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Kategorie: Belletristik

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

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In dem vorliegenden Roman von Susanne Abel geht es um die Familie Monderath. Sie ist durch vielfältige Verstrickungen eine wahre Schicksalsfamilie!

Das Paar Gretchen und Konrad sind die Hauptakteure.
Gretchen war mit Konrad Monderath verheiratet. Im Jahr 2016 ist er schon lange tot, und sie ist alt und dement. Tom, der gemeinsame Sohn, ist 47 Jahre alt. Er lebt und liebt in Köln, wo er eines Tages Besuch von einem Halbbruder erhält. Er wusste nicht, dass es ihn gibt, hat das aber durch Recherchen herausgefunden. Henk van Dong ist Holländer. Er sieht ihm ähnlich wie ein Zwilling, was zu allerlei Vermutungen im näheren Bekanntenkreis von Tom führt.

Die Autorin lässt die Brüder auf Spurensuche nach dem Vater der beiden gehen.
Nun beginnt in zwei Zeitabschnitten einmal die Geschichte von Tom 2016, und die Geschichte Konrads vom Kind bis zum Soldaten im Zweiten Weltkrieg von 1933-1943.

In dem Roman wird Vergangenheits-und Gegenwartsgeschichte verarbeitet.
1933 beginnt Hitlers Herrschaft mit all’ den Folgen, die jene Jahre prägten: Naziideologie, Judenhass und Verfolgung, Ermordung und Eliminierung Behinderter. Nicht zuletzt folgt der Zweite Weltkrieg. Die Schwester von Konrad, ein mongoloides Mädchen, fällt dem Vernichtungswahn zum Opfer, und Franz, der ältere Bruder von Konrad, fällt 1942 im Krieg.
Konrad wird nach Militärzeit und Gefangenschaft Arzt und findet in Gretchen seine große Liebe. Letztere hat ein verborgenes Geheimnis, dass ihr Leben begleitet und beschwert.

Charaktere unterschiedlicher Mentalität und Geisteshaltung finden sich in den Figuren der Protagonisten wieder.
Vom Nazi bis zum aufgeklärten Nachkriegskind werden alle Seiten vergangener und gegenwärtiger Zeiten berührt.

Die Spannung steigt nach der Hälfte des Romans, als Kinderwunsch und Unfruchtbarkeit an der Realität zu zerbrechen drohen. Die Ärzte Konrad und ein Onkel verstricken sich in Gesetz und Ärzteordnung.

Worum also geht es in diesem Roman?
Ein wenig schleicht sich der Eindruck ein, dass hier die großen Fragen der Menschheitsgeschichte in einen Roman gepackt wurden: Liebe, Betrug, Trauer, Kinderwunsch und Verleugnung, politische Gegensätze und Krieg. Es wird gut erzählt und viel gesprochen. Man kann der Autorin eine fantasiereiche Fabulierkunst nicht absprechen. Die zahlreichen Erzählstränge lassen den Leser*in nicht los, so dass man gebannt dem Suchen nach der Wahrheit folgt.

Der Schreibstil ist schlicht und mit zahlreichen Kraftausdrücken bestückt.
Alles in Allem kann man von einem unterhaltsamen und im Aufbau durchaus spannenden Familienepos sprechen, das sicher viele Liebhaber der leichten Literatur erfreuen wird.

Susanne Abel
Was ich nie gesagt habe
dtv Verlagsgesellschaft, Juni 2022
560 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423290234
ISBN-13: 978-3423290234
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Jessica Durlacher: Die Stimme

Jessica Durlacher: Die Stimme

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Zelda und Bor heiraten in einem Augenblick höchster Gefahr. Sie werden von einem Rabbi in New York getraut, nachdem sie schon zehn Jahre lang mit nach und nach drei Kindern eine Familie gegründet hatten.
Just im Moment der Heirat passiert in den Twin Towers in New York das schreckliche Attentat vom 9. September.
Der apokalyptische Vorfall in NY ist der Auftakt zu einer dramatischen Beziehungsgeschichte zwischen einer jüdischen Familie und dem Islam.
Bor und Zelda flüchten aus der Nähe der brennenden Türme und retten sich und die Kinder.
Dann sind sie zurück in den Niederlanden. Hier arbeitet Zelda als Psychoanalytikerin; Bor ist ein angesehener Anwalt.

