1.Kapitel: Das geheimnisvolle Zimmer

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Der geheimnisvolle Zimmer​

Der November begann mit seinen tristen Tagen. Durch die Ritzen der morschen Bretter des Waldhauses pfiff der Wind.
Vanessa, die mit ihrem Bruder Tom und ihrer heimlichen Liebe Vinc an einem Tisch saß, zog ihre Jacke, die halb über die Schulter gerutscht war, wieder hoch und knöpfte sie bis oben hin zu. Es fröstelte sie. Mit bibbernder Stimme sagte sie: „Schön wäre es, wenn wir hier einen Kamin hätten. Ich glaube, wir sollten unsere Sitzungen wo anders abhalten, wo es wärmer ist.“
Die drei Kinder, die auf dieselbe Schule gingen, hatten vor längerer Zeit einen Zauberklub gegründet. Sie fanden einst drei Gegenstände in diesem Haus, die wie Zauberstäbe aussahen. Allerdings wussten sie bis heute nicht, wer sie da hinlegte. Als sie die Stäbe in den Händen hielten, reifte in ihnen das Vorhaben, diesen Zauberklub zu gründen. Vielleicht hatte sie auch ein Film inspiriert, den sie einmal im Kino sahen.
Sie bekamen dieses alte Waldhaus für ihre Sitzungen zur Verfügung gestellt, mit der Bedingung, es Instand zu halten. Sie bemühten sich, dieser Forderung der Stadtväter nachzukommen, aber sehr bald bemerkten sie, dass es wohl ohne größere Ausgaben nicht möglich war. Der Zahn der Zeit nagte immer mehr an diesem legendären Haus, in dem der Sage nach ein Räuber mit Namen Leichtweiß gehaust haben soll. Aber da dieser nicht über die Grenze von Woods, das Städtchen, in dem die drei Freunde wohnten, hinaus bekannt war, hatte auch der Gemeinderat kein Interesse an dem Erhalt des Hauses.
„Die wollen das Haus sowieso abreißen. Also, was bleibt uns sonst übrig, als etwas wo anders zu suchen“, sagte der korpulente Tom etwas undeutlich, denn er stopfte wieder einmal etwas Essbares in sich hinein. Diesmal aber nicht seine geliebten Süßigkeiten, sondern einen Apfel. Der Grund war nicht sein Gesundheitsbewusstsein, eher ein Mädchen aus der Klasse, in die Vanessa ging. Sie war wie Vanessa auch ein Jahr älter, aber das war Tom egal. Schließlich gab es zwischen seiner Schwester und Vinc auch diesen Altersunterschied. So entschied sich Tom für den Apfel und der Gewichtsreduzierung.
„Du findest dich damit ab? Einfach so? Kapierst du denn nicht? Unser Waldhaus soll abgerissen werden“, wetterte Vinc. Es war ihm so richtig an die Nieren gegangen, als er davon hörte.
Tom biss kräftig in den Apfel und sagte undeutlich: „Na und? Dann tagen wir bei uns oder bei dir.“
„Das ist nicht das Gleiche. Da fehlt die Atmosphäre. Die Kerze hier auf dem Tisch mit ihrem flackernden Schein erhellt den Raum nur gering und schafft dadurch das Unheimliche“, sagte Vinc und deutete auf die tanzenden Schatten an der Wand.
„Na und, dann stellen wir in unser Zimmer auch eine Kerze“, sagte Tom und legte den Rest des Apfels auf den Tisch.
„Mann, du kapierst aber auch gar nix. Das Waldhaus bietet uns Freiheit. Weg von den Eltern. Hier können wir tun und lassen, was wir wollen. Hier werden wir in Ruhe gelassen. Kurz: Es ist ein Teil von uns.“ Vinc hatte sich in sein Reden gesteigert. Er konnte sich nicht damit abfinden, dieses Haus zu verlieren, damit einen Teil der Unabhängigkeit den Erwachsenen gegenüber. Er fuhr fort: „Also mir vermiest es die Stimmung, wenn ich einen Zauberstab in den Händen halte und abrakadabra sage und dabei auf meinen Computer schaue. Da fehlt einfach die Lust.“
„Also mal ehrlich: Das mit unserem Zauberklub wird allmählich kindisch. Bisher konnten wir soviel Sprüche sagen wie wir wollten, nichts geschah“, sagte Tom und handelte sich einen zornigen Blick von Vinc ein.
Vinc Stimme zeugte immer noch von Ärger, als er sagte:„Es zählt doch nicht der Erfolg. Was zählt, ist dass wir einen Klub haben. Oder gefällt es dir besser, einen wie Jim zu haben? Der sich Klub der Gerechten nennt? Wir beide wissen doch, was für Fieslinge die Mitglieder sind. Und außerdem, wieso kindisch?“
„Was denkst du, warum der den Apfel isst? Der hat sich in Liane vergafft, eine meiner Mitschülerinnen. Nun versucht er abzunehmen. Bei dem schießen die Hormone in den Kopf. Und alles ist seitdem in seinen Augen kindisch. Hält sich für einen Erwachsenen. Aber irgendwann wird Brüderchen wieder normal.“
Tom sah zu dem angebissenen Apfel, dann zu Vanessa und anschließend zu Vinc: „Ich bin voll auf dem Gesundheitstrip. Liane? Wer ist Liane?“ Ihm war es peinlich, mit ihr in einen Zusammenhang gebracht zu werden.
Vanessa zwinkerte Vinc zu: „Sie hat allerdings schon einen Verehrer. Die gehen schon seit einem Jahr zusammen.“
Tom stand auf, nahm den Rest des Apfels vom Tisch und ging wortlos zur Tür, öffnete sie und warf ihn hinaus. Dann setzte er sich zurück an den Tisch und stützte seinen Kopf in beide Hände.
