Angehörigen“ als Ersatz für die nicht vorhandenen wirklichen Angehörigen.

In der Vorbereitung auf eine Gedenkfeier für die verstorbene Maida, Genes Frau, treffen alle zusammen. Gene ist verwirrt, fühlt ich einsam und ist verunsichert, wie unterschiedlich die Berichte über Maida klingen. Zwischen seiner Tochter Dary und ihm herrscht ein angespanntes Verhältnis.

Inzwischen lässt Gene seine Gedanken zurückschweifen, und man erfährt einiges über sein gemeinsames Leben mit Maida. Sie waren 49 Jahre verheiratet. Die Fragen, die sich für Gene aufwerfen, sind existenziell, weil er sie sich so noch nie gestellt hat. Standen sich Ed und Maida näher, als er dachte? Ist Dary womöglich nicht seine Tochter?
Insgesamt ist er verunsichert, scheu und ratlos. Eine kurze von ihm allzu ernst genommene Beziehung zu seiner Putzfrau zeigt einen einsamen alten Mann, der sich ratlos durchs Leben bewegt.

Katharine Dion hat mit diesem Debütroman ein reifes und ansehnliches Werk geschaffen. Die nachhaltigen Fragen und Gefühle, die sie aufzeigt, bringen auch den Leser zum Nachsinnen. Unwillkürlich fragt man sich: wie war das denn bei Dir? Man fühlt mit Gene mit, der in Trauer erlebt, dass er seine Tochter gar nicht richtig kennt und versteht. Die vielen Szenen und Bilder, seien sie aus der frühen Zeit seiner Ehe oder in den späteren Jahren, werfen ein farbiges Bild auf eine Gesellschaft, in der nach außen hin alles in Ordnung erscheint. Aber gibt es nicht auch die Schattenseiten des Lebens? Die schmerzlichen Erfahrungen, Entbehrungen und das Ungesagte? K. Dion findet die richtigen Worte, mit denen sie den Fragen nachgeht. Sie bringt uns das Geschehen nahe und lässt uns teilnehmen an einem Leben, das durch den Tod einen schmerzlichen Bruch erlebt.

Das Buch ist nicht spannend aber in seinen Ausführungen z.T. sehr tiefsinnig. Wer sich für die Psyche des Menschen, seine Abgründe und die nach außen gezeigte Eintracht fasziniert fühlt, der wird mit diesem Roman belohnt für ein wenig Ausdauer, die durchaus erforderlich ist.

Katharine Dion
Die Angehörigen
288 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, April 2019
ISBN-10: 3832198946
ISBN-13: 978-3832198947
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Leila Slimani: All das zu verlieren

Leila Slimani: All das zu verlieren

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Ein sehr unglückliches Wesen bildet die Hauptfigur dieses kleinen Romans.

Adèle ist Mitte dreißig. Sie hat alles was sie will: einen netten Mann, den Arzt Richard, ihren kleinen Sohn Lucien und ein auskömmliches Leben. Aber all das genügt ihr nicht!
Sie selbst ist eine lustlos ihrer Arbeit nachgehende Journalistin.

Immer auf der Suche nach dem großen Glück stürzt sie sich von einer Liebschaft in die nächste. Von der Sexualität erwartet sie sich die letzte große Erfüllung. Das lässt sie von einem Mann zu anderen taumeln, denn sie bekommt nicht, was sie sucht.
Sie scheut keine Mühen, sich heimlich auf die Suche nach dem besten Liebhaber zu machen.
Dazu gehören die Heimlichkeiten, die Lügen, die Langeweile einer Ehe, die im täglichen Einerlei versinkt und die brutalen Fantasien, mit denen sie Befriedigung zu erreichen trachtet.

