1.Überraschung

molly

Mitglied
1. Überraschung

Überraschung

Christian war 8 Jahre alt. Er lebte mit seinem Vater und der Oma in Freiburg in einer Altbauwohnung. Wer ihn besuchen wollte, musste 36 Stufen hinauf steigen, fast bis unter das Dach. Die Oma nannte ihn "Gris". Sein Vater reiste viel, war oftmals wochenlang unterwegs. Die Mutter hatte Christian nie kennen gelernt. Sie war bald nach seiner Geburt gestorben.

Am letzten Schultag vor den Sommerferien lief Christian mit seinem Freund nach Hause. Stefan sagte:" Ich darf heute nicht trödeln, wir fahren noch am Abend nach Spanien". Christian sagte: „Na, toll, ich verreise nicht!“
Doch wenn Christian geahnt hätte, was er in diesen Ferien alles erleben würde, hätte er seinen Freund bestimmt nicht beneidet. Inzwischen war er Zuhause angekommen und Stefan eilte alleine weiter.

Christian rannte die Treppe hoch und schwenkte sein Zeugnis wie eine Fahne in der Hand. Stürmisch läutete er an der Wohnungstür. Aber nicht die Oma öffnete, sondern ihre Schwester Lioba. Er eilte in die Küche und Tante Lioba folgte ihm. Sie sagte: „Setz dich.“ Ihre Stimme klang sanft und fremd. Wenn die Tante so zu ihm sprach, stimmte etwas nicht. Tante Lioba drückte ihn auf einen Hocker und sagte: "Die Oma hat sich das Bein gebrochen, sie liegt im Krankenhaus. Vorläufig bleibe ich bei dir!"

Christian verzog das Gesicht. Ferien mit Tante Lioba, na toll, das war wie ein Regensommer. Er dachte an die Abenteuer, die er mit der Oma für die Ferienzeit geplant hatte, die Nachtwanderung auf den nahen Schlossberg, die Fahrt ins Elsass. Und nun lag sie im Krankenhaus.
Die Tante stellte einen Teller Suppe vor ihn und sagte: „Iss Bub!" Doch Christian schob den Teller weit von sich. Tante Lioba setzte sich neben ihn und sagte: "Lass den Kopf nicht hängen, du bist doch schon groß und vernünftig!"
„Jetzt auf einmal“, fauchte Christian. Neulich, als er mit ihrem Rad fahren wollte, hatte sie gemeint, er sei noch zu klein dafür. Wie schnell war er nun groß geworden. Aber Suppe mochte er trotzdem keine.
Tante Lioba erhob sich. „Lass dir ruhig Zeit, wenn du gegessen hast, besuchen wir die Oma im Krankenhaus!" Christian hob den Kopf. Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht und fragte: „Warum hast du das nicht gleich gesagt?" Er zog den Teller näher, Suppe schwappte über, aber das war ihm egal. Sollte die Tante doch schimpften. Aber sie sagte kein Wort.
Nachdem Christian gegessen und das Geschirr weggeräumt hatte, fuhren sie mit dem Bus zur Klinik. Damit Tante Lioba ihn nicht an die Hand nehmen konnte, steckte er seine Fäuste in die Hosentaschen. Der Lift brachte sie in den vierten Stock. Die Tante sagte: "Sie liegt in 412. Christian rannte den Flur entlang, fand rasch das Zimmer und riss die Tür auf. Tante Lioba lief hinterher.
Die Oma lag am Fenster und steckte ihm die Arme entgegen. Er schmiegte sich an sie und flüsterte: „warum hast du dir das Bein gebrochen?" Die Oma drückte ihn fest an sich und sagte: „Komm, setz dich doch mal zu mir!" Sie klopfte einladend auf ihr Bett und Christian setzte sich auf den Rand. Die Tante rief: "Vorsichtig, sei nicht so wild, Kind", und zog sich einen Stuhl heran. Die Oma tätschelte Christians Hand. „Weißt du, ich bin einfach ausgerutscht, das kann jedem passieren!"
Christian schluckte schwer und meinte: „Aber Oma, ich habe doch jetzt Ferien. Muss ich die ganze Zeit bei der Tante bleiben?"
Die Oma schüttelte den Kopf und erklärte ihm, dass er die Ferien bei seinem Großvater, dem Vater von Christians verstorbener Mutter, verbringen werde. Christian hob abwehrend die Hände hoch und rief: „Zum Weihnachtsgroßvater! Aber den kenne ich doch gar nicht! Nein, da will ich nicht hin!“
„Es wird höchste Zeit, dass du ihn kennen lernst.“
„Ach Oma, ich bleibe hier, wenn es sein muss auch bei Tante Lioba, und besuche dich jeden Tag!"
„Kommt nicht in Frage, ich habe keine Zeit“, mischte sich die Tante ein. Auch die Oma schüttelte den Kopf und sagte: „Ich habe mit deinem Papa telefoniert. Er wird dich zum Großvater bringen".