Vanessa streichelte ihm über sein Haupt: „Ich weiß, ich hätte es dir schonender sagen sollen, aber besser jetzt, als überhaupt nicht. Musst nicht traurig sein.“
Tom sah zu ihr auf und meinte mit einem spitzbübischen Lächeln: „Traurig wegen einem Mädchen, das ich nicht kenne? Nee. Ich bin nur traurig, dass ich nix Gescheites zum Knabbern habe.“
Sie kannten Tom und sie wussten, dass er dies nur sagte, um seine miese Stimmung nicht zu offenbaren. Aber trotzdem mussten sie lachen.
„Wir müssen um unser Haus kämpfen. Wir dürfen unseren Zauberklub nicht aufgeben. Ihr wollt, dass es nicht mehr durch die Bretter zieht? Du, Vanessa, möchtest einen Kamin? Bitte sehr.“ Tom nahm den Stab, der vor ihm auf dem Tisch lag, stellte sich auf die Bank, die davor stand, richtete ihn auf eine Wand, in der die Ritzen zwischen den Brettern besonders breit waren und sagte: „Der Zauberei ich fähig bin, zu zaubern habe ich im Sinn. Du Geist, der du bist in diesem Stab, einen Auftrag ich für dich hab: Schließe die Ritzen dieser Wand. Samsasaleidun, diesen Zauber befehle ich nun.“
Vinc zog Tom zu sich herunter und sagte: „Also gut. Du wolltest damit beweisen, dass du doch noch zu uns gehörst und es als nicht kindisch empfindest. Aber nun lass es und setz dich wieder. Klar, unser Spruch zaubert zwar nicht, aber es ist doch schön, diesen Klub zu haben.“
„Denken wir lieber nach, wie wir unser Waldhaus retten können“, meinte Vanessa.
„Vielleicht durch spenden. Klar, wir starten eine Spendenaktion. Wir gehen von Haus zu Haus mit dem Motto: Rettet das Waldhaus“, schlug Tom vor.
Vinc schüttelte den Kopf: „Das wird nichts bringen. Wer gibt schon etwas für einen so alten Schuppen. Nee, da muss uns was anderes einfallen.“ Er schaute auf die Uhr und sprang auf: „Wow, schon so spät? Mensch, da muss ich machen, dass ich heim komme. Wir können uns ja morgen wieder hier treffen.“
„Morgen hat doch Jim mit seinem Bund der Gerechten das Waldhaus zur Verfügung“, sagte Vanessa.
Sie hatten mit Jim, dem Vorsitzenden dieses Klubs, eine Vereinbarung getroffen, dass auch sie dieses Waldhaus benutzen könnten. Es war eher unfreiwillig zustande gekommen, denn der fiese Jim hatte ihnen gedroht, das Leben zur Hölle zu machen, wenn sie es nicht gestatten würden. Zwar war die Bedingung, dass auch er mit seinen Mannen etwas zum Erhalt des Hauses beitragen sollte, aber es wäre nicht der fiese Jim, wenn er die Vereinbarung einhalten würde. So benutzte er und seine Anhänger diesen Treffpunkt, aber ohne etwas zur Pflege beizutragen.
Da Vanessa und ihr Bruder auch Vorgaben hatten wann sie abends zu hause sein mussten, eilten sie ebenfalls mit Vinc zur Tür.
Als sie sie öffneten, kam ihnen Nebelschwaden entgegen. Vor ihnen hatte sich, trotz der Dunkelheit, ein Rabe an dem Rest von Toms Apfel zu schaffen gemacht und flog bei ihrem Erscheinen kreischend davon.
„Buh“, sagte Vanessa und schüttelte sich dabei, „der Nebel macht die Luft noch kälter.“
„Nicht nur kälter, auch unheimlicher“, stellte Tom fest und erzeugte ein Frösteln mehr auf Vanessas Haut.
„Kannst du nicht die Klappe halten? Reicht schon, wenn der Nebel da ist. Musst nicht gleich was Mysteriöses hinein spinnen.“
„Habe doch nur gesagt, es ist unheimlich. Was ist da dabei? Ist doch nichts Mysteriöses“, rechtfertigte sich Tom.
Vinc bekam von dem Gespräch der beiden nichts mit, denn er hörte kaum noch hin wenn sie sich kapelten. Es war schon eine Angewohnheit von ihnen sich wegen Kleinigkeiten auseinanderzusetzen. Es war kein Streit, eher eine Rivalität wegen dem, wer das Sagen hat. Sie als ältere Schwester oder er als Junge.
Der Nebel war dichter geworden und bot Vinc nur noch kurze Sicht, so dass er erst die Umrisse der Stämme von den riesigen Laubbäumen erkannte, als er fast unmittelbar vor ihnen stand. Doch das, was er erhofft hatte zu sehen, erblickte er nicht. Nur den dicken Stamm der alten Eiche, an den sie ihre Räder gelehnt hatten. Ihre Drahtesel waren weg.
Inzwischen waren auch Vanessa und Tom an dieser Stelle angekommen.
Tom ging näher an den Stamm und betastete ihn, als erhoffte er die Räder zu fühlen. „Die hat einer geklaut.“
Irgendwo in der Nähe hörten sie den Ruf einer Eule. Dieser harmlose Nachtvogel klang in ihren Ohren angesichts der Finsternis und dem dichten Nebel, zum Fürchten.
„Fehlt nur noch der Hund von Baskerville“, meinte Tom. Sherlok Holmes war seine Lieblingslektüre.
In der Ferne hörten sie das Heulen eines Hundes.
Unter dem Einfluss dieses Gejaules schimpfte Vinc: „Nun halt mal wirklich die Klappe. Schließlich ist ein Mädchen bei uns.“ Er sagte es nicht nur wegen Vanessa, sondern auch, um sich selbst zu beruhigen. Das Fehlen der Räder und auch die unheimlichen Geräusche im Nebel ließen seine Nerven nicht gerade ruhig sein. Sie bekamen ein leichtes Vibrieren.