Leila Slimani hat ein Gespür für die abartigen Charaktere und die innerlich kaputten Menschen, die in krankhafter Weise dem Glück hinterherlaufen. Das hat sie schon mit ihrem Roman „Dann schlaf auch Du“ bewiesen. Diese innerlich zerbrochenen Frauen bieten reichlich Anlass, einmal psychologisch den Ursprüngen ihrer verkorksten Vergangenheit nachzugehen.

Doch leider ist hier die Ursachenforschung nur wenig ergiebig.

Die Sexsucht ist eine Krankheit. Sie wird nur selten erkannt und als solche benannt.

Die ausschweifenden Fantasien und immer neuen Versuche, sexuelle Erfüllung zu erlangen, misslingen gründlich. Hier wird eine Frau beschrieben, die sich selbst nicht lieben kann und damit auch niemanden sonst. Ihr Mann und der Sohn bleiben auf der Strecke. Richard ist als Chirurg nicht geschult genug, um die Defizite im Charakter seiner Frau wahrzunehmen und entsprechende Schritte zu unternehmen, sie in eine Heilbehandlung zu vermitteln. Auch er hat Defizite, denn er stellt sich nicht wirklich der Realität. Er ergeht sich in Träumen, die ihn seine Frau zurückgewinnen lassen könnten und richtet den Blick auf eine Zukunft, in der sie als altes Paar noch ein wenig Glück bei einander finden würden. So dümpeln alle Figuren und besonders Adèle in ihrer Sehnsucht nach Erfüllung und vor allem nach Liebe vor sich hin.

Berücksichtigt man die Herkunft von Leila Slimani aus Marokko, so ist dieses Werk eine Provokation gegen die traditionsreichen und hierarchisch geordneten Verhältnisse ihres Ursprungslandes. Dazu aber ist die Geschichte zu westlich orientiert angelegt, so dass man keinen Ansatz für einen Zusammenhang erkennt.

Der LeserIn wird den endlosen sexuellen Gelüsten der Hauptprotagonistin ausgesetzt, und es bietet sich keine Gelegenheit nach Entlastung und Leichtigkeit. All das zu verlieren bleibt die einzige Alternative. Eine traurige, düstere und lüsterne Atmosphäre macht die Lektüre schwer verdaulich. Es gibt nur den Untergang, keine Hoffnung.

Leila Slimani hat schon eindrucksvollere Einblicke in ihr Können geboten!

Leila Slimani
All das zu verlieren
224 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, 13. Mai 2019
ISBN-10: 363087553X
ISBN-13: 978-3630875538
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Philippe Blondel: Ein Winter in Paris

Philippe Blondel: Ein Winter in Paris

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Der Held der Geschichte heißt Victor und berichtet in der Ichform. Er stammt aus der Provinz und studiert an einem berühmten Lycée in Paris, wo er die Zulassung zum Studium erlangen will. Die Bedingungen des Studiums sind schwer. Man schuftet und schaut nicht rechts noch links, doch der Preis ist die Einsamkeit. Victor ist scheu, zurückhaltend und kommt nur einem Mitschüler näher: Mathieu, der eine Klasse unter ihm ist.

Eines Tages in einer Kurzschlusshandlung bringt Mathieu sich um! Er stürzt sich die Treppe im Lycée hinunter.
Die Schüler und Lehrer und der Rektor der Schule sind aufgewühlt und ratlos! Wie konnte das passieren?

Blondel erzählt einfühlsam und eindrücklich, wie das Klima in diesen Lernbetrieben ist.
Die Lehrer erscheinen entrückt und unnahbar.

Wenn man nicht in Paris zu Hause ist und nicht aus begütertem Elternhaus stammt, tut man sich schwer, Anschluss zu finden. Diese Einsamkeit durchströmt die ganze Erzählung. Atmosphärisch dicht und nachvollziehbar sieht man die Studenten in ihrem Treiben, ihren zaghaften Annäherungsversuchen und in ihrem Scheitern.

Victor erfährt nach dem Suizid von Mathieu eine ungewohnte Aufwertung als Mitglied der Schulgemeinschaft. Man erhofft sich von ihm Aufschluss über die Gründe für den Suizid.

