1 Sonettenkranz

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Stavanger

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Die Spielregeln:
Ein Sonettenkranz besteht aus 14 Sonetten. Die letzte Zeile des ersten Sonetts soll gleichzeitig die erste des zweiten Sonetts sein … Letzte Zeile zweites Sonett = erste Zeile drittes Sonett … bis zur letzten Zeile 14. Sonett = 1. Zeile 1. Sonett, um den Kranz zu schließen.
Aber es kommt noch verzwickter und verrückter: Alle letzten Zeilen von allen 14 Sonetten sollen, hintereinander gelesen, wieder ein neues Sonett ergeben, das sogenannte "Meistersonett"!
Wer genau damit angefangen hat, weiß man nicht, aber z.B. Rückert, Platen und Bechstein haben Sonettenkränze geschrieben.
Also los!



I

Auch ich hab's längst schon ausprobiert:
Ob fremde Landschaft, fremde Stadt,
ob fremde Küste, fremdes Watt,
schon bald kommt einer anmarschiert.

Und dieser Jemand wird mich fragen,
wo hier der Bahnhof ist, die Post,
die Burg, die Kneipe, West und Ost …
Dann wartet er, und ich soll's sagen.

Nur, meine Antwort ist nichts wert,
ich kenn die Gegend nicht so toll
und bin ja selber hier verkehrt.

Nichts geb ich mehr zu Protokoll,
egal ob Jemand sich beschwert:
Ich weiß doch nie, wo's langgehn soll.



II

Ich weiß doch nie, wo's langgehn soll,
drum lauf ich richtungslos herum
und wieder falsch und kreuz und krumm
und quer und meistens sorgenvoll.

Ich pralle gegen jeden Berg
und komme über keinen Fluss,
renn kreisverkehrt, als ob ich's muss,
im Kreis. Das ist mein Tageswerk.

Nur kommt auf diese Weise man
zu Lebenszeiten nirgends hin,
geschweige denn, man käme an.

Ob ich noch ganz bei Sinnen bin?
Worauf ich nur entgegnen kann:
Ich weiß doch nichts von einem Sinn.



III

Ich weiß doch nichts von einem Sinn.
Ich weiß auch nichts von einem Wert.
Da bin ich lieber unbeschwert
und möglichst, wie ich eben bin.

Ich kenne keinen guten Zweck
und helf dir nicht beim Weh-Beklagen.
Ich kann dir keine Lösung sagen,
auch Gut und Böse fallen weg.

Du fragst, ob ich denn gar nichts weiß?
Und ich sag, selbstbewusst doch leis
und deutlich, mit erhob'nem Kinn:

Durch diese Uhr, die Uhrzeit misst,
weiß ich sehr wohl, wie spät es ist.
Dies eine weiß ich immerhin.



IV

Dies eine weiß ich immerhin,
auch wenn's dir anders scheinen mag,
wenn du so wartest Tag für Tag:
Ich hab ja nichts als dich im Sinn!

Und doch, hast du es schon geahnt,

für dich ist frühestens, mein Schatz,
am übernächsten Mittwoch Platz,
die andern Tage sind verplant.

Wie wär's danach mit Ostern wieder?
Dann Nikolaus, dann Weihnachtslieder …
Ich finde deine Stimme toll!

Vielleicht auch, dass ich's uns erspare,
voll ausgebucht auf 14 Jahre.
Der arme Kopf ist viel zu voll.



V

Der arme Kopf ist viel zu voll,
er wird ja niemals leer genug.
Und leere ich mich Zug um Zug,
ist's immer noch zu voll, jawoll.

Ach, wär mein Kopf doch einmal leer;
vielleicht hilft's, täglich ihn zu schütteln,
mit beiden Händen ihn zu rütteln -
vielleicht, dass er dann leerer wär?

Gedankenfrei ließ es sich leben,
besonders frei vom Unbequemen,
auch ließ der Kopf sich leichter heben,

bequem sich mit durchs Leben nehmen.
Man könnt ihm auch mal Urlaub geben.
Mein Kopf ist überfüllt mit Themen.