Trotz intensiver Suche fanden sie ihre Räder nicht. So entschlossen sie sich, ohne sie nach hause zu gehen und am nächsten Tag bei Helligkeit noch einmal nach ihnen zu schauen.
„Wir müssen dicht zusammen bleiben. Wenn wir den Waldweg entlang gehen, kommen wir in der Nähe beim Stadtpark an“, schlug Vinc vor.
Vanessas Stimme vibrierte ein wenig, als sie fragte: „In welche Richtung müssen wir denn? Hier kreuzen sich vier Wege.“
„Hmm“, überlegte Vinc, „so genau weiß ich es im Moment auch nicht.“ Da sie noch an der alten Eiche standen, schlug er vor: „Wenn wir zurück zum Eingang gehen, kann ich es genauer sagen. Wir sind noch nie zu Fuß hierher gekommen, sondern stets mit den Rädern.“
Sie gingen in die Richtung, in der sie das Haus vermuteten. Doch nach kurzer Zeit blieb Vinc stehen und sagte zu seinen Freunden, die ebenfalls ihrem Schritt Einhalt geboten: „Wir müssten längst bei dem Haus angekommen sein. Wir müssen wieder zu dem Ausgangspunkt zurück.“
Sie zuckten zusammen. Über ihnen kreischte ein Rabe, darauf folgte das Bellen eines Hundes.
„Habt ihr das gehört?“, fragte Vanessa mit ängstlicher Stimme.
„Was?“, fragte Vinc.
„Das Knacken im Gehölz. Als würde jemand auf Äste treten“, antwortete Vanessa und sah sich ängstlich um.
Vinc horchte angestrengt in die Nebelschwaden: „Außer dem Gejaule dieses Hundes höre ich nichts.“
Auch Tom bestätigte Vinc Aussage: „Nee, ich auch nicht. Ich höre nur den bestialischen Hund von...“
„Wenn du mit deinem dämlichen Hund nicht aufhörst, klebe ich dir eine“, unterbrach ihn Vanessa. Tom tat gut daran, weitere Äußerungen in Hinsicht auf das Scheusal aus seinem Lieblingsroman zu unterlassen, denn er kannte Vanessas warnende Stimme zu genau, um nicht zu wissen, dass er kurz vor einer Backschelle stand.
„Vanessa hat Recht. Ist schon unheimlich genug. Aber wir müssen weiter“, sagte Vinc. Er ging an einen der Bäume und tastete ringsum den Stamm ab.
Tom, der neben ihm stand und sein Tun beobachtete, meinte: „Suchst du immer noch die Räder oder streichelst du diesen Baum?“
Vinc ließ sich nicht beirren, sondern fühlte an einem weiteren, in der Nähe stehenden. „Vom Pfadfinderdasein hast du wohl keine Ahnung?“
„Du warst bei den Pfadfindern?“, fragte Tom zweifelnd.
„Ja. Kurz bevor ich zur Schule kam. Da hat man uns folgendes beigebracht: Im Wald kann man an den Rinden der Bäume sehen, wo Norden ist. Der Teil der Baumrinde, der nach Norden weist, ist meist mit Moos bewachsen. Das liegt daran, dass kein Licht, also Sonne, an diesen Teil der Baumrinde kommt.“
„Wow. Und, hast du schon was ertastet?“, fragte Tom bewundernd.
„Ja. Wir müssen in die Richtung laufen, in der das Moos an den Stämmen ist. Also nach Norden“, erklärte Vinc, um gleich zu fragen: „Wo ist Vanessa?“
Erst jetzt bemerkten sie das Fehlen des Mädchens.
„Vanessa!“, rief Vinc erregt. Er bekam keine Antwort. Auch Tom versuchte durch lautes Schreien Vanessa zu finden.
Vinc erschrak, als er neben sich eine Stimme hörte: „Was schreit ihr denn so?“ Vanessa war aus dem Nebel an seine Seite getreten.
„Kannst du denn nicht antworten? Blöde Henne.“ Tom war dieses Schimpfwort nur aus Sorge um Vanessa und anschließender Erleichterung, als sie wieder auftauchte, herausgerutscht. Er murmelte auch so etwas wie eine Entschuldigung. Aber es blieb bei undeutlichen Worten, denn eine Entschuldigung zu einem fremden Mädchen brachte er leicht und gern hervor, aber ungern seiner Schwester gegenüber. Denn seiner Ansicht nach war seine Schwester nur seine Schwester und kein Mädchen.
„Tom hat recht“, sagte Vinc und fügte hinzu, als er Vanessas bösen Blick sah, „natürlich nicht wegen der Henne, sondern du hättest antworten sollen.“
Vanessa sah verlegen auf die Erde: „Da hatte ich noch nicht meine“, sie deutete mit dem Zeigefinger nach unten, „weißt schon.“ Als sie Vinc Kopf schütteln sah, sagte sie etwas errötend: „Du bist aber schwer von Begriff. Ich musste mal. Hätte ich geantwortet, dann wärt ihr doch gleich gerannt gekommen. Ich hatte doch noch...“
Vinc erblickte noch einmal den weisenden Finger: „Schon klar.“ Wenn es einen Wettbewerb gegeben hätte, wer roter im Gesicht werden konnte, hätte es wohl zwischen beiden ein Stechen um den ersten Platz geben müssen.
„Wir müssen weiter. Also kommt!“, befahl Vinc hastig.
Die Stämme abtastend gingen sie vorsichtig in die vom Moos bestimmende Richtung. Es wurde ihnen unheimlicher, je mehr die Zeit verstrich.
„Da! Hört ihr?“, fragte Vanessa und fasste unbewusst Vinc Hand. „Der Hund!“
Vinc erkannte, wie sie vor Angst seine Hand noch fester drückte und er bemerkte ein leichtes Vibrieren ihres Armes.