Er erfährt ein ungewohnt hohes Interesse, denn man möchte mehr über ihn und über Mathieu erfahren. Ein schwuler Mitschüler ist besonders an allen Vorgängen interessiert.

Die Geschichte handelt vom Aufbruch aus der Kindheit und Jugend zur Erwachsenenwelt, zur Befreiung von elterlicher Gängelei und ungewohnter Freiheit und von den Erfahrungen mit ersten sexuellen Begegnungen.
Blondel erzählt aber auch von Eltern und Kindern, von den Gefühlswallungen in der Jugend, von Trennungen, Abschieden und von den stillen Stunden des Alleinseins, in denen man die Gedanken ordnet und von den Versuchen, im Leben Fuß zu fassen.

Victor wird zum Dreh- und Angelpunkt einer menschlichen Tragödie. Nachdem er sich gefangen hat, beginnt sein eigenes Leben. Er wird Schriftsteller. Diese vorliegende Erzählung, geschrieben wie eine fiktive Biographie, führt ihn nochmal zurück in seine Jugendjahre und in die Aufbruchszeiten seines eigenen Lebens.

Der Roman ist leicht melancholisch und tief einprägsam: zeigt er doch die Bewegungen, die das Wachsen und Gedeihen mit sich bringt. Sie können sich zum Guten wenden oder durch die Klippen des Lebens traurig enden.

Sehr lesenswert!

Philippe Blondel
Ein Winter in Paris
192 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag, September 2018
ISBN-10: 3552063773
ISBN-13: 978-3552063778
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Gérard Salem: Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst

Gérard Salem: Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst

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Gérard Salem beschreibt in seinem hier vorliegenden Roman die Konsultation eines Klienten, der mit seiner Familie seit sieben Jahren keinen Kontakt mehr hatte, nun in einer Ehescheidung steckt und seine zwei Söhne nicht mehr sehen darf.

Mit dem Rat, seinen Eltern einen Brief zu schreiben, beginnt die Lawine einer Familienbeziehungsgeschichte, die selten so präzise beschrieben zu finden ist.

Die bewusst gewählte Form handgeschriebener Briefe ermöglicht eine ganz ungewohnte Möglichkeit der gegenseitigen Wahrnehmung. Nach und nach sind zuerst die Mutter, dann der Vater, Geschwister aller Generationen und weitere entfernte Verwandte einbezogen in die Rückschau eines Familienlebens, in der jeder eine unterschiedliche Sicht des Zusammenlebens präsentiert. Alte Wunden brechen auf, vorsichtige Annäherungen finden statt, und man wird zuletzt ganz in den Bann einer Familienkonstellation hineingezogen, in der so manches irrig wahrgenommen und verschoben betrachtet wird.

Es kommunizieren zuerst einmal Boris, des Therapeuten Klienten Nr.1, mit seinem Therapeuten. Nach dessen Anschub zum Familienaustausch gerät die ganze Familie in den brieflichen Bann gegenseitiger Auseinandersetzungen. Nicht immer sind alle Namen gut zu unterscheiden, denn zuletzt schreiben Onkel, Tanten, Neffen, Cousins und Cousinen mit, so dass ein weit ausholendes und abgerundetes Bild der Familienkonstellation entsteht.

Die Schwester von Boris, Charlotte, ist Ärztin, und schaltet sich gewissermaßen als wissende Moderatorin und doch auch selbst Betroffene in die ganze Geschichte mit ein.

Familiendynamiken sind oft faszinierend, zuweilen erschreckend, fast immer spannend, häufig Unglück widerspiegelnd und selten so gut lösbar, wie das in dieser Geschichte passiert. Man kann eigene Erfahrungen wiedererkennen und die, die man bei anderen beobachtet. Es ist eine lehrreiche Geschichte, die man mit großem Interesse verschlingt.