VI

Mein Kopf ist überfüllt mit Themen
und tausend Sachen, tausend Sorgen.
Könnt ich mir einen andern borgen,
ich würd den probeweise nehmen,

vorausgesetzt, darin gäb's Ruhe,
denn sonst blieb alles ja beim Alten,
da könnt ich meinen gleich behalten,
was ohnehin zum Schluss ich tue.

Vielleicht auch ist er's gar nicht schuld,
mein Kopf und seine Ungeduld?
Dann könnt kein Tauschen je gelingen.

Die Welt, mit Chaos und Tumult:
Was könnt dem Kopf sie andres bringen?
Die Welt ist über-voll mit Dingen.



VII

Die Welt ist über-voll mit Dingen,
so vielen, dass mich Unmut quält.
Ich krieg noch nicht mal aufgezählt,
was meine Augen stets verschlingen.

Erschwerend sind zudem die Ohren:
Wovon die beiden mir berichten,
sind fast noch mal so viel Geschichten.
Da geh ich im Zuviel verloren.

Ich könnte, um zuletzt zu lachen,
mich selber um mein Leben bringen.
Das würd die Sache leichter machen.

So könnt es schließlich mir gelingen,
die Welt ein Stück vereinzufachen.
- Wär's gut, nur ein Ding zu besingen?



VIII

Wär's gut, nur ein Ding zu besingen,
wenn tausend unbesungen bleiben?
Ach, könnt ich alle Lieder schreiben
und alle Farben in sie bringen!

Versuchen kann man's und beginnen,
nach vorn den Schritt und nie zurück,
die Bergwelt vor sich fest im Blick
mit felsenfestem Willen innen.

Ich bleib beim ersten Schritt schon stecken
in wirren Plänen, Nebel-Schemen,
komm nicht mal um die ersten Ecken.

Wozu soll man sich noch bequemen,
wenn unzählbare Dinge necken -
und welche davon soll man nehmen?



IX

Und welches davon soll man nehmen:
den Ruhm, Gesundheit, Liebe, Geld?
Gibt's eins, das dir am meisten zählt,
am meisten löst von den Problemen?

Und käme die berühmte Fee
und würde dich mit Wünschen quälen,
dann müsstest du dir eines wählen
und alles liefe falsch, oh je.

Als Beispiel einmal angenommen,
Gesundheit hättest du bekommen;
das andre aber, wie gemein,

verschwände ganz aus deinem Leben:
Du wärst gesund und trostlos. Eben.
Das Eine steht ja nie allein.



X

Das Eine steht ja nie allein.
Mit etwas Mühe und Geschick
und einem bisschen Finderglück
wird gar nicht weit ein Zweites sein.

Frag dieses Zweite freundlich, bitt es,
es wird sich nicht entgegenstellen,
vielmehr wird’s sich dazugesellen.
Nun schau dich um: Schon naht ein Drittes!

Du brauchst dich nicht zu sorgen, weil
sehr bald bist du bereits zu viert,
Tendenz nach oben, und zwar steil.

Wenn nicht in Sprache abstrahiert,
dann gibt’s ja gar kein Einzelteil
für sich, ansonsten isoliert.



XI

Für sich, ansonsten isoliert,
ist nichts, das irgendwem verwandt wär,
und nichts, das irgendwem bekannt wär,
der wach durch diese Welt spaziert.

Für sich, und das ist wesent-lich,
kann es kein halbes Ding im Leben,
noch lebenslose Dinge geben.
Für sich (na gut) bin nicht mal ich.

Und doch reicht's aus, man schaut auf eins
(starr mich nicht an - Was fällt dir ein),
und sei's der Glanz des Kieselsteins.

So ist denn jedes auch allein
ein Miniaturstück allen Seins.
Es strahlt und steht für alles Sein.



XII

Es strahlt und steht für alles Sein
zum Beispiel auch das Meer, der Fluss,
ein Regentropf, ein lieber Kuss,
ein Diamant, ein Kieselstein,

ein Dieb, ein Mörder, ein Normaler,
ein altruistisches Geschöpf,
Frau Mahlzahn, Lukas und Jim Knöpf,
ein Affe und Neandertaler.

Sogar im Wissen findet man
vereinzelt Spuren, die sich lohnen
und gern dem Ganzen innewohnen,

sofern man sie auch sehen kann,
wenn man sie dreht und ausprobiert.
Drum schadet's nicht, dass man studiert.