Jessica Durlacher führt uns langsam in das Leben ihrer Protagonisten ein.
Die Ehe von Bor und Zelda ist glücklich. Auch die Kinder nehmen ihren besonderen Platz in der Geschichte ein. Es ist eine gebildete, begüterte Familie, die im Fokus des Romans steht.

Zelda, die Icherzählerin, hatte schon einen ersten geliebten Ehemann, mit dem sie den Sohn Philip hat. Nach dessen frühem Tod hat Bor sie still und selbstverständlich umsorgt, bis sie schon bald zusammengezogen sind.

Nach einiger Zeit kamen Sam und Pol auf die Welt. Das Au Pair- Mädchen Ania verlässt die Familie, und Zelda sucht dringend eine neue Hilfe. Sie lernt eine Somalierin kennen, die, malerisch nach islamischer Sitte gekleidet, schön und exotisch anzusehen ist. Sie ist aus einer strengen Familie und vor einem prügelnden Ehemann als Flüchtling in die Niederlande gekommen. Zelda nimmt sie als Kindermädchen in ihre Familie auf.
Schon bald zeigt sich, dass sie eine sehr schöne Stimme hat.

Zelda ist mit der Erziehung ihrer Kinder sehr beschäftigt. Besonders Phil mit seinen heftigen Wutanfällen bringt sie in Unruhe. Wie soll sie damit umgehen? Wie macht sie alles richtig?
Der Beruf als Psychoanalytikerin lässt sie manches wahrnehmen, was andere vielleicht noch nicht sehen.
Wir erleben ein Geschehen, das voller innerer Spannungen und tiefgründigen Reflexionen steckt.

Neben der alltäglichen Familienroutine beginnt eine spannende Entwicklung. Amal wird zur Teilnahme eines Gesangswettbewerbs angenommen.
Sie wird eine berühmte Sängerin und zugleich Verfechterin für Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen im Islam. Ihre Aktivitäten, ja fast Provokationen, führen zu Verfolgung und Feindschaft seitens islamischer Fanatiker. Damit bringt sie auch ihre Gastfamilie in große Gefahr.

Jessica Durlacher schreibt zügig und integer. Sie steigert ihre Erzählung zu immer neuen dramatischen Ereignissen, die den Leser total in Bann schlagen. In beispielloser Weise bringt sie die Verflechtungen der jeweiligen Ereignisse in einen Zusammenhang. Spannungen werden aufgebaut und Lösungen angedeutet. Zeldas Reflexionen zeugen vom tiefenpsychologischen Wissen der Autorin.

In den Roman ist viel hineingepackt: Islam und Judentum, Verlässlichkeit, Liebe, Engagement, Geheimdienste, Verfolgung und nicht zuletzt Mord und Betrug.
Die hier beschriebene zerrissene Welt ist glaubwürdig und die Dichte des Romans mitreißend.

Jessica Durlacher lebt mit ihrem Mann Leon de Winter und ihren Kindern in den Niederlanden.

Jessica Durlacher
Die Stimme
Diogenes, Mai 2022
544 Seiten, gebunden
ISBN-10: 325707185X
ISBN-13: 978-3257071856
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Tania Blixen: Babettes Gastmahl

Tania Blixen: Babettes Gastmahl

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In einer wunderschönen kurzen Erzählung werden wir in das Leben zweier Schwestern hoch im Norden Norwegens eingeweiht.
Sie sind die Töchter eines Probstes, der seine Anhänger streng um sich schart.
Die Geschichte spielt in den Jahren 1871-1885.

Die beiden Töchter des Probstes sind hübsch, fromm und liebenswert. Zweimal fanden sich sehnsuchtsvolle Bewerber aus fernen Ländern, die aber nicht ankamen bei den beiden schönen Damen.
Wie es zu dem Hausmädchen Babette kam, und wie es zu einem Gastmahl kam, das wird uns in zauberhaften Worten erzählt.

Es geht um die Einsamkeit der Natur, um die Abgeschiedenheit von allem urbanen Leben; es geht auch um den Kontrast pietistischer Lebensformen gegenüber der bunten Adelswelt in Paris und Schweden.