„Was ist mit dem Hund? Der jault doch nur“, versuchte Vinc sie zu beruhigen.
„Ja, aber ganz nah“, Vanessa kam ängstlich dicht an Vinc Körper, als suchte sie Schutz bei ihm. Auch Tom suchte seine Nähe. Hatte er noch vor kurzem spöttische Bemerkungen über den Hund im Roman gemacht, bedauerte er es inzwischen, denn der Hund im Krimi hatte die Opfer zerfleischt. Tom wusste, dass seine Romane im Grunde nicht für Jugendliche in seinem Alter geeignet waren, aber er sah bei Sherlock Holmes eine Ausnahme. Er liebte seine Kombinationsgabe und seinen Scharfsinn. Wenn er ihn doch auch hätte!
Plötzlich war eine ungewohnte Stille. Sie blieben stehen und lauschten in alle Richtungen. Kein Laut drang durch den Nebel, der gewöhnlich die Geräusche besonders klar übertrug.
Nicht nur die Furcht ließ Vanessas Stimme bibbern, sondern auch die Kälte, die zu der nächtlichen Stunde angezogen hatte, als sie sagte: „Ich habe das Gefühl, als wäre jemand neben uns.“
Der Dunst war noch dichter geworden und zog mit seiner Feuchtigkeit in ihre Kleidung und machte sie klamm.
Vinc schaute auf seine Armbanduhr und stellte fest: „Mann, ist schon Mitternacht. Das gibt ein ganz schönes Theater daheim.“
„Hey, musste auch noch das erwähnen? Reicht, wenn ich erst einmal hier Angst habe. Da musste mich nicht noch an das Donnerwetter der Eltern erinnern.“ Tom war anzumerken, dass seine Nerven zur Zeit keine weiteren Aufregungen mehr vertrugen.
Sie wollten weiter gehen. Doch Vanessa hinderte sie mit den Worten daran: „Bleibt mal ganz ruhig stehen.“ Plötzlich rief sie: „Lauft!“
Ohne viel über Vanessas Befehl nachzudenken, rannten sie vorwärts, auch auf die Gefahr hin, gegen etwas zu prallen. Allein dieser laute Ruf des Mädchens ließ sie nicht nur erschrecken, sondern unbewusst um ihr Leben bangen.
Sie hörten ein wildes Gebell.
Tom fiel über irgendetwas und rief um Hilfe.
Sie konnten kaum noch die Hand vor Augen sehen. Vinc stoppte, Vanessa, die immer noch seine Hand hielt, ebenfalls. „Ich kann Tom nicht sehen“, sagte er und lauschte in die Richtung, aus der der Hilferuf kam.
„Tom, wo bist du?“, rief Vanessa besorgt.
„Hier!“
„Wo hier?! Zähle laut, dann können wir deiner Stimme folgen!“, riet Vinc.
Tom zählte, Vinc und Vanessa folgten dem Schall seines Organs. Durch ihre Stimmen wurde das Bellen des Hundes noch heftiger, unterbrochen durch Furcht erregendes Knurren,
Je näher sie der Stimme Toms kamen, desto deutlicher vernahmen sie die zornigen Attacken des Hundes. Es hörte sich an, als läge Tom unmittelbar neben dem Tier. Doch die Nacht und der Nebel konnten auch täuschen, was Geräusche betraf, denn die Schallwellen wurden bei diesen Bedingungen besonders gut übertragen.
Fast wäre Vinc auf dem am Boden liegenden Tom getreten. Er machte ihm auch sogleich den Vorwurf: „Warum hast du aufgehört zu zählen?“, hielt aber sofort in seinem Satz inne, als er unmittelbar neben sich ein deutliches Knurren hörte.
Da erblickten sie ihn. Den Hund. Er hatte aufgehört zu bellen und sah sie mit seinen blutunterlaufenen Augen an. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet und nur noch vereinzelte Schwaden zogen an ihnen vorüber. Sie erwarteten einen Angriff des Tieres.
Sie sahen erstarrt zu dem Hund, der augenscheinlich eine Mischung zwischen einer Bulldogge und Schäferhund war. Vinc wusste um die Gefährlichkeit solcher Tiere.
Was nun?
Tom lag auf der Erde, Vanessa und er standen wie versteinert vor ihm.
Vanessa tat etwas, was die beiden Jungen in Verwunderung versetzte. Sie beugte sich zu Tom hinab und fragte: „Bist du verletzt? Kannst du aufstehen?“
„Pst“, sagte dieser und deutete zu dem Hund.
Vanessa machte eine abwehrende Handbewegung: „Vor dem brauchst du keine Angst zu haben. Aber es ist besser, wir bringen uns in Sicherheit.“
Vinc zog Vanessa hoch und sah sie an: „Was soll das?“
„Der kann uns nichts tun. Sieh doch. Der ist angekettet. Das ist ein Hofhund.“
„Ach, und woher weißt du das?“, Vinc sah jetzt auch das Band um seinen Hals und die Kette, die irgendwo verankert war, doch er traute dem Frieden nicht. „Trotzdem bringen wir uns erst einmal in Sicherheit.“ Dies war leichter gesagt, als getan. Tom hatte Mühe, auf die Beine zu kommen. Er konnte nur auf einem Fuß stehen, denn er musste sich bei seinem Fall den Knöchel verstaucht haben. So stützten beide ihn ab und schleppten ihn einige Meter weiter von dem wieder bellenden Hund weg.
Erschöpft sanken sie auf den Boden, der durch seine Feuchtigkeit nicht gerade zum langen Sitzen einlud.
„Wie kommst du darauf, dass das ein Hofhund ist?“, fragte Vinc Vanessa.