XIII

Drum schadet's nicht, dass man studiert:
Dann bist du schlauer als der Rest,
der Wissen oft links liegen lässt
und gleich die Lust daran verliert.

Na ja, zumindest glaubst du das.
In Wahrheit ist es völlig gleich,
ob bildungsarm, ob wörterreich,
und glücklich ist, wer niemals las,

dafür die Dinge sich besah,
als würden sie nicht Worte sein,
doch wär'n stattdessen wirklich da.

Man ließ die Welt in sich herein,
froh grüßend mit dem ganzen: Ja
das Eine, und sei's noch so klein.



XIV

Das Eine, und sei's noch so klein,
und wär's von Blech ein Siegelring,
ein unscheinbares Mini-Ding,
kann dir genauso wichtig sein

wie andren etwas Großes, Teures,
Abstraktes gar wie Staat und Land,
ein Haustier, Pelztier, Elefant
und ausgesprochen Ungeheures.

Vielleicht ja sind es Regenbögen,
für dich nur schön und ohne Zweck
und nach dem Regen wieder weg?

Allein, du selber musst es mögen,
dann ist sein Glanz dir garantiert.
Auch ich hab's längst schon ausprobiert.




Das "Meistersonett" lautet also:

(XV)

Ich weiß doch nie, wo's langgehn soll.
Ich weiß doch nichts von einem Sinn.
Dies eine weiß ich immerhin:
Der arme Kopf ist viel zu voll.

Mein Kopf ist überfüllt mit Themen,
die Welt ist über-voll mit Dingen.
Wär's gut, nur ein Ding zu besingen -
und welches davon soll man nehmen?

Das Eine steht ja nie allein
für sich, ansonsten isoliert.
Es strahlt und steht für alles Sein.

Drum schadet's nicht, dass man studiert,
das Eine, und sei's noch so klein.
Auch ich hab's längst schon ausprobiert.
 
Zuletzt bearbeitet:

Stavanger

Mitglied
Hallo Walther,

Danke für dein Interesse. Das mit der Hebigkeit sehe ich offenbar anders: Die klassische Anzahl stammt von Dante, für die italienische Sprache, und ich sehe nicht, warum ich mich an die gebunden fühlen sollte.
Ein Dichterkollege in einem anderen Forum hat mal experimentiert, wie wenig-hebig man in der Sonettform werden kann, dass es immer noch funktioniert: Er sagt, es ginge sogar 2-hebig!

Ich glaube ihm das.
Aber natürlich steht es dir frei, das Klassisch-Italienische beizubehalten.
(Davon habe ich probeweise auch mal eines verfasst, aber ich denke, im Deutschen wirken weniger Hebungen zumindest natürlicher. Obwohl das auch ein interessanter Versuch war.)

Schönen Gruß:
Uwe
 

Walther

Mitglied
Hallo Walther,

Danke für dein Interesse. Das mit der Hebigkeit sehe ich offenbar anders: Die klassische Anzahl stammt von Dante, für die italienische Sprache, und ich sehe nicht, warum ich mich an die gebunden fühlen sollte.
Ein Dichterkollege in einem anderen Forum hat mal experimentiert, wie wenig-hebig man in der Sonettform werden kann, dass es immer noch funktioniert: Er sagt, es ginge sogar 2-hebig!

Ich glaube ihm das.
Aber natürlich steht es dir frei, das Klassisch-Italienische beizubehalten.
(Davon habe ich probeweise auch mal eines verfasst, aber ich denke, im Deutschen wirken weniger Hebungen zumindest natürlicher. Obwohl das auch ein interessanter Versuch war.)