Babette ist eine herausragende Köchin, die in Paris ein Edelrestaurant zu Ehren und Ruhm gebracht hat. Ihr Mann und Sohn kamen bei Aufständen in Frankreich 1871 ums Leben. Sie selber wurde als Aufrührerin verfolgt und floh mit einer Empfehlung des verflossenen Heiratsanwärters eines der Mädchen in das abgeschiedene Fleckchen Erde Norwegens. Dort hat sie jahrelang die karge Kost der Bewohnerinnen zubereitet. Dann ergab sich eine Gelegenheit, ihre Kochkünste einmal vorzuführen. Denn sie bezeichnet sich als Künstlerin und beklagt den Zustand, wenn ein Künstler nicht sein Bestes geben kann.

Mit dem Aufschrei „Gebt mir die Erlaubnis, gebt mir die Gelegenheit, mein Allerbestes zu liefern“ endet diese bezaubernde Erzählung. Philippa, eine der Schwestern, ist tief berührt.

Die kurzen und präzisen Sätze treffen immer den Kern einer Sache. Es werden nur die wichtigsten Daten genannt; mehr Aufmerksamkeit gilt der Natur in ihrer einmaligen Schönheit. Die klare Luft und die Stille sind einprägsame Momente. Handelnde Personen werden in ebenso kurzen Sätzen ohne viel schmückendes Beiwerk beschrieben und gewinnen doch einen hervorragenden Platz in der Erzählung.

In einem langen Nachtrag gibt Erik Fosnes Hansen eine Interpretation, die dem Leser*in dieses literarische Kleinod noch tiefer verstehen lässt.
Man lasse sich erbauen von dem kleinen Meisterwerk.
Eine sorgfältige Liste mit Anmerkungen gibt dem Werk zusätzlich die seriöse Note, die es verdient.
Auch der Einband ist ein künstlerisches Gebilde. In der Übersetzung von Ulrich Sonnenberg ist das Büchlein im Manesse Verlag 2022 zum ersten Mal auf Deutsch erschienen.
Es eignet sich hervorragend als kleines Geschenk zu besonderem Anlass.Die Dänin Tania Blixen lebte von 1885 bis 1962.

Tania Blixen
Babettes Gastmahl
Manesse Verlag, Februar 2022
120 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3717560018
ISBN-13: 978-3717560012
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Jane Gardam: Mädchen auf dem Felsen

Jane Gardam: Mädchen auf dem Felsen

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Wir befinden uns in einem flirrend heißen Sommer an der britischen Küste. Es ist die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
Wieder wie in vorhergehenden Romanen beschäftigt sich Jane Gardam mit den Tücken des Familienlebens, mit Freigeistern und mit Predigern.

Margaret lebt in einer Familie von bigotter Selbstherrlichkeit und sturen Regeln des Umgangs.
Sie ist 8 Jahre alt und langweilt sich tödlich. Ein Baby, der gerade erst geborene Bruder des Mädchens, nervt mit seinem Geschrei, seiner Hässlichkeit und den üblichen Ausdünstungen eines Neugeborenen. Vater hält biblische Reden und ist vollkommen desinteressiert am allgemeinen Familienleben.

Jane Gardam in ihrem bekannten Erzählstil vermittelt einen unmittelbaren Eindruck von der bigotten und weltfremden Welt ihrer Figuren.

Wäre da nicht Lydia, das neue Hausmädchen, Margaret wüsste nicht, wie sie sich die Zeit vertreiben sollte. Lydia ist deftig, drall und geradeaus. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und scheint die einzige vernünftige Person in diesem Reigen menschlicher Unzulänglichkeiten und Plattheiten. Margaret liebt die Ausflüge mit ihr, bei denen sie sich endlich frei fühlt! Sie kann rumtollen, auf Bäume klettern und jeglicher Neugier frönen.

In einer langen Folge von Episoden vermittelt Jane Gardam die skurrilen Formen menschlichen Lebens mit engem Horizont und spießigen Lebensansichten. Aber man täusche sich nicht! Unter der nach außen gezeigten Wohlanständigkeit schlummern heftiges Begehren, „unzüchtige“ Gedanken und schließlich auch Handlungen.
Der Vater von Margaret, ein bigotter Prediger für Moral und Anstand, kann seinen eigenen Gelüsten nicht wiederstehen.
So spitzt sich die Geschichte zu einem Drama zu. Das Gebäude wankt, denn auch Margarets Mutter wird von ihren „verbotenen“ Sehnsüchten eingeholt.

Mit feiner Beobachtungsgabe beschreibt Jane Gardam die Geschichte einer kleinen und befangenen Gruppe von Menschen, die sich in ihrer eigenen Gedankenwelt bewegen und sich in verborgenen Fantasien verfangen.