„Als sich die Suppe bisschen verdünnt hatte, da habe ich den Umriss eines Hauses gesehen. Nicht lange, weil die Nebelschwaden es wieder unsichtbar machten.“ Als sollte Vanessas Feststellung untermauert werden, hörten sie das Muhen einer Kuh.
Und da geschah etwas Eigenartiges. Der Nebel verschwand plötzlich und der Mond am Himmel mit seiner vollen Scheibe erhellte das Umfeld. Sie saßen inmitten eines Bauerngehöfts.
Der Hund hatte sich beruhigt, nur in der Ferne hörten sie den Ruf einer Eule. Hatte der Nebel vorher die Umgebung gruselig wirken lassen, so ergab nun die Gegend ein Bild der Idylle. Aber ein zu ruhiges und trügerisches, wie sie bald feststellen mussten.
Der tobende Hund hätte im Grunde die Bewohner aufschrecken müssen und veranlassen, nachzuschauen, wessen Ursache die Erregtheit des Tieres war.
Im Haupthaus des Hofes, das etwas abseits, fast am Rand des von einer Steinmauer umfriedeten Hofes stand, bewegte sich nichts. Auch links, wo sich die Scheune befand, als solche durch das hohe breite Holztor zu erkennen, welches Einfahrt für hoch beladenen Fuhrwerke bot, blieb es ruhig. Ebenso rechts an den Stallungen, als solche wahrnehmbar durch das wiederholte Muhen von Rindern.
„Das ist ein Geisterhof“, sagte Tom und trat wieder einmal in das Fettnäpfchen.
„Fängst du schon wieder an?“, schimpfte Vanessa und stand auf. Sie sah zu Tom hinab und sagte noch verärgert: „Wenn du nicht bald deine grusligen Äußerungen unterlässt, lassen wir dich mit deinem verletzten Bein allein zurück, dann kannst du nach Hause kriechen.“ Sie meinte es zwar nicht so, wie sie es sagte, doch Toms ewige Panikmache ging ihr an die Nerven.
Vinc nickte zur Bestätigung von Vanessas Drohung und sagte: „Sie hat recht. Die Leute scheinen zu schlafen. Vielleicht sind sie auch das Anschlagen des Hundes gewohnt. Viele bellen nachts, wenn sich Tiere in ihrer Umgebung zeigen. Wir gehen zur Haustür und machen uns bemerkbar. Meist sind Bauern gastfreundlich, wenigstens Kindern gegenüber, wenn sie sich verlaufen haben.“ Vinc stockte und fügte hinzu: „Glaube ich wenigstens.“
Wieder Tom stützend gingen sie zu der verzierten Haustür des Hauptgebäudes. Es war ein niedriger Bau mit einem Reetdach, so wie es in den nordischen Breiten an den Küsten üblich war. Die Wände bestanden aus groben Bruchsteinen. Die Fenster, die sich an der Vorderwand befanden, acht an der Zahl, waren nicht besonders groß. Wenn sich ein Erwachsener mit seinem Oberkörper heraus lehnte, blieb um ihn herum kaum noch viel Spielraum.
Bevor sie es wagten, an die Tür zu klopfen, schauten sie durch eines der niedrigen Fenster. Doch so sehr sie sich auch anstrengten, sie erblickten nichts dahinter.
Zögerlich wagte Vinc, an die Tür zu pochen. Erst sachte, als sich immer noch nichts regte, heftiger. Sie warteten.
Nach einiger Zeit meinte Vanessa: „Guck mal, ob die Tür verschlossen ist.“
Vinc betätigte die plumpe Klinke. Nachdem er sie hinunter gedrückt hatte, öffnete sich quietschend der Eingang. Das Geräusch ging den dreien durch Mark und Bein.
Der Hund, der sich beruhigt hatte, da sie aus seinem Blickfeld gelangt waren, fing wieder mit seinem Heul- und Bellkonzert an. Diesmal tobte er, als wolle er sich von der Kette losreißen.
Vinc klopfte noch einmal gegen die geöffnete Tür, doch im Haus fand keine Reaktion der Bewohner statt.
Der Mond erreichte inzwischen einen Stand, dass er seine Strahlen in die winzigen Fenster schicken konnte. Da sie die Tür offen ließen, erhellte es auch ein wenig den Raum, in den sie traten.
Es schien keinen Vorraum zu geben, denn an einem langen massiven Tisch mit etlichen plumpen Stühlen davor erkannten sie, dass sich hier ein Teil des Lebens der Bewohner abspielen musste. Rechts befand sich ein offener Kamin, in dem seltsamerweise ein Feuer loderte. Nicht abgebrannt, sondern hoch, als habe erst kürzlich jemand der Flamme frische Nahrung gegeben und Holzscheite nachgelegt.
Vinc blieb am Eingang stehen und betastete die Innenwand.
Tom sah sein seltsames Tun: „Was suchst du denn?“, fragte er, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern humpelte begleitet von Vanessa zu einen der Stühle, um sich zu setzen. Sein Knöchel tat ihm weh.
„Ich suche einen Lichtschalter“, antwortete Vinc. Aber so sehr er die Wand abfühlte, er fand keinen.
„Brauchst nicht weiter suchen. Auf dem Tisch steht eine dicke Kerze und soweit ich es erkennen kann, wird sie als Lichtquelle benutzt. Jedenfalls ist sie schon ein Stück herunter gebrannt“. Vanessa versuchte zwar, ihrer Stimme einen klaren Klang zu geben, doch das leichte Hüsteln verriet ihre Angst. Sie bestätigte ihren Zustand, als sie hinzufügte: „Hier ist es richtig unheimlich.“
Vinc, der inzwischen auch an den Tisch angekommen war, nahm die Kerze mit ihrem schweren verzierten metallenen Halter vom Tisch, ging zum Feuer und zündete sie an. Ihr unruhiges Licht ließ die Umrisse der Kinder wie Gespenster an den Wänden tanzen.