Schönen Gruß:
Uwe
Hey,
du setzt eine menge dinge voraus - als ob du mich ewig kennen würdest. bin aber fein damit, auch wenn du grottenfalschliegst.
ein sonettkranz ist was ziemlich anspruchsvolles. ich find's immer gut, wenn das jemand versucht.
hau rein, hab spaß.
lg W.
 

sufnus

Mitglied
Hey Uwe,

Sonettenkränze gehören zu jenen seltenen Vögeln in der Lyrik, deren "Dennoch-Existenz" (nämlich: allen technischen Schwierigkeiten zum Trotz) ich immer offenen Mundes bestaune!
Du hast ja Deine Sprachkönnerschaft schon mit vielen wunderbaren Werken demonstriert, und doch habe ich, als Du einen solchen Kranz angekündigt hast, erwartet, dass da der ein oder andere kleinere technische Lapsus dabei sein würde (was der Sache keinen Abbruch getan hätte!). Nun sehe ich hier aber einen veritablen 14+1-Ender ohne technischen Fehl & Tadel. Also ich bin baff! :)

Was die "Hebigkeit" angeht, würde ich Dir, lieber walther, insofern widersprechen als Uwe eigentlich keine sehr voraussetzungsreichen Mutmaßungen anstellen musste, sondern nur Deine Aussage "wenn schon... dann bitte 5-hebig... " wörtlich genommen hat. Tatsächlich sind die meisten Deiner Sonette (was Uwe sicher nicht nachrecherchiert hat) wirklich 5-hebig und dann & wann hast Du auch schon metrische Vorschläge mit der Begründung zurückgewiesen, dass Du in dem jeweiligen Fall dem 5er-Prinzip treu bleiben möchtest. Der Vollständigkeit halber, als einem längerlesenden Freund Deiner Werke, kann ich stavanger aber die Info zurufen, dass Du durchaus auch 6-hebige Sonette, mal alexandrinisch zäsuriert, mal nicht, fabrizierst. Aber die sind hienieden jedenfalls in der Minderzahl. Insofern summasummarum war stavangers Annahme ja so ganz "grottenfalsch" wohl nicht, dass es Dir der 5-Heber als Sonett schon angetan hat.

Und wenn ich schon am Schlaumeiern bin, würde ich aber auch gleich noch stavangers Veortung des 5-hebigen Sonetts bei den Italienern im Allgemeinen oder Dante im Besonderen korrigieren: Grundsätzlich haben die alten Italiener bei ihren metrisch gebundenen Gedichten gar keine akzentuierende Metrik bemüht (bei der betonte und unbetonte Silben gezählt werden) sondern eine silbenzählende Metrik (was bei der gezäht wird, muss vermutlich nicht besonders erklärt werden). Sprich: Die Regel für die italienischen Sonette besagt, dass 11-Silbler verwendet werden sollen, was bedeutet, dass jede Zeile ebenso viele Silben haben soll (ausnahmsweise gehn auch mal nur 10 Silben, falls die Zeile mit männlicher Kadenz endet). Von diesen 11 Silben müssen nur zwei Silben zwingend betont werden, nämlich entweder die vierte und die zehnte oder die sechste und die zehnte. Bei den anderen Silben besteht ziemliche Freiheit, es dürfen auch gerne Hebungspralle vorkommen o. ä., so dass am Ende auch mehr als 5 Hebungen in der Zeile zu finden sind (oder eben auch mal weniger als 5). Sprich: Mit dem deutschen Jambus hat das alles überhaupt nix zu tun. Und letzte Schlaumeierei: Diese 11-Silbigkeit beim italienischen Sonett reicht tatsächlich bis in die Ur-Anfänge zurück (also ein gutes Stück vor Dante), nämlich an den Hof Kaiser Friedrich II in Sizilien zu einer Clique von Juristen und Mönchen um einen gewissen Giacomo da Lentini, der als der eigentliche Erfinder des Sonetts gilt. :)

LG!

S.
 

sufnus

Mitglied
.... ups... jetzt bin ich gestern in der Eile ohne Sternehinterlassung weitergehüpft... die muss latürnich noch nachgeholt werden. :)
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe das Werk mit in die Empfehlungsliste aufgenommen.

Dass Sonettformen sprachabhängige Entwicklungen haben, stimmt. Sprachen haben sehr verschiedene Eigenschaften. Und Lyrik-Formen entwickeln sich weiter, indem sie verwendet werden.
 