Viele Jahre vergehen bis zum Ende der Geschichte, bei dem herauskommt, wie das Leben für alle weiterging. Zuweilen sind die Figuren in ihren Beziehungen untereinander und die Zeitsprünge etwas verwirrend, in denen sich die die Handlung bewegt. Alles in Allem ist der Roman eine anregende Lektüre.

Die begabte und erst spät zu Ruhm gelangte Schriftstellerin Jane Gardam ist mit ihrer Trilogie von „Old Filth“ zu Weltruhm gelangt. Ihre nachgereichten früheren Romane kommen an diese ausnehmenden Werke nicht heran.

Jane Gardam
Hanser Berlin, April 2022
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446272283
ISBN-13: 978-3446272286
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Christa Hein: Die Frau am Strand

Christa Hein: Die Frau am Strand

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Christa Hein hat ein gewaltiges Familienopus geschrieben.

Liz, ihre Heldin, bekommt eines Tages Besuch von ihrer Nichte, die lange verschollen war. Sie sieht ziemlich verwildert aus und ist froh, bei der Tante einen Unterschlupf zu finden. Eine Weile nistet sie sich bei der Tante ein, und Liz kommt mit der Zeit ins Erzählen. Inese interessiert sich sehr für die Familiengeschichte.

Bei dieser Gelegenheit fallen Liz eine Reihe von Gegenstände aus dem Familienbesitz ein, die alle eine Geschichte haben. Auch hat sie sorgfältig Notizen ihrer Großmutter aufgehoben, aus denen man die Familiengeschichte rekonstruieren kann.

Liz ist Schriftstellerin und setzt sich hin, um alles aufzuschreiben. Beim Schreiben vertieft sie sich ganz in die alten Geschichten. Auf diese Weise entsteht ein Familienporträt von ungeheurer Weite. Beginnend Ende des 19. Jahrhunderts umfassen die Erinnerungen Städte und ferne Kontinente ebenso wie fantastische Landeroberungen und abenteuerliches Leben. Liz geht einzelne Episoden an und fängt bei Urahnen und Ahnen an. Dadurch bleibt man ganz bei den einzelnen Lebensphasen der diversen Urgroßeltern und Großeltern.

Die Urgroßeltern gingen nach Amerika und machten Land urbar. Sie starben früh und ließen ihre beiden Kinder Annie und Fred als Waisen zurück. Die beiden schlagen sich wacker durch, werden aber durch die Geschicke getrennt. Während Annie, die Großmutter von Liz, in Europa ihr Glück findet, zieht es Fred zur Seefahrt, und die Geschwister verlieren sich aus den Augen.

Christa Hein hat die Zeiten mit ihren wechselnden Landschaften und Lebensumständen wunderbar getroffen. Annie liebt die Kunst und malt selber gerne. Sie wird bei einer entfernten Verwandten zu einem geordneten Leben erzogen und macht eine erstaunliche Karriere. Schließlich findet sie einen netten Mann und beginnt ein eigenes Leben.

In der Erzählung geht es von Sylt nach Amerika und dann zurück nach Fehmarn, weiter nach Hamburg, Berlin, Gibraltar, Portugal und so fort. Der Erste Weltkrieg zwingt dem Großelternpaar ganz neue Wege auf.
Das Meer mit seinen besonderen Reizen spielt keine geringe Rolle in dem ganzen Geschehen. Auch die Malerei hat einen herausragenden Stellenwert.

Insgesamt umfasst die Geschichte fast ein Jahrhundert. Christa Heim hat jedem Zeitalter den ganz eigenen Charakter zuerkannt: Farmerleben in Amerika, in Deutschland der Erste Weltkrieg, Inflation und zwanziger Jahre bis hin zu Nazideutschland und die Zeit danach.

Zwischen Fabulierkunst und fast autobiographisch anmutenden Zeilen entwickelt die Autorin ihr Zeitgemälde. Fiktion und Wahrheit scheinen dicht beieinander zu liegen.
Zuletzt sind die Verbindungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern fast nicht mehr überschaubar.

Der Roman ist kein literarisches Meisterwerk.
Ich würde diesen Schmöker für lange Urlaube oder regenreiche Sonntage empfehlen.