Nachdem Vinc die brennende Kerze wieder auf den Tisch gestellt hatte, beruhigte sich ihre Flamme und ließ die Umgebung, wenn auch nur im Halbdunkel, etwas erkennen. Zuerst schaute er zur Decke und stellte fest, dass oben keine Lampe war, die auf elektrisches Licht schließen ließ. An der Stirnseite des länglichen Raums sah er eine weitere Tür. Ebenso rechts neben dem Kamin. Auf der linken Seite von ihm führte eine Leiter wohl zu dem Dachboden.
Vinc setzte sich zu Vanessa und Tom an den Tisch. Sie schwiegen, dabei aber versuchten sie, jedes noch so kleine Geräusch wahr zu nehmen. Es herrschte eine unheimliche Stille, auch weil der Hund sein Kläffen wieder eingestellt hatte.
Nach einer gewissen Zeit hielt es Vinc nicht mehr aus. Er stand auf und ging zu der Tür, die gegenüber dem Eingang war. Zunächst klopfte er dagegen. Als er keine Einladung zum Eintreten bekam, öffnete er sie. Sie ging ebenso wie die am Eingang quietschend und knarrend auf.
Durch das eindringende Mondlicht sah er an der linken Wand einen massiven Schrank. Neben ihm drei flache Betten, zwischen ihnen einen schmalen Gang, in dem sich drei Personen nebeneinander bewegen konnten. Am Kopfende jeweils einen plumpen hölzernen Nachttisch mit einer Kerze darauf. Sonst waren weiter keine Einrichtungsgegenstände vorhanden. Was Vinc verwunderte, waren die Betten in einer ungewöhnlichen Zahl und Anordnung. Meist war ein breites Bett vorhanden oder zwei, für die Bauersleute. Aber, so überlegte er sich, konnte dies auch eine Unterkunft des Personals sein.
Er wollte den Schrank öffnen, jedoch unterließ er es, denn dass ginge wohl zu weit, in den Sachen Fremder zu schnüffeln.
So eilte er wieder aus dem Raum und ging zu der Tür neben dem Kamin, aber so sehr er sich mühte, sie war verschlossen.
War das das Schlafzimmer der Bauersleute? Hatten sie sich aus Angst vor fremdem Besuch eingeschlossen?
Vinc wollte durch das Schlüsselloch schauen, er musste feststellen, dass keins vorhanden war. Vanessa trat unbemerkt neben Vinc, der erschrak, als sie fragte: „Was suchst du denn?“
„Wow. Hast du mich erschreckt. Ich suche das Schlüsselloch.“
„Vielleicht haben die sich von innen verriegelt“, meinte Vanessa.
Vinc nickte: „Kann sein. Ich werde mal klopfen. Wenn sie meine kindliche Stimme hören, werden sie wohl öffnen.“
Jedoch auch nach wiederholtem Klopfen und Rufen regte sich nichts hinter der Tür.
Vanessa zog es vor, sich wieder ruhig an den Tisch zu setzen, nicht der Müdigkeit wegen, sondern ihre Beine zitterten vor Aufregung und drohten, ihre Dienste zu versagen.
Vinc ging zu der Leiter, die nach oben führte.
Er zögerte, sie zu benutzen. Er wusste nicht, was ihn da oben erwartete. Hatte sich da vielleicht ein Dieb oder gar noch ein Schlimmerer versteckt? Einer, der den Bewohnern des Gehöftes etwas Böses angetan hatte?
Gerade als er den schweren Entschluss fasste, doch nach oben zu klettern, hörte er Geräusche von der Hofseite her. Er eilte zu den Sitzenden und leistete ihnen Gesellschaft.
Ihre Blicke waren starr auf den Eingang gerichtet. Sie vernahmen Pferdegetrappel und Räder eines Wagens.
Vinc sortierte diese Geräusche in seinem Gehirn und er kannte sie von Filmen, die vom Mittelalter handelten. Die typischen Geräusche von den damaligen Fortbewegungsmitteln. Für ein schweres Fuhrwerk waren die Fahrgeräusche zu leicht und auch das Trappeln der Pferde wies eher auf Kutschpferde hin. Ihre Hufe trafen den Boden sanft und nicht hart wie Ackerpferde, die schwere Karren zogen.
Vinc wusste selbst nicht, wieso er in diesem Augenblick auf so etwas achtete. Aber gleichzeitig fiel ihm noch etwas auf. Der Hofhund kündigte nicht durch sein Bellen diesen Besuch an. Also schien er diese Personen zu kennen. Er beruhigte sich selbst und auch Vanessa und Tom. „Die Bewohner kehren heim.“
Vanessa, noch mehr in Angst geraten, meinte kaum hörbar: „Und woher weißt du das?“
Vinc sagte nur: „Der Hund.“
Eigenartigerweise begriffen Tom und Vanessa trotz der angespannten Situation sofort, was er damit meinte.
Das Gefährt hielt vor der Tür und es entstand Stimmengewirr, teils von männlichen und teils von weiblichen Personen. Im Raum erschienen drei Männer mittleren Alters und ebenso drei Frauen.
„Wer hat denn schon wieder die Kerze angelassen?“, fragte einer der Männer und fügte hinzu: „Bis einmal das Haus in unserer Abwesenheit abbrennt.“
Er schritt zu einer Anrichte, die links neben der Leiter stand, wo aber der Schein der Kerze vom Tisch nicht hinkam und holte eine weitere Kerze, die er am Tisch anzündete. Dadurch erhellte sich der Raum noch mehr.
Vinc und Vanessa waren aufgestanden und erwarteten, von den Angekommenen wegen ihrer Anwesenheit Fragen. Doch sie wurden von den Personen gar nicht wahr genommen.