Walther

Mitglied
...
Und wenn ich schon am Schlaumeiern bin, würde ich aber auch gleich noch stavangers Veortung des 5-hebigen Sonetts bei den Italienern im Allgemeinen oder Dante im Besonderen korrigieren: Grundsätzlich haben die alten Italiener bei ihren metrisch gebundenen Gedichten gar keine akzentuierende Metrik bemüht (bei der betonte und unbetonte Silben gezählt werden) sondern eine silbenzählende Metrik (was bei der gezäht wird, muss vermutlich nicht besonders erklärt werden). Sprich: Die Regel für die italienischen Sonette besagt, dass 11-Silbler verwendet werden sollen, was bedeutet, dass jede Zeile ebenso viele Silben haben soll (ausnahmsweise gehn auch mal nur 10 Silben, falls die Zeile mit männlicher Kadenz endet). Von diesen 11 Silben müssen nur zwei Silben zwingend betont werden, nämlich entweder die vierte und die zehnte oder die sechste und die zehnte. Bei den anderen Silben besteht ziemliche Freiheit, es dürfen auch gerne Hebungspralle vorkommen o. ä., so dass am Ende auch mehr als 5 Hebungen in der Zeile zu finden sind (oder eben auch mal weniger als 5). Sprich: Mit dem deutschen Jambus hat das alles überhaupt nix zu tun. Und letzte Schlaumeierei: Diese 11-Silbigkeit beim italienischen Sonett reicht tatsächlich bis in die Ur-Anfänge zurück (also ein gutes Stück vor Dante), nämlich an den Hof Kaiser Friedrich II in Sizilien zu einer Clique von Juristen und Mönchen um einen gewissen Giacomo da Lentini, der als der eigentliche Erfinder des Sonetts gilt. :)

LG!

S.
@sufnus
schön wenn das ein anderer tut. :) in der Tat war das mit der erfindung des sonetts wohl eher so, wie du es schriebst.
lg W.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Im Deutschen gab es seit Opitz schon viele Formen.
Ein Beispiel:

Opitz: Zum exempel wil ich nachfolgendes Sonnet setzen / weil diese außenlaßung zue sechs malen darinnen wiederholet wird:
Ich muß bekennen nur / wol tausendt wündtschen mir /
Vnd tausendt noch dar zue / ich möchte die doch meiden
Die mein' ergetzung ist / mein trost / mein weh vnd leiden
Doch macht mein starckes hertz' / vnd jhre grosse ziehr /
An welcher ich sie selbst dir / Venus setze für /
Das ich / so lang' ein Hirsch wird lieben püsch' vnd Heiden /
So lange sich dein Sohn mit threnen wird beweiden /
Wil ohne wancken stehn / vnd halten vber jhr.
Kein menschlich weib hat nicht solch gehn / solch stehn / solch lachen /
Solch reden / solche tracht / solch schlaffen vnnd solch wachen:
Kein Waldt / kein heller fluß / kein hoher Berg / kein Grundt
Beherbrigt eine Nymf' an welcher solche gaben /
Zue schawen mögen sein; die so schön haar kan haben /
Solch' augen als ein stern / so einen roten mund.

So sahen deutsche Sonette bei Opitz aus. Sechshebig, aber mit Abweichungen der allgemeinen Sprachmelodie.
Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/opitz/poeterey/poet10a.html

Martin Opitz
Buch von der Deutschen Poeterey

In Deutsch gab es fast jede mögliche Sonettform, oft zunächst in Übersetzung.

Übereinstimmung herrschte meist, dass es harmonisch klingen solle, so wie auch hier der Sonettenkranz.
 

Stavanger

Mitglied
Hallo zusammen,

Wow, so viel Bildung! Meine Information von jemand Kundigem aus dem Musengarten war, dass mit den Sonetten alles auf Dante zurückginge, und es ging anscheinend insgesamt darum, mal nicht in Lateinisch zu schreiben, sondern Italienisch, das war wohl neu.

Es freut mich, euer detailliertes Wissen zu hören. Ich selbst weiß solche Dinge überhaupt nicht, ich dichte nur und probiere aus, was mir gefällt, und wie es wohl klingt oder wirkt, wenn man ... oder vielleicht ...
Ab und zu möchte jemand, dass ich mit mehr oder weniger Hebungen operiere (sorry Walther, ist ja gar nichts Persönliches!) oder mit einer anderen Reimform oder oder ... Ich wehre mich dann mit Dante und mache einfach meinen eigenen Kram weiter wie immer.
Eigentlich sind wir ja alle Lyrik-Freunde und sollten uns über solche Dinge nicht in die Haare kriegen. Soll halt jeder, wie er will.