Gérard Salem war Psychiater und Hypnosetherapeut in Lausanne und hatte sich auf Familientherapie spezialisiert. Er hat Sachbücher verfasst und an internationalen Kongressen teilgenommen Dem Buch merkt man seine Fachkompetenz an. Hier spricht einer aus langer Erfahrung, so dass keinen Moment der Eindruck eines künstlich angelegten Romans entsteht.

Das Leben schreibt die besten Romane, und wenn die Geschichte auch als fiktiv deklariert ist, lässt sich dieses mit Fug und Recht hier sagen.

Gérard Salem
Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst
206 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, April 2019
ISBN-10: 3832183752
ISBN-13: 978-3832183752
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Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten

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Unnachahmlich in seiner Beobachtungsgabe schreibt Ferdinand von Schirach über zahlreiche Ereignisse in seinem Leben.

Es sind Szenen aus dem Alltag eines Schriftstellers, der klug, besonnen, einmal mit mehr und einmal mit weniger Empathie über das schreibt, was uns Menschen bewegt.

Verwandte werden einbezogen: so der Vater, ein Onkel und Tage bei Verwandten auf dem Lande oder Bekanntschaften auf seinen vielen Reisen.

Ein jeder sehnt sich nach Hause, doch wo ist das? Oder besteht dieses nur in unserer Erinnerung?

Kluge Fragen und nachdenklich stimmende Antworten.

Immer wieder geht es in seinen Geschichten um das Gute und Böse im Menschen, um Recht und Würde und die vielen Vergehen in allen Bereichen menschlichen Seins.

Sein Großvater war Hitlers Reichsführer NSDAP. Er spielt im Denken des Enkels als Gefolgsmann Hitlers eine ungute Rolle. Das Gespräch mit einer ukrainischen jüdischen Anwältin und die Erinnerung an das unermessliche Unglück, das vermeintlich „normale“ Menschen an den Juden und anderen begangen haben, lassen den Autor nicht los.

Es sind die fragenden Gedanken und die oftmals hilflosen Antworten, die von Schirachs Erzählungen zu einer intensiven eigenen Betrachtung unserer zwar aufgeklärten und doch immer wieder auch ungerechten Welt bringen.

Die Erzählungen sind facettenreich, stimmen melancholisch, stellen Dinge infrage und geben Gott sei Dank keine besserwisserischen Antworten. Von Schirach nimmt Dinge mit wachen Augen und Sinnen auf, um sie dann in seinen Worten und mit seinen eigenen Fragen versehen aufzuzeichnen.

Zuweilen sind seine Betrachtungen erinnerte Erlebnisse, die sich gelegentlich poetisch schön in seinen Worten widerspiegeln. So manche kurze Betrachtung endet im Nichts, als stünde nur ein unsichtbares Fragezeichen dahinter.

Insgesamt bekommt man den Eindruck, dass F.v. Schirach ein hoch gebildeter, uneitler Mann ist, der einsam seinen inneren Gedanken nachgeht, auch einsam ist, und doch mit seinen bildhaften Betrachtungen Menschen beschreibt, Schicksalen nachgeht, eigene Erfahrungen in seine Geschichten einfließen lässt und so zu einer weisen Weltsicht findet, in der es „Böse“ oder „Gut“ nicht gibt. Alles ist immer und überall möglich.

Ferdinand von Schirach
Kaffee und Zigaretten
192 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, März 2019
ISBN-10: 3630876102
ISBN-13: 978-3630876108
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Annie Ernaux: Der Platz

Annie Ernaux: Der Platz

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Wie schon in ihren vorangegangenen Büchern benutzt Annie Ernaux autobiographische Erinnerungen, um Szenen aus ihrem Leben in Erzählungen umzuwandeln.

Dieses Mal geht es um ihren Vater, zu dem sie lange ein sehr entferntes Verhältnis hatte.

Wir erinnern uns, dass die Autorin dem Milieu ihrer Familie früh entwachsen war.