Vinc stellte sich vor einen der Männer und sagte entschuldigend: „Wir sind nicht eingebrochen. Die Tür war offen.“
Doch der Angesprochene schien ihn nicht zu sehen, er sagte zu den Frauen: „Wir haben für euch drei Betten in den Raum da hinten gestellt. Es ist zwar nicht komfortabel, aber vorläufig dient es seinem Zweck.“
Die Frauen gingen schwatzend in den zugewiesenen Raum.
„Wir Männer können in der anderen Räumlichkeit nächtigen“, schlug der Gastgeber vor. Sie gingen an eine Tür, die sich neben der Leiter befand und die Vinc, Vanessa und Tom noch nicht gesehen hatten.
Doch etwas Seltsames geschah: Die Männer spazierten durch die Leiter, als wäre sie gar nicht vorhanden.
Einer von ihnen machte sich im Raum zu schaffen, während die anderen beiden Zeug aus dem Fuhrwerk holten. Es schien, als wären sie Gäste und würden sich auf einen längeren Aufenthalt einrichten. Dann setzten sie sich an den Tisch, aber ohne die Kinder zu beachten.
„Was ist nur los? Überall herrscht das Böse. Euch hat man die Höfe angezündet. Warum nur?“, fragte einer der Männer.
Vinc, Vanessa und Tom hörten diese eigenartige Äußerung. Ihnen war nicht bekannt, dass irgendwo ein Feuerteufel wütete. Es wäre doch sonst gewiss im Regionalfernsehen oder in der Presse erwähnt worden.
„Das hängt irgendwie mit unserer Ernte zusammen“, meinte ein anderer.
„Nun, ich denke mal, bis die Geburt vorüber ist und ihr wieder auf eure Höfe zurückkehren könnt, werdet ihr hier vorläufig ein Obdach finden. Es ist zwar schlicht, aber es bietet vorläufig Schutz“, sagte der Gastgeber.
„Du sagtest richtig: Vorläufig Schutz. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dein Hof Opfer dieser Gewalt wird“, meinte ein anderer
„Er liegt zu Abseits. Und außerdem...“ Bevor der Mann weiter reden konnte, wurde er durch erneutes Pferdegetrampel unterbrochen. Diesmal aber schlug der Hund an und begrüßte den Besucher mit lautem Gebell.
Eine Frau trat in den Raum. Ihre Stimme klang keifend, als sie sagte: „Wo sind denn unsere schwangeren Frauen?“
Ein Mann stand auf und gab ihr die Hand. Als sie in den Schein der Kerzen trat, sahen die Kinder eine ältere Frau. Ihr Haar war schwarz, lang und hing ungepflegt herunter. Sie hatte stechende Augen und eine Hakennase.
„Darf ich vorstellen: Gistgrim. Sie ist eine Kräuterfrau und Hebamme. Sie wohnt etwas weiter in einem Wald“, stellte sie der Bauer vor.
„Und wer seid ihr? Dich kenne ich, du hast mich ja hergeholt. Du bist der Bauer Marxusta, Herr von diesem Hof. Aber die anderen kenne ich nicht“, keifte sie und versuchte ein Lächeln, was ihr aber gründlich misslang, denn es machte ihr unschönes Aussehen noch hässlicher.
„Das ist Rexos, ein Freund und gewesener Bauer und der andere ist Vincent, ein Gutsherr.“
„Ein gewesener Bauer?“, fragte die Alte.
Marxusta berichtete von den Bränden. „Auch Vincent großes Gut wurde Opfer der Flammen. Aber dort sieht es mehr nach Rache aus. Denn er sollte Herrscher von Arganon werden. Erinnert ihr euch noch an dieses riesige Erdbeben, das fast ganz Madison, unsere Hauptstadt, zerstörte? Seitdem geschieht etwas Eigenartiges auf Arganon. Der Mond hat seinen Rhythmus geändert. Die Jahreszeiten stimmen nicht mehr überein. Das Getreide reift, obwohl es nicht der Monat der Ernte ist. Der Zyklus der Zeit ist gestört.“
Die Alte schien auf ein weiteres Gespräch keinen Wert zu legen, sondern sagte nur: „Wo kann ich mich aufhalten bis zur Geburt?“
Marxusta ging zu der Tür, die Vinc nicht öffnen konnte. Er gab den Eingang frei. Vinc wunderte sich zwar, aber er sagte sich, dass es nur ein Trick war.
Aber was war das für ein Gerede? Der Mond hat seine Bahn verlassen? Der Zeitrhythmus gestört? Was war Arganon? Warum sah man sie nicht? Warum sahen sie die Leiter, während die Männer sie nicht erblickten? Sie war gar nicht für sie vorhanden. Was geschah hier? Wieso aber nahm der Hund sie wahr?
Vinc wagte nicht zu sprechen. Er deutete zu Vanessa und Tom, sie mögen ihm folgen. Tom stand auf und wäre beinahe umgeknickt, als er mit seinem verletzten Bein auf trat. Vinc sah es und eilte Vanessa zur Hilfe, als er sah, wie sie sich abmühte, Tom zu stützen. Ohne von den Anwesenden beachtet zu werden, erreichten sie die Leiter und kletterten auf den Dachboden.
Oben angelangt blieb ihnen vor Staunen der Mund offen stehen. Hatten sie einen Raum mit schrägen Wänden erwartet, sahen sie einen großen viereckigen Bereich mit graden glatten Wänden. In ihnen steckten in gewissen Abständen Kristalle, die die Örtlichkeit hell erleuchteten.
Auch hier fiel ihnen eine Seltsamkeit auf: Es waren drei Betten vorhanden. Aber nicht welche im herkömmlichen Sinne, sondern sie bestanden aus einer flimmernden Substanz. Aus einer solchen, aber auch festen, musste der Tisch sein, der sich in der Mitte befand und auch die drei Stühle davor.