Geschichtlicher Hintergrund etc. ist aber auch interessant - und gut, dass es euch gibt, die ihr diese Dinge wisst!

Auf alle Fälle fühle ich mich geehrt, wenn meine Arbeit, oder meine Spielereien, etwas Aufmerksamkeit bekommen und gelegentlich gar gefallen.

Dank und schönen Gruß an alle!
Uwe
 

mondnein

Mitglied
Sehr fleißig, allerdings bitte mit fünfhebigen jamben, wenn schon, denn schon.
"fleißig", na ja, klingt wie "hat sich bemüht" in der Beurteilung seitens eines Personalchefs.

Ja, es fällt auf, daß das alles vierhebig durchläuft wie der Vierertakt in einem Beatleslied oder in Wolfram von Eschenbachs Epen. Den Vorwurf des "Leierns" verdränge ich als selbstkritischer Rezipient, denn das gehört auf jeden Fall zu den Faktoren, die der Leser selbst einbringt: Wer leiert, ist selber schuld.

Aber die Kritik stammt von dem Meister, der "So nett gelebt" (und) geschrieben hat. In dieser wunderbaren Sammlung Walthers gibt es die zwei-ein-halb Seiten mit 34 "Verweisen", die die Abweichungen und Besonderheiten einzelner Sonette benennen oder klassifizieren. Da kommt so alles vor, was im Sonett möglich oder grenzfällig ist,

Das Ende der 14 mal 14 dort bildet ein Sonettenkranz. Aber das ist ein gefährliches Feld, der Leser muß einen ganzen Rucksack von geeigneten Schuhen mitschleppen: mindestens Stiefel für die Sümpfe und Latschen ohne Strümpfe. Kaffee um wachzubleiben, Stab und Hund, die Schäfchen voranzutreiben, die den Beckmesser-Hirten zum Zählen versuchten, den schlaflos zum Wachsein verfluchten Verruchten.

grusz, hansz

P.S.: Ich gebe Dir 75 Punkte.
 

Tula

Mitglied
Hallo Stavanger
Selbst Gernhardt wäre hier begeistert! Auf jeden Fall der unterhaltsamste Kranz, den ich bis dato gelesen habe.

LG Tula
 

Stavanger

Mitglied
Hallo Tula,
Das ist großes Lob. Ich freue mich!

Vielen Dank auch an mondnein,
75 Punkte ist ziemlich viel, oder?

Schönen Gruß euch beiden!
Uwe
 

mondnein

Mitglied
75 = 15 x 5 Sterne.


Ich hab das Ganze noch einmal in einem Zuge durchwandert, um den Spannungsbogen wahrzunehmen:
1. ob da einer ist? Ja, ein großer Sinnbogen, und wie eine Pointe kam mir die vorläufige conclusio vor:
So ist denn jedes auch allein
ein Miniaturstück allen Seins.
Es strahlt und steht für alles Sein.
Denn bei dieser Sentenz habe ich aufgehorcht, ich brauchte nicht den schafetreibenden Hund und Stab, ich wurde neugierig, ob das, was ich voriges jahr, im 19. Hundertliederbuch http://12koerbe.de/hansz/1900lieb.htm#welt mal mit einem ziemlich umfangreichen Gedichtezyklus umspielt habe, hier wahrgeworden ist: Da habe ich versucht, die Frage "Was ist die Welt?" mit einzelnen Dingen, Vorkommnissen, Begriffen o.ä. zu beantworten:
was ist die "welt"?82 metaphysische gedichte
1819. jeder verschwindende laut bedeutet die welt

apollo
1820. löst orakel in dichterworte auf * 1821. apollo löst ein weiteres orakel 1822. apollo löst weitere orakel * 1823. orakel aus erlesenen individuen

