10. Das Geschenk

molly

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9. Das Geschenk

Christian ging am Abend frühzeitig in sein Dachkämmerchen. Er stellte sich auf die Truhe und schaute aus dem Fenster. Nicht zu fassen, dass die Tage mit Vater schon vorbei waren. Der lebte nun wieder in Frankfurt. Den Koffer für Indien hatte er auch schon gepackt und eben hatte er angerufen.

Christian sprang von der Truhe, setzte sich auf den Bettrand und schleuderte seine Schuhe von den Füßen. Augenblicklich erinnerte er sich an Tante Lioba. Sie hatte ihm an seinem letzten Tag in Freiburg gepredigt, dass er beim Großvater ein ordentlicher Junge sein sollte. Welch ein Glück, die Tante wohnte ja in Freiburg. Er ließ die Schuhe liegen, legte seine Kleider auf den Stuhl und stieg ins Bett. Nun betrachtete er die hölzerne Decke und begann zu zählen. Ob der Vater wohl wusste, dass diese Decke aus 25 schmalen Brettern bestand? Wenn er doch nur hier wäre! Christian drehte sich zum Fenster. Der Mond grinste ihn an und Christian streckte ihm die Zunge raus. Dann legte er sich auf den Bauch und schaute zur Wand. Er glaubte nicht, dass er jemals wieder einschlafen konnte und dabei war er doch so müde. Seine Oma würde ihm jetzt eine Tasse heiße Milch mit Honig bringen, sich an sein Bett setzen, und mit ihm plaudern. Sein Vater hätte ihm schon längst noch einmal eine Geschichte erzählt, und gesagt, er solle nun Sterne oder Schafe zählen.
Ja, vielleicht half das wirklich! Christian sprang aus dem Bett, stieg nochmal auf die Truhe und betrachtete den Himmel. Doch die Sterne spielten Verstecken und selbst der dicke Mond hatte sich hinter den Wolken verzogen.

Da klopfte jemand an die Tür. Christian sprang von der Truhe, doch noch ehe er sein Bett erreicht hatte, stand der Großvater im Zimmer. Einen Moment blieb er unschlüssig stehen. Dann räusperte er sich und sagte: „Ich glaube, du hast nach den Sternen geschaut“, und dabei strahlte sein Gesicht, als hätte Christian ihm einen großen Blumenstrauß geschenkt. Der Großvater klopfte auf den Truhendeckel und sagte: „Willst du nochmal von hier auf dein Bett springen?“ Rasch stieg Christian wieder auf die Truhe, der Großvater gab ihm die Hand. Dann sprang er los und landete weich auf dem dicken Federbett. Er wiederholte diesen Sprung sooft, bis der Großvater sagte: "Für heute ist es genug, Kris.“

Christian kuschelte sich zufrieden in sein Kissen, der Großvater setzte sich auf den Stuhl und sagte: „Weißt du, deine Mutter, die Ute, die hat das auch jeden Abend gemacht und sie hat am Himmel die Sterne betrachtet!“ Dann ging er zur Truhe und fuhr mit den Fingerspitzen über den Deckel. Er sagte: „Hier hat deine Mutter ihre Schätze aufbewahrt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Truhe schon heute Abend öffne!"

Der Großvater holte aus der Nachttischschublade einen kleinen Schlüssel und öffnete damit das Vorhängeschloss an der Truhe. Leise ächzend schwang der Deckel zurück. Der Großvater beugte sich über die Truhe. So sehr Christian auch den Kopf verrenkte, er sah nicht, was sich darin versteckte.
Er fragte: „Was suchst du denn?"
Der Großvater antwortete: „Das Teleskop, ich habe es schon gefunden!“ Er schloss die Truhe wieder zu und kam mit einem länglichen Etui zum Bett zurück. Er setzte sich auf den Rand, zog ganz vorsichtig ein Fernrohr aus dem Behälter und gab es Christian. Es war beinahe so lang wie sein Arm. Der Großvater sagte: „Vor vielen, vielen Jahren habe ich dieses Teleskop deiner Mutter geschenkt und damit hat sie am Abend den Sternenhimmel betrachtet. Jetzt gehört das Fernrohr dir."
Christian fragte: „Für immer?"
„Ja, für immer“, sagte der Großvater. Christian kniff ein Auge zu, setzte das Fernrohr ans andere Auge und schaute aus dem Fenster: "Es ist nur Nacht draußen“, sagte er. Gemeinsam schoben sie das Fernrohr ins Etui zurück und als der Großvater es in den Schrank legen wollte, bat Christian: „Ich möchte