Auf dem Tisch aber lag ein Buch, das leuchtete. Es war in blau gehalten und auf dem Cover sahen sie in Schwarz geschrieben „Arganon“ und darunter das Bildnis einer Kristallkugel mit einer Frau dahinter. Der größte Teil ihres Kopfes war durch diesen Kristall verdeckt. Nur ihre Augen, die auf die Kugel gerichtet waren, waren zu sehen und eine turbanähnliche Kopfbedeckung mit einem blauen Diamanten in der Mitte.
In der Kugel sahen sie etwas, was sie ein wenig erschrecken ließen. Sie sahen sich wie in einem Spiegel. Nur bis zum Bauch.
Wie unter einem Zwang setzten sie sich an den Tisch. Sie wagten nicht, das Buch zu berühren. Sie starrten es nur an. Plötzlich schlug es sich selbst auf und sie hörten eine Stimme: „Ich bin ein sprechendes Buch. Ihr müsst fest an mich glauben. Bezweifelt nie, was ihr hört. Begebt euch nun auf diese Betten und schließt die Augen.“
Wie unter Hypnose gehorchten sie. Dann hörten sie: „Ich werde euch nun die Geschichte von den Bewohnern Arganons erzählen. Und von dem Schicksal der Kinder Vincent, Rexina und Thomas, die soeben geboren werden. Wir aber werden einen Zeitsprung machen bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie in eurem Alter sind.“
Sie hörten Kindergeschrei. Dann sahen sie vor ihren Augen Sterne und bunte Kreise. Kleine Blitze, die aber angenehm waren. Dann hörten sie wieder die Stimme: „Ihr Kinder von der Erde werdet nun in die Geister von den drei Kindern auf Arganon versetzt. Ihr werdet im Geiste alles mit erleben, was die drei erleben. Aber ihr könnt es nur verfolgen und nicht beeinflussen. Tom, du wirst in Thomas, Marxustas Sohn sein, Vanessa du in Rexina, Rexos Tochter und Vinc in Vincent, dem zukünftigen Herrscher von Arganon, Vincent dem Ersten. Doch zunächst noch etwas: Ihr müsst fest an eure Ebenbilder glauben. Einmal gezweifelt, dann werden sie sterben und ihr mit ihnen.“
„Unsere Eltern werden uns vermissen“, sagte Vanessa fast weinerlich. Doch sie bekam keine Antwort. Plötzlich saß sie mit Tom und Vinc an dem Tisch unten in dem Raum vom Bauernhaus.
Ab hier begannen die unglaublichen Abenteuer von den Kindern von Arganon, dem Schicksal von Vincent, Thomas und Rexina und der Frage von Rexina.
Das Abenteuer begann so richtig, als die drei zusammen am Tisch in dem Gehöft saßen, in dem Vanessa, Tom und Vinc ankamen.
„Schön, dass wir hier zusammen sitzen können. Daheim wird noch immer gebaut. Bis das, was alles abgebrannt ist, wieder hergerichtet ist, dauert es noch eine Weile“, sagte Vincent.
„Wir haben doch Platz. Die Betten, in denen wir geboren wurden, stehen noch. Extra für unsere immer wiederkehrenden Treffen“, sagte Thomas
„Schön, dass wir Freunde sind. Aber das mit dem Getreide ist ein Ding. Soll angeblich Zauberkräfte haben“, sagte Rexina.
Thomas schüttelte den Kopf: „Ist wohl nur eine Mär. Dann müsste ja jeder, der Brot isst, auf Arganon zaubern können. Nur eines ist mir bisher ein Rätsel. Vaters geheimnisvoller Raum. Nur er kann in ihn hinein. Wenn er sich mit seinen Freunden trifft, verschwinden sie manchmal stundenlang darin. Ich habe noch nie einen Blick hineinwerfen können.“ Er deutete zu der Tür gegenüber an der Wand und sagte noch: „Manchmal sagt er, er wolle kein Bauer mehr sein. Irgendwann will er etwas anderes tun. Aber was genau, habe ich noch nicht raus bekommen.“
Rexina machte ein nachdenkliches Gesicht: „So ähnlich äußert sich auch mein Vater.“
Vincent schloss sich ihnen an: „Irgend etwas haben sie vor. Sie kommen mir vor, als wären sie eine verschworene Gemeinschaft.“
„Wisst ihr was? Wir gehen in den Wald. Da, wo das alte Kräuterweib wohnt. Ein bisschen rumstromern“, schlug Thomas vor. Er wurde aber von seinem Vater, der den letzten Satz mitbekam, ermahnt: „Aber seid vorsichtig. Arganon ist zur Zeit unsicher. Streunende Arlts wurden gesichtet und auch anderes übles Gesindel.“
„Ich dachte, die Arlts sind weit weg, in ihrem Land?“, fragte Vincent.
Marxusta wiegte sein inzwischen ergrautes Haupt: „Scheinbar nicht. Ich glaube, der Tyrann von Arganon hat sie zur Hilfe geholt. Seine Söldner reichen nicht aus, um die Rebellen unter Kontrolle zu haben.“
„Meinst du, sie schaffen es, den Tyrann zu stürzen?“, fragte Thomas seinen Vater.
„Ich glaube nicht. Die Armee des Herrschers ist denen überlegen und die Arlts noch dazu. Das wird schwierig. Also gebt schön Obacht.“ Marxusta hatte zwar Angst um die Kinder, aber er wollte ihnen das Rumstromern auch nicht verbieten. Er wollte nicht die Abenteuerlust dämpfen und den Forschungsdrang untergraben. Schließlich waren es die zukünftigen Erwachsenen von Arganon und irgendwann verantwortlich, dass jeder friedlich leben konnte. Wenn es auch im Moment nicht danach aussah.
Und so begaben sich die Kinder ohne zu ahnen in ein gefährliches Abenteuer, während sich Marxusta mit ihren Vätern traf und in das geheimnisvolle Zimmer ging.
 



 
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