die welt ist
1824. ein kunstwerk * 1825. eine vertrocknete tischblume
1826. die bedeutung des wortes südwind
1827. vieldeutig in jedem einzelnen ihrer iche
1828. ein computer hour der den weltensinn ausrechnet * 1829. wunschoffen *1830. all der aller wünschens werte teste testen * 1831. ein so netter brotkrümel
1832. ein rätsel * 1833. ein satz? * 1834. alles andere als ein satz in den frühling gesch erzt
1835. sie ist nicht * 1836. ein du dir * 1837. ein du dir schon wieder * 1838. dein du
1839. sie ist dein ich * 1840. jeder einzelne mensch ganz – zum bleisch neewittchen *1841. ein schlüsselbund * 1842. eine symmetrieachse * 1843. ein schmetterling
1844. das ski i djing ping denken * 1845. ein teil der das ganze enthält
1846. ein fortpflanzungsdrang * 1847. ein kurzschluss des an sich unmöglichen
1848. ein spitzer stöckelschuhabsatz
1849.-1855. sie ist freiheit * 2 * 3 * 4 * 5 * 6 * 7

die welt ist
1856. nicht identisch mit ihrer definition * 1857. identisch mit ihrer definition
1858. ein gummibal desaster * 1859. ein weites gewebe * 1860. ein bibelspruch
1861. mein gesichtsfeld * 1862. was über den tassenrand schwappt * 1863. erwartung
1864.-1870. sie ist ein ereignis * 2 * 3 * 4 * 5 * 6 * 7

dreiszig stücke sind eine volle welt:
1871. sie ist ein chinesischer lesechip * 1872. freundschaft
1873. eine miss lunge ne herbst hai kuh * 1874. ein verdächtiger dichter
1875. ein schleimpilz * 1876. eine absolute mepapher * 1877. manchmal *1878. achsenzarte genauigkeit * 1879. ein einziges ist * 1880. popol vous maya
1881. ein limerick: political in correctoren * 1882. ein einziger schwachsinn
1883. die mit meinem prädikatsnomen identische * 1884. mir schnuppe * 1885. am ende 1886. sie ist 1. so * 1887. 2. so * 1888. 3. so
1889. sie ist das subjekt kopuliert mit seinem prädikatsnomen
1890. nicht wirklich verwerflich * 1891. die vierte herbsthaikuh * 1892. szo süsz *1893. not beat men sch wester * 1894. der ton auf den sich das orchester stimmt
1895. hegels immer frisch auftauchende negation * 1896. deine bessere hälfte
1897. das ganze von dem du eine hälfte bist * 1898. höchste lust * 1899. ein reisz zweck 1900. sie ist der titel zu dem ersten lied des zwan zigesten hundert
https://www.leselupe.de/#1900.

Ich hoffe, dieses Inhaltsverzeichnis schnurrt wie üblich zu einem Versteck-Kasten zusammen; wenn diese 85 Titel schon wie Schafezählen sind, was ist dann erst von der Ausführung zu erwarten?

2. Apropos "Ausführung". Das ist ein Terminus der Musiker für den Teil des Sonatenhauptsatzes, in dem die beiden Themen, die in der Exposition zu Beginn vorgestellt werden - das erste klassischerweise in der Tonika der gewählten Tonart, das zweite (mit Gegencharakter zum ersten) in der Dominante - mit zahlreichen Variationen und Einander-Druchdringungen durchgespielt werden. Das müßte für die Sonaten der Dichtung, die parallelerweise "Sonette" genannt werden, eigentlich wesentlich sein; oder mehr noch: die Folge der Sätze in einer Sonate oder in der von dieser Form abgeleiteten Sinfonie (Symphonie), wo nicht alles im gleichen Allegro läuft wie etwa ein erster Satz, sondern der zweite gegensätzlichen Charakter und gegenläufige Form zum ersten hat, und der dritte wieder ganz anders tanzt, und der vierte den dritten überbietet, oder ähnlich.
Warum wird in der Lyrik so eine telephonbuchartige Gleichheit der Melodien, bis in die Länge der Verse und die Zählung der Hebungen, erwartet? In der Sonatenhauptsatzform gibt es offensichtlich Regeln der Variation, die mit Polarität, Gegensätzlichkeit und fundamentalem Wechsel der rhythmischen und der Modulations-Form arbeitet.

3. Wie dem auch sei, diese 15 Kranzblüten sind einfach wunderbar!
Das kann ich gerne fünfzehnmal wiederholen, aber am besten mit Variation und Gegenpolarität der einzelnen Hymnen, im Wechsel mit kurzen Zweivers-Sentenzen und banalen Ejektions-Zustimmungen ("Ja!", "toll!", "Oh!", "Äh!" o.ä.).