Sie war hoch begabt, studierte und brachte es in Frankreich zu Ansehen als preisgekrönte Schriftstellerin.

Zwei Monate nach ihrem bestandenen Examen als Lehrerin für den höheren Schuldienst starb ihr Vater. Ein Ereignis, dass sie zum Nachdenken und nachspüren seines Lebens motivierte. Er war ihr fremd, da sie sich mit ihrer Entwicklung dem ärmlichen Milieu der Kindheit entfremdet hatte. Wie immer in ihren Schriften ist Annie Ernaux reflektiert, beobachtet genau und kann über ihre Emotionen treffend berichten.

So beschreibt sie anschaulich, woher der Vater kam, wer und wie er war.

Er entstammte einer armen Familie, die kein eigenes Land besaß.

Als Knecht verdingte er sich bei einem Bauern. Das bedeutete Arbeit von früh bis in die Nacht hinein. Später ging er in die Fabrik, und nach Jahren konnten die Eltern sich sogar einen kleinen Lebensmittelladen einrichten. Immer aber blieben sie ihrer unteren Mittelschichtzugehörigkeit verhaftet. Da war es schwer als Tochter, die ja weit aufgestiegen war, die Brücken zu den Eltern zu erhalten.

Wie der Erste Weltkrieg schon das Lebens des Vaters berührte, so entkam er mit Mühen auch dem Zweiten Weltkrieg. Die Kriege sind weniger wesentlich als vielmehr der Dauerkampf gegen die Armut. Wie A. Ernaux darüber berichtet, das hat den Anschein, als spielte sie gar keine Rolle im Leben der Eltern, sondern als ginge es eher immer nur um deren Überlebenskampf. Es blieb wohl nicht viel Zeit für Glück, Zeitvertreib oder gar Zärtlichkeit.

Annie Ernaux vermag hervorragend mit Empathie und gleichzeitig mit kühler Distanz zu berichten. Man wird hineingezogen in die Sicht eines Daseins, das nicht wirklich ihres war, aus dessen innerer Wahrnehmung ihr Leben aber lange bestand.

Hoch kompliziert widmet sich A. Ernaux dem Gedanken um den Zwiespalt zwischen Glück und Fremdbestimmung. Man blieb in den eigenen und anderer Leute Augen immer unzulänglich.

Einmal wusste man sich nicht richtig auszudrücken, dann wieder gelangte man zu eigenem Glück durch Erwerb eines Hauses mit Grundstück. Ergebnis unendlicher Plackerei. Sezierend sind die Analysen der Autorin über das Leben der Eltern und besonders des Vaters.

Das Buch versinnbildlicht den Abschied der Tochter aus der kleinbürgerlichen Welt der Eltern.

In dieser Welt bemühte man sich, nicht aufzufallen, sondern immer den gleichen Regeln von bürgerlichem Anstand und Wohlgefallen ihrer Gesellschaftsschicht zu entsprechen. Nur nicht zum Außenseiter werden!

Dieser Abschied ist nicht melancholisch und er ist nicht traurig; eher möchte man ihn als wehmütig empfinden. Die großzügige Gedankenwelt der Gebildeten und Arrivierten passt nicht zum kleinbürgerlichen Denken von Annie Ernaux’ Herkunft. Das ist ihr Abschied!

Das Buch bietet ein mitreißendes weiteres Stück lebendiger Biographie von Annie Ernaux!

Annie Ernaux
Der Platz
94 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, 10. März 2019
ISBN-10: 351822509X
ISBN-13: 978-3518225097
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Halldis Engelhardt: Sieh dich nicht um!

Halldis Engelhardt: Sieh dich nicht um!

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Halldis Engelhardt hat ein Buch über ihre Eltern geschrieben.