Christa Hein
Die Frau am Strand
Frankfurter Verlagsanstalt, März 2022
576 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3627002954
ISBN-13: 978-3627002954
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Julia Schoch: Das Vorkommnis

Julia Schoch: Das Vorkommnis

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Die Geschichte einer namenlosen Frau beginnt überraschend: es handelt sich um eine Schriftstellerin, die im Kulturzentrum einer Norddeutschen Stadt aus einem neuen Buch liest.
Während sie nach der Lesung Bücher signiert, spricht eine fremde Frau sie mit den Worten an: “wir haben übrigens den gleichen Vater.“ Sie springt auf und umarmt diese.

Was ist nur los mit ihr?

In der Folge erfährt man, wie sie lebt, was sie gerade tut, und wie es ihr geht.
Sie hat zwei kleine Kinder und einen Ehemann. Lesungen und Literaturaufträge führen sie bis nach Amerika.

In langen Reflexionen, die wie Träume daherkommen, erinnert sie sich an ihre Kindheit und ihre Eltern. Das Geheimnis um eine unbekannte Schwester treibt sie um. Als habe sie es immer schon geahnt, dass es ein Familiengeheimnis gibt!

Julia Schoch schreibt über eine Begebenheit, die in ihren Dimensionen immer weitere Blüten in der Fantasie ihrer Heldin treibt. Es geht um unerwünschte Schwangerschaften, Eheleben, Veränderungen und auch um das Leben in der DDR.

In langen Passagen wendet die Protagonistin ihre Zweifel über das, was wirklich ist und was nur Fantasie, immer intensiver hin und her. Sie wird ihren eigenen Einschätzungen gegenüber misstrauisch. Ihr Mann, ein unkomplizierter Typ, tut ihre Infragestellungen ab, er kann sie nicht verstehen.

Julia Schoch hat ein sehr reflektiertes Werk verfasst. Der Leser:in folgt dem Wahn der Icherzählerin, alles und jedes zu hinterfragen und gerät selber ins Grübeln. Leider vergiftet die Selbstbefragung nach und das Denken der Erzählerin, deren als Biographie bezeichnetes Leben sich vor uns abspielt. Sie wirkt dadurch der Gegenwart entrückt und in großer Distanz zu ihren Kindern, ihrer Mutter und auch ihrem Mann. Das Geheimnis um die fremde Frau lüftet sich, und ja, es gibt Dinge in Familien, die wir nicht wissen. Dass sie jedoch eine Art Unwirklichkeitsgefühle im Menschen auslösen mögen, mag sein. Insgesamt aber sind existenzielle Fragen nach den Veränderungen im Wesen, Verhalten und Aussehen natürlich und folgerichtig. Auch gibt es keine Statik zwischen Menschen. Von der Kindheit bis ins hohe Alter verändern sich Denken, Verhalten, Aussehen und die Ansichten. Julia Schoch ist es gelungen, mit psychologischem Feingefühl diesen Fragen nachzugehen.

Insofern ist die Geschichte gut konzipiert und durchaus realitätsnah. Wie zu lesen war, soll die „Biographie einer Frau“ noch Fortsetzungen erfahren. Wir dürfen neugierig bleiben!

Julia Schoch ist in der DDR geboren und aufgewachsen. Sie lebt in Potsdam und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

Julia Schoch
Das Vorkommnis
dtv Verlagsgesellschaf, Februar 2022
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 423290218
ISBN-13: 978-3423290210
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Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

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Dieser Titel von Gianfranco Calligarich ist schon 1973 zum ersten Mal erschienen und wurde im Januar 2022 mit großem Erfolg neu aufgelegt.

Held dieser Geschichte ist Leo Gazzarra.
Er ist buchstäblich ein Müßiggänger, der sein Leben zu genießen weiß.
Er kam aus Mailand in die große Stadt Rom, wo er Freunde, einen kleinen Job und Unterkunft fand.
Mit seinen Einkünften ist es nicht weit her. Hier und da leiht er sich etwas, vor allem aber findet man ihn auf Partys und in den einschlägigen Kreisen, wo man trefflich zu feiern weiß.
So weitet sich der Bekanntenkreis. Allmählich wächst er in eine Clique hinein, in der viel getrunken und gefeiert wird.

In hinreißenden Bildern schildert der Autor das süße Leben zu Beginn der siebziger Jahre in Rom. Sein Protagonist ist Journalist und hat eine feine Beobachtungsgabe, mit der er Einzelheiten des Lebens, der Stadt mit ihren Kunstwerken und des eigenen Wohlergehens beschreiben kann.