4. Ja, toll (o.ä.)
grusz, hansz
 
Zuletzt bearbeitet:

fee_reloaded

Mitglied
Selbst Gernhardt wäre hier begeistert! Auf jeden Fall der unterhaltsamste Kranz, den ich bis dato gelesen habe.
Oh, ja....das sind in ungefähr auch meine Gedanken nach dem Lesen dieses höchst unterhaltsamen und allen fünfzehn Sonetten zum Trotz kurzweiligen Kranzes, lieber Uwe!

Da wirkt aber auch keine Strophe und kein Vers irgendwie "hin-konstruiert" (um seinen Zweck im Kranz zu erfüllen)...das bewundere ich - neben deinem Talent mit einer sprachlichen Leichtigkeit und Natürlichkeit zu reimen - wirklich sehr!

Ich weiß doch nie, wo's langgehn soll.
Ich weiß doch nichts von einem Sinn.
Dies eine weiß ich immerhin:
Der arme Kopf ist viel zu voll.

Mein Kopf ist überfüllt mit Themen,
die Welt ist über-voll mit Dingen.
Wär's gut, nur ein Ding zu besingen -
und welches davon soll man nehmen?

Das Eine steht ja nie allein
für sich, ansonsten isoliert.
Es strahlt und steht für alles Sein.

Drum schadet's nicht, dass man studiert,
das Eine, und sei's noch so klein.
Auch ich hab's längst schon ausprobiert.
Was für ein gelungenes "Lied" auf die Erkenntnis, dass nichts in der uns umgebenden Welt nur für sich allein betrachtet werden kann oder sollte!
Auch den liebevollen Blick auf das Allerkleinste, in dem dennoch der Zauber allen Seins strahlt, mag ich sehr! Gerne bin ich mit den einzelnen Sonetten um das eigentliche Thema der Beziehung des Menschen zur ihn umgebenden Welt und der Frage nach seinen Sinn darin mitgekreist! Philosophisches hab ich selten so liebevoll und von herrlichem Augenzwinkern getragen gelesen! Danke für dieses echte Gustostückerl....naja...das erl gehört eigentlich gestrichen angesichts des Umfangs ;)

Und sufnus hat's ja schon angemerkt:
Nun sehe ich hier aber einen veritablen 14+1-Ender ohne technischen Fehl & Tadel.
Das muss man erst mal so hinbekommen. Respekt!!!!!


Liebe begeisterte Grüße,
Claudia
 

mondnein

Mitglied
die Erkenntnis, dass nichts in der uns umgebenden Welt nur für sich allein betrachtet werden kann oder sollte
nun ja, nun nein: gerade dadurch, daß ein unscheinbares Einzelding geradezu isoliert, an und für sich betrachtet wird, und man taucht in es hinein, wird es zum runden Spiegel des Universums. Diesen Gedanken kann man in beide Richtungen (um-) stülpen:
"Um die Welt zu erkennen, taucht man ins Ich hinein, ins Individuum;
um das Ich zu finden, greift man in die Welt hinaus, ins Unendliche. "
(ist nicht von mir)
 

mondnein

Mitglied
Daß man nicht ermüdet beim Lesen, wie es sonst leicht in Sonettenkränzen zu geschehen pflegt, liegt an mehreren Dimensionen des Lesegenusses:
1. Die Lockerzeit, Unverkrampftheit der fließenden Formulierungen; könnte subjektiv sein, ist es auch, aber die Syntax- und Verständnis-Knoten, die bei Sonetten aufgrund einer Hypertrophie der Form auftauchen können, insbesondere in herbeigezwungenen Terzetten, sind hier den ganzen Vierzehnerlauf hindurch gut gelöst, aufgelöst => sie sind schlicht und einfach nicht da, => es gibt keine.
2. das Ganze hat eine konsistente Logik, baut sein Thema schlüssig auf - bis zu der schon von mir so empfundenen Pointe bzw. Peripetie, von der es mit klärender Verdichtung bis zum Meistersonett, das den Inhalt umfassend "vorstellt", harmonisch hinabsteigt.
3. Man liest es gerne wiederholt.
 



 
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