Es ist die anrührende Geschichte von zwei jungen Menschen, die sich beim Einmarsch der deutschen Soldaten in Norwegen sahen und sofort unsterblich verliebten. Halldis Engelhardt hat von der Vorgeschichte ihrer Eltern erst nach deren Tod erfahren und sich auf Spurensuche begeben. Sie sucht in Archiven, spricht mit Zeitzeugen und findet einem Puzzle gleich die Zusammenhänge, die ihr ein ganz neues Bild ihrer Mutter vermitteln.

Was war also passiert?

Der deutsche Soldat Heinz marschiert 1940 in den Ort Flekkefjord in Südwestschweden mit seiner Kompanie ein, und Jorna, die Norwegerin, schaut ihm in einem unbeobachteten Moment in die Augen. Sie kann diesen Blick nicht vergessen. Natürlich darf das nicht sein! Norweger haben die Besatzung durch die Deutschen nicht gebilligt. In den Augen der Bevölkerung war ein Liebesabenteuer mit Deutschen Soldaten eine Schmach. Jorna findet Mittel und Wege, um den Soldaten Heinz wieder zu sehen. Zwischen beiden entwickelt sich eine innige Liebesbeziehung. Sie muss äußerst behutsam vorgehen, um nicht mit ihm erkannt zu werden.„Deutschfreundinnen“ wurden von der Bevölkerung geschnitten und verachtet.

Halldis Engelhardt findet anrührende Worte, um über die große Liebe ihrer Eltern zu berichten.

Sie fügt in ihren Bericht über deren Schicksal liebevolle Schriften in der Art fiktiver Briefe ein. Darin zeigt sie Verständnis, Mitgefühl und Verehrung für die Eltern.

Man erfährt, woher die Mutter kam, wie begabt, hübsch und fleißig sie war, und wie sie um ihre Liebe zu dem humorvollen und galanten Heinz gekämpft hat. Sie erleben glückliche Monate bis Heinz an die Ostfront in Russland zum Einsatz verssetzts wird. Dieser Krieg ist ein Fluch, und vorübergehend verlieren sich die beiden Liebenden bei Kriegsende mit seinem Untergangsszenario ganz aus den Augen. Vergessen können sie sich nicht!

Es bedarf noch zahlreicher Umwege, um wieder zu einander zu finden.

Die Biographie liest sich leicht und angenehm. Halldis hat eine besondere Begabung, sich der Wahrheit zu nähern und sich sowohl nüchtern als auch anteilnehmend zu artikulieren.

Norwegen erscheint uns als landschaftlich wunderschönes Land mit Bewohnern, die mit dem Krieg mit dessen Auswirkungen schwer getroffen wurden. Hunger, Not und Kälte machte den Bewohnern ebenso zu schaffen, wie das in anderen Ländern der Fall war. Norwegen wurde in einen Krieg hineingezogen, ohne sich widersetzen zu können. Man hasst die Deutschen Besatzer.

Niemand sollte hier ein literarisch anspruchsvolles Werk erwarten. Es geht um ein Stück Norwegischer und Deutscher Geschichte, in die Halldis’ Eltern unfreiwillig verstrickt waren. Auch zeigt diese Geschichte einmal mehr, dass immer, auch im Krieg, der einzelne als Mensch zählt und nicht ein ganzes Volk als Täter abgetan werden kann.

Halldis Engelhardt
Sieh dich nicht um!
320 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, Mai 2018
ISBN-10: 3832198717
ISBN-13: 978-3832198718
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Julian Barnes: Die einzige Geschichte

Julian Barnes: Die einzige Geschichte

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Julian Barnes führt uns in seiner einzigartigen Erzählweise die Geschichte seines Icherzählers und dessen erster großer Liebe vor.

Auf dem Tennisplatz, wohin Paul im Alter von 19 Jahren auf Drängeln seiner Mutter zur Ausschau nach einer geeigneten Partnerin fürs Leben geschickt wurde, lernt er die zwanzig Jahre ältere Susan kennen.