Arianna wird die große Liebe seines Lebens. Doch das Spiel, das in seinem neuen Bekannten-und Freundeskreis gespielt wird, ist auch ein tödliches Spiel. Arianna ist eine exzentrische Person, deren Launen Leo bald verzweifeln lassen.

G. Calligarich kann mit seiner ausgezeichneten Wortgewandtheit die Feinheiten der Atmosphäre im Rom der siebziger Jahre hautnah schildern. Die Sommer sind heiß, und die Treffen der Freunde zeugen von einem Leben im Müßiggang und Langeweile. Die Stadtbeschreibungen und Wiedergabe von Stimmungen sind treffend und zeugen von Einfühlungsvermögen. Sie stehen ganz im Gegensatz zu den ausufernden Trinkereien. Denn der Alkoholkonsum nimmt zu, und man lebt von einem Tag auf den anderen. La Dolce Vita ist angesagt. Architekten, Künstler, Filmschaffende und erfolgreiche Geschäftsleute bilden den Kern der Gemeinschaft. Leo arbeitet mit wenig Erfolg für eine Sportzeitung. Durch die richtigen Verbindungen sucht er gelegentlich nach neuen Betätigungsfeldern. Er ist ein sensibler, nachdenklicher und literarisch gebildeter Mensch. Der Alkoholkonsum bringt mehr als einen der Protagonisten zum Scheitern. Auch Leo verfällt mehr und mehr dem Alkohol. Letztlich zeigt sich ein morbides Gebilde der Gesellschaft, denn richtig froh ist niemand. Von Gefühlen der Wehmut und Melancholie befallen kann Leo seinem Schicksal nicht entgehen.

Der Leser wird mitgerissen von einem Erzählstil, der realistisch und einfühlsam einen Sommer in der Stadt vermittelt. Auf dem Klappentext heißt es „Ein Roman für alle, die Philip Roth und Jonathan Franzen lieben.“ Dem kann ich mich nur anschließen.

Gianfranco Calligarich
Der letzte Sommer in der Stadt
Paul Zsolnay Verlag, 3. Edition, Januar 2022
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552072756
ISBN-13: 978-3552072756
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Jessica Durlacher: Die Tochter

Jessica Durlacher: Die Tochter

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Jüngste europäische Geschichte in einem an Spannungen reichen Roman.

Im Hause der Erinnerung an Anne Frank in Amsterdam, der im Krieg von den Deutschen zuerst ins KZ verbrachten und dann getöteten holländischen jungen Jüdin, begegnen sich eines Tages Sabine und Max. Er begleitet seine jüdische Familie zur Besichtigung, und Sabine arbeitet gelegentlich hier.

Es wird viel über Gefühle nachgedacht und die widerstreitenden Gedanken, die einen jeden in diesem Haus befallen. Die ganz schreckliche Nazivergangenheit mit ihrem unendlichen Leid, das sie über die Menschen und insbesondere über die jüdischen Menschen gebracht hat, wird in diesem Besuchen lebendig. Sabine nennt es „schaurig“, und dass das für immer in diesem Hause bleibt.

Warum Sabine so penetrant ein Gespräch mit Max sucht, wird erst allmählich klar.

In leicht mokanten Worten bis geheimen Widerwillen ersteht die Vergangenheit in Max.

Aus Amerika sind Onkel und Tante gekommen. Max ist sehr ambivalent in seinen Gefühlen allen gegenüber. Ob jüdischer Vater oder Mutter: er hat ein feines Gespür für die unterschwelligen Strömungen im Wesen und Gebaren seiner Eltern.

Nach längerer Vorgeschichte mit Einzelheiten aus ihrer beider Leben entflammt zwischen Max und Sabine eine heftige Liebe.

Jessica Durchlacher entwickelt daraufhin ein umfangreiches Panorama menschlichen Verhaltens und des Leids, das Menschen einander zufügen können: Geheimnisse, Misstrauen, Verrat, Liebe und Vertrauen wechseln in ihren Verknüpfung mit den Schicksalen.

Die Autorin hat ein ausgezeichnetes Repertoire an Fantasie und Worten, menschliche Tragödien aufzuzeigen, die in ihren Verstrickungen der Realität nahekommen. Der Bogen der Spannung wird weit gezogen. Juden/ Jüdinnen und holländische Kollaboration werden zum Thema. Lügen in den Familien sind bestimmt von dem Wunsch, die Vergangenheit zu vertuschen oder zu vergessen.