Diesen Großvater hatte die Oma auch angerufen und ihm ihre Not geschildert. Er war bereit, Christian eine Weile bei sich aufzunehmen, doch begeistert hatte seine Stimme nicht geklungen.
Christian fragte: „warum hat der fremde Großvater uns noch nie besucht? Die Oma überlegte einen Augenblick und sagte ihm dann, dass der Großvater weit fort in Norddeutschland eine Gaststätte besäße und keine Zeit zum Reisen habe.
Christian lachte laut, seine Oma konnte Gaststätten nicht leiden und wie sie sagte, stank es darin zu sehr nach Bier. Das Essen sei sündhaft teuer. Sie kochte gern und aß viel lieber Zuhause.
Er fragte: "Du willst wirklich, dass ich in einem Gasthaus wohne, bei einem fremden Opa?" Die Oma nickte mit dem Kopf und antwortete: "Ja, genau, der Großvater führt ein gutes Haus. Das ist keine Spelunke und auch keine Räuberhöhle! „Du fährst mit dem Zug zu deinem Papa. Er hat noch in Frankfurt zu arbeiten. Dann reist ihr gemeinsam zum Großvater! Und
nenn ihn auch Großvater, du weißt, dass er die Weihnachtsbriefe stets mit seinem Namen und (in Klammer „Großvater") unterschreibt.“
Während die beiden Frauen die Reisevorbereitungen besprachen, rutschte Christian vom Bett, stellte sich ans Fenster und beobachtete das Treiben auf dem Klinikhof. Zum Abschied umarmte die Oma den Jungen und sagte:
„Gris, mein lieber Bub, ich wünsche dir schöne Ferien!" Christian stöhnte leise, doch nun zog ihn die Tante aus dem Zimmer.

Auf dem Heimweg stiegen sie am Bahnhof aus. Tante Lioba erkundigte sich, wann Christians Zug abfuhr und besorgte die Fahrkarte. Zuhause befahl sie ihm, in der Küche zu spielen, damit sie in Ruhe seinen Koffer packen konnte.
Er war froh, dass diese Tante nur in derselben Straße wohnte und nicht seine Oma war, und dass er bald seinen Vater wieder sah. Er setzte sich auf die Eckbank und las in „Tim und Struppi“ bis Tante Lioba ihn ins Bett schickte.
Doch da erlebte Christian eine große Überraschung. Als er im Bett lag, an die Decke stierte und an seine Oma im Krankenhaus dachte, kam Tante Lioba zu ihm und setzte sich auf seine Bettkante.
Sie sagte: "Schlaf gut, Kind, und mach dir nicht zu viel Sorgen um deine Oma. Es wird schon alles wieder gut werden!" Sie wuschelte ihm durch seine blonden Haare, fuhr ihm über den Kopf, und streichelte seine Wangen, genauso, wie die Oma das sonst tat. Doch als sie ihn küssen wollte, drehte er
den Kopf zur Seite. Sie stand nun rasch auf, strich sich über ihre Schürze und eilte aus dem Zimmer. Christian hörte noch das Telefon läuten. Er drehte sich auf die Seite und schlief ein.


****************************************************
Die Geschichte stammt aus einer Zeit, als hauptsächlich D-Züge unterwegss waren, in denen man noch die Fenster herunter schieben konnte - 1994.
Bitte begleitet Christian in seinen Ferien, macht mich auf Ungereimtheiten und Fehler im Text aufmerksam.

Viele Grüße
molly
 

Choricillo

Mitglied
Ton getroffen

Hallo molly!