Paul lebt mit seinen Eltern in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer bürgerlichen Siedlung südlich von London in Gemeinschaft mit saturierten Bürgern der Mittelschicht.

Paul ist reichlich angeödet von dem englischen, prüden und langweiligen Milieu, in dem er aufwuchs, und das ihn nach dem ersten Studiensemester noch mehr auf die Nerven geht. Seine pauschale Bezeichnung für die Kinder dieser Schicht sind Hugos und Carolines, die nur darauf warten, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Dort gibt es dann die obligatorische Eheschließung, Kinder, Hund und Haus.

Paul aber sucht anderes und rebelliert gegen die Vorgaben seiner Eltern.

In Susan findet er den Gegenpart zum Spießerleben seiner Umgebung. Sie hat Mann und Töchter, die sogar älter als Paul sind, ist lustig, lebt dem Augenblick, und freut sich an ihrer gemeinsamen Liebe. Ihr sexuelles Eheleben ist schon lange erloschen. Umso euphorischer ist die Erkenntnis, dass sie von ihrem jungen Liebhaber als anziehend und liebenswert empfunden wird. Leider bleibt die Zeit nicht stehen, nie, und so verliert sich die Geschichte nach und nach in einer tragischen Lebensform. Susan trennt sich von Mann und Kindern und lebt mit Paul zusammen. Er vollendet sein Jurastudium. Die Leidenschaft der Anfangszeit weicht bald einem langweiligen Alltag.

Beide wollen das lange nicht wahrhaben und klammern sich an die Erinnerung ihrer frühen ersten Begegnung.

Daneben ereignet sich eine innere Wandlung, die in erschütternder Weise Susan als innerlich leer und dem Alkohol verfallende Frau zeigt. Der Alltag spielt nun bald keine Rolle mehr. Barnes geht in die Tiefe und versucht vergeblich zu ergründen, was zu der entgleisenden Entwicklung beigetragen haben könnte. Paul ist gewissenhaft und hilft noch lange, wo und wie er kann, gibt aber schließlich auf.

Die Mischung aus Alltagsgeschichten und Beleuchtung des spießigen Bürgertums mit Ausflügen in philosophische Gedankenwelten sind es, die uns die Geschichte nahebringt, zu eigenem Nachdenken reizt und von tiefer Weisheit zeugt. Die nach und nach enthüllende Leere zwischen dem Paar lässt keine Hoffnung keimen.

In einem dritten Teil des Romans zieht Paul seiner Wege und lebt in Zukunft ein einsames Leben. Eine neue Liebesgeschichte ist nach kurzen Versuchen nicht in Sicht.

Julian Barnes wäre nicht der Schriftsteller von Weltruf, wenn er seine Geschichte nicht mit Erkenntnissen, Weisheiten, Reflexionen und der Darstellung momentaner Gefühlslagen gespickt hätte. Poetisch und brillant sind seine Stimmungsbilder, mit denen er äußere und innere Befindlichkeiten ans Licht bringt. Man ist tief bewegt und angerührt darüber, wie Lebenswege verlaufen können. Was ist determiniert, und was selbst verschuldet? Die Frage nach der Schuld stellt sich nicht. Es wird seziert und wiedergegeben, was passiert. Fazit: Lebensläufe werden von unerwarteten äußeren und inneren Entwicklungen mitbestimmt.

Am Ende erfahren wir eine resignierte Weltsicht, nüchtern und ohne Zukunftsvision oder Hoffnung.

Was bleibt ist die Erkenntnis, dass hier ein Autor wirklich viel vom Leben und von seinen Höhen und Tiefen versteht und dieses Wissen in geeigneter Form dem Leser zu vermitteln versteht. Dr Bogen von erster Liebe bis zum Aus ist weit gespannt und fasziniert von der ersten bis zur letzten Zeile!

Julian Barnes
Die einzige Geschichte
304 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2019
ISBN-10: 3462051547
ISBN-13: 978-3462051544
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