Begegnungen führen von Amsterdam nach Los Angeles und Jerusalem. Die Liebe der zwei Hauptprotagonisten wird immer wieder zerstört, weil sich Sabine in letzter Konsequenz allen Bindungen entzieht.

So vergehen Jahre, bis die Geschichte einem Höhepunkt entgegengeht.

Jessica Durchlacher nimmt Geschehnisse der jüngsten europäischen Geschichte zum Thema. Atmosphärisch dicht und realitätsnah erlebt man gewisse Intellektuelle in Europa und Amerika in ihrem Umfeld, um dem Kern in der Erzählung näherzukommen. Es rührt an das Mitgefühl des Lesers/ Leserin, wenn wieder einmal deutlich wird, wie verführbar der Mensch zum Bösen sein kann, und wie katastrophal das ganze Leben als Folge von Unmenschlichkeit bestimmt bleiben mag.

Bis zur letzten Minute bleibt die Geschichte spannend und anrührend. Eine volle Empfehlung von mir für ein Buch, dass bereits 2003 zum ersten Mal erschienen ist.

Jessica Durlacher
Die Tochter
Diogenes Verlag, 10. Auflage, Februar 2003
336 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3257233515
ISBN-13: 978-3257233513
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Annika Büsing: Nordstadt

Annika Büsing: Nordstadt

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Der vorliegende Roman von Annika Büsing glänzt durch eine kurze, lakonische Sprache, die zuweilen sehr witzig wirkt.Erzählt wird die Geschichte von Nene. Sie lebt im Norden einer Stadt im Ruhrgbeiet. Herkömmlich sind die Nordstädte die ärmeren Teile einer Stadt. Dort geht es nicht so gesittet zu wie etwa im Süden.

Nene arbeitet als Bademeisterin. Im Schwimmbad lebt sie ihr Leben, kennt die Menschen, knüpft Beziehungen an und ist dort ganz zu Hause.
Sie erzählt ihre Geschichte in der Ichform. Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er humpelt und hat so schöne „Pumaaugen“ und vom Wasser verklebte Wimpern. Nene mag ihn.

Es ereignet sich nicht viel. Umso eindrucksvoller sind die Erlebnisse und die kleinen Erinnerungsfetzen an und Hinweise auf ihren Vater, der bei jeder Gelegenheit prügelte.

Die Protagonistin hat eine umwerfend komische, nüchterne und sehr ehrliche Sprechweise. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und denkt schnell und logisch. Mit Boris lässt es sich für sie schwer an. Ihre stakkatoartigen Sätze enthalten Gedanken und Überlegungen, die sich mit ihren Mitmenschen beschäftigen. Boris ist stolz, und zuweilen lügt er sie an. Bis sie herausfindet, wie er lebt und denkt, dauert es einige Zeit.

Die Art und Weise, in der Annika Büsing ihr Thema angeht, ist reizvoll. Immer wieder bleiben Fragen offen. Der Leser muss sich gedulden, um mehr über Hintergründe der Beziehung zwischen Nene und Boris herauszufinden. Nene wird von ihr so geschildert, dass man tiefe Einblicke in das Seelenleben ihrer Protagonistin bekommt. Sie ist rau, insgeheim zärtlich und liebevoll, dabei brüsk in ihren Äußerungen, und häufig fühlt sie sich einsam. Außerdem ist sie anhänglich und empfindsam. Auf eine verhaltene Art und Weise hat sie einen aufrechten und klaren Charakter. Es ist die vorsichtige Annäherung, mit der Annika Büsing den Leser*in bestrickt. Unter der äußeren Oberfläche schlummern bei Boris und Nene Traurigkeit, Einsamkeit und Verletzungen aus frühen Kinderjahren. Der feine Sarkasmus und die Schüchternheit ziehen beide zueinander hin. Durch das eigene erfahrene Leid ist das Verständnis für den anderen groß. Da sie gelernt haben, ihre Verletzungen zu verbergen, ist der Weg gegenseitiger Annäherung äußerst zurückhaltend. Boris geht allem aus dem Wege. Nene sucht sich Menschen, denen sie vertrauen kann, und zu denen sie eine Beziehung aufbauen möchte. So ist Nene die treibende Kraft, die sich Boris immer wieder zuwendet.