Ich bin mehr per Zufall auf deine Story getossen. Aus Zeitgruenden habe ich diesen ersten Teil nur uberflogen. Mir fiel aber sofort der "richtige Ton" auf, in dem du schreibst. Es gelingt nicht jedem, ein Kind dieses Alters so sprechen zu lassen, dass es glaubwurdig ist.

Sobald ich die Zeit finde (und es nicht vergesse) werde ich gerne weiterlesen :)

Gruss
Balmaceda
 

molly

Mitglied
Überraschung

Christian war 8 Jahre alt. Er lebte mit seinem Vater und der Oma in Freiburg in einer Altbauwohnung. Wer ihn besuchen wollte, musste 36 Stufen hinauf steigen, fast bis unter das Dach. Die Oma nannte ihn "Gris". Sein Vater reiste viel, war oftmals wochenlang unterwegs. Die Mutter hatte Christian nie kennen gelernt. Sie war bald nach seiner Geburt gestorben.

Am letzten Schultag vor den Sommerferien lief Christian mit seinem Freund nach Hause. Stefan sagte:" Ich darf heute nicht trödeln, wir fahren noch am Abend nach Spanien". Christian sagte: „Na, toll, ich verreise nicht!“
Doch wenn Christian geahnt hätte, was er in diesen Ferien alles erleben würde, hätte er seinen Freund bestimmt nicht beneidet. Inzwischen war er Zuhause angekommen und Stefan eilte alleine weiter.

Christian rannte die Treppe hoch und schwenkte sein Zeugnis wie eine Fahne in der Hand. Stürmisch läutete er an der Wohnungstür. Aber nicht die Oma öffnete, sondern ihre Schwester Lioba. Er eilte in die Küche und Tante Lioba folgte ihm. Sie sagte: „Setz dich.“ Ihre Stimme klang sanft und fremd. Wenn die Tante so zu ihm sprach, stimmte etwas nicht. Tante Lioba drückte ihn auf einen Hocker und sagte: "Die Oma hat sich das Bein gebrochen, sie liegt im Krankenhaus. Vorläufig bleibe ich bei dir!"

Christian verzog das Gesicht. Ferien mit Tante Lioba, na toll, das war wie ein Regensommer. Er dachte an die Abenteuer, die er mit der Oma für die Ferienzeit geplant hatte, die Nachtwanderung auf den nahen Schlossberg, die Fahrt ins Elsass. Und nun lag sie im Krankenhaus.
Die Tante stellte einen Teller Suppe vor ihn und sagte: „Iss Bub!" Doch Christian schob den Teller weit von sich. Tante Lioba setzte sich neben ihn und sagte: "Lass den Kopf nicht hängen, du bist doch schon groß und vernünftig!"
„Jetzt auf einmal“, fauchte Christian. Neulich, als er mit ihrem Rad fahren wollte, hatte sie gemeint, er sei noch zu klein dafür. Wie schnell war er nun groß geworden. Aber Suppe mochte er trotzdem keine.
Tante Lioba erhob sich. „Lass dir ruhig Zeit, wenn du gegessen hast, besuchen wir die Oma im Krankenhaus!" Christian hob den Kopf. Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht und fragte: „Warum hast du das nicht gleich gesagt?" Er zog den Teller näher, Suppe schwappte über, aber das war ihm egal. Sollte die Tante doch schimpften. Aber sie sagte kein Wort.
Nachdem Christian gegessen und das Geschirr weggeräumt hatte, fuhren sie mit dem Bus zur Klinik. Damit Tante Lioba ihn nicht an die Hand nehmen konnte, steckte er seine Fäuste in die Hosentaschen. Der Lift brachte sie in den vierten Stock. Die Tante sagte: "Sie liegt in 412. Christian rannte den Flur entlang, fand rasch das Zimmer und riss die Tür auf. Tante Lioba lief hinterher.
Die Oma lag am Fenster und steckte ihm die Arme entgegen. Er schmiegte sich an sie und flüsterte: „warum hast du dir das Bein gebrochen?" Die Oma drückte ihn fest an sich und sagte: „Komm, setz dich doch mal zu mir!" Sie klopfte einladend auf ihr Bett und Christian setzte sich auf den Rand. Die Tante rief: "Vorsichtig, sei nicht so wild, Kind", und zog sich einen Stuhl heran. Die Oma tätschelte Christians Hand. „Weißt du, ich bin einfach ausgerutscht, das kann jedem passieren!"
Christian schluckte schwer und meinte: „Aber Oma, ich habe doch jetzt Ferien. Muss ich die ganze Zeit bei der Tante bleiben?"
Die Oma schüttelte den Kopf und erklärte ihm, dass er die Ferien bei seinem Großvater, dem Vater von Christians verstorbener Mutter, verbringen werde. Christian hob abwehrend die Hände hoch und rief: „Zum Weihnachtsgroßvater! Aber den kenne ich doch gar nicht! Nein, da will ich nicht hin!“
„Es wird höchste Zeit, dass du ihn kennen lernst.“
„Ach Oma, ich bleibe hier, wenn es sein muss auch bei Tante Lioba, und besuche dich jeden Tag!"
„Kommt nicht in Frage, ich habe keine Zeit“, mischte sich die Tante ein. Auch die Oma schüttelte den Kopf und sagte: „Ich habe mit deinem Papa telefoniert. Er wird dich zum Großvater bringen".

Diesen Großvater hatte die Oma auch angerufen und ihm ihre Not geschildert. Er war bereit, Christian eine Weile bei sich aufzunehmen, doch begeistert hatte seine Stimme nicht geklungen.
Christian fragte: „warum hat der fremde Großvater uns noch nie besucht? Die Oma überlegte einen Augenblick und sagte ihm dann, dass der Großvater weit fort in Norddeutschland eine Gaststätte besäße und keine Zeit zum Reisen habe.
Christian lachte laut, seine Oma konnte Gaststätten nicht leiden und wie sie sagte, stank es darin zu sehr nach Bier. Das Essen sei sündhaft teuer. Sie kochte gern und aß viel lieber Zuhause.
Er fragte: "Du willst wirklich, dass ich in einem Gasthaus wohne, bei einem fremden Opa?" Die Oma nickte und antwortete: "Ja, genau, der Großvater führt ein gutes Haus. Das ist keine Spelunke und auch keine Räuberhöhle! „Du fährst mit dem Zug zu deinem Papa. Er hat noch in Frankfurt zu arbeiten. Dann reist ihr gemeinsam zum Großvater! Und
nenn ihn auch Großvater, du weißt, dass er die Weihnachtsbriefe stets mit seinem Namen und (in Klammer „Großvater") unterschreibt.“
Während die beiden Frauen die Reisevorbereitungen besprachen, rutschte Christian vom Bett, stellte sich ans Fenster und beobachtete das Treiben auf dem Klinikhof. Zum Abschied umarmte die Oma den Jungen und sagte:
„Gris, mein lieber Bub, ich wünsche dir schöne Ferien!" Christian stöhnte leise, doch nun zog ihn die Tante aus dem Zimmer.

Auf dem Heimweg stiegen sie am Bahnhof aus. Tante Lioba erkundigte sich, wann Christians Zug abfuhr und besorgte die Fahrkarte. Zuhause befahl sie ihm, in der Küche zu spielen, damit sie in Ruhe seinen Koffer packen konnte.
Er war froh, dass diese Tante nur in derselben Straße wohnte und nicht seine Oma war, und dass er bald seinen Vater wieder sah. Er setzte sich auf die Eckbank und las in „Tim und Struppi“ bis Tante Lioba ihn ins Bett schickte.
Doch da erlebte Christian eine große Überraschung. Als er im Bett lag, an die Decke stierte und an seine Oma im Krankenhaus dachte, kam Tante Lioba zu ihm und setzte sich auf seine Bettkante.
Sie sagte: "Schlaf gut, Kind, und mach dir nicht zu viel Sorgen um deine Oma. Es wird schon alles wieder gut werden!" Sie wuschelte ihm durch seine blonden Haare, fuhr ihm über den Kopf, und streichelte seine Wangen, genauso, wie die Oma das sonst tat. Doch als sie ihn küssen wollte, drehte er
den Kopf zur Seite. Sie stand nun rasch auf, strich sich über ihre Schürze und eilte aus dem Zimmer. Christian hörte noch das Telefon läuten. Er drehte sich auf die Seite und schlief ein.


****************************************************
Die Geschichte stammt aus einer Zeit, als hauptsächlich D-Züge unterwegss waren, in denen man noch die Fenster herunter schieben konnte - 1994.
 



 
Oben Unten