Es ist eine kurze aber sehr anrührende Geschichte, mit denen sich Annika Büsung in ihrem Debütroman ihrem Lesepublikum vorstellt. Man darf gespannt sein auf weitere Romane von dieser Autorin.

Sie leb mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Bochum.

Annika Büsing
Nordstadt
Steidl, Februar 2022
128 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3969990645
ISBN-13: 978-3969990643
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Mary Lawson: Im letzten Licht des Herbstes

Mary Lawson: Im letzten Licht des Herbstes

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Eine höchst verwickelte Kleinstadtgeschichte bildet den Rahmen zu dem vorliegenden Roman von Mary Lawson.

Clara lebt mit ihren Eltern in Solace, einem kleinen Städtchen in Kanadas Norden.
Sie steht am Fenster und hält nach ihrer Schwester Ausschau. Rosa hat nach einem Streit mit der Mutter das Haus verlassen und ist seit Tagen verschwunden.
Mittlerweile zieht in das Nachbarhaus ein Fremder ein, denn die Besitzerin Mrs. Orchard ist verstorben. Sie hatte schon lange mit ihrem Mann in Solace gewohnt.

So beginnt Mary Lawson ihren Roman, in der es um Liebe, Vertrauen und drei Personen geht, die das Geschehen bestimmen werden.
Es sind die siebenjährige Clara, Mrs. Orchard und Liam, der eine bestimmende Rolle spielt.
In gewisser Weise sind alle miteinander verknüpft in ihren Beziehungen.

Mrs. Orchard glaubte in ihrer vor langer Zeit neu zugezogenen Nachbarin Annette eine Freundin zu finden. Während Mrs.Orchard keine Kinder bekommen konnte, hatte Annette gleich drei Kinder. Mrs. Orchard merkte bald, dass sich Annette von den Kindern überfordert fühlte und nahm ihr immer häufiger den Sohn Liam ab. Sachte und vorsichtig zog sie Liam in ihr Haus und entwickelt eine innige Beziehung zu ihm.

Liam will dann plötzlich nicht mehr nach Hause, und sein Verhalten führt zu einem großen Eklat, deren Folgen auch Mrs. Orchard zu spüren bekommt. Annette zieht kurz darauf mit ihren inzwischen fünf Kindern und Ehemann fort.

Als Liam schon über dreißig Jahre alt ist, erbt er unerwartet nach dem Tod von Mrs. Orchard ihr Haus. Er wird der Nachbar von Clara und ihrer Familie. An Mrs. Orchard kann er sich nur schwer erinnern, da er vier Jahre alt war, als es zu dem Eklat und Wegzug seiner Familie kam. Sein Leben ist in diesem Moment nach seiner kürzlich erfolgten letzten Scheidung aus den Fugen geraten. Das geerbte Haus will er möglichst bald verkaufen.

Alle diese Alltäglichkeiten werden in belebten Gesprächen und Erinnerungen geschildert.
Mary Lawson spürt den einzelnen Schicksalen nach. Die versteht es vorzüglich, die Verwicklungen kompliziert zu gestalten. Gelegentlich führt das zur Ermüdung beim Lesen. Man muss sich mächtig anstrengen, um auch den Zeitsprüngen in der Erzählung zu folgen. Insgesamt aber hat sie eine psychologisch nachfühlbare Geschichte ersonnen. Der in seiner Kindheit ungeliebte Liam bleibt nach den Aussagen seiner Ehefrau beziehungs-und liebesunfähig. Mrs. Orchard ist als warmherzige Frau der Verführung einer kindlichen Liebe ausgeliefert, so dass sie schließlich selber Liam als ihr Kind ansieht.

Clara ist später das Verbindungsglied in diesem Beziehungschaos, und ihre verschwundene Schwester bildet den kriminellen Hintergrund, der die Spannung steigern soll. Vielleicht ein bisschen viel der Zufälle!

Ob Mary Lawson ihrer Schriftstellerkollegin Elizabeth Strout nacheifern will? Das ist ihr nicht ganz gelungen.
Der Roman bietet dennoch anregende Unterhaltung!

Mary Lawson lebt in Kanada und gilt als angesehene Autorin.

Mary Lawson
Im letzten Licht des Herbstes
Heyne Verlag, August 2021
352 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3453273575
ISBN-13: 978-3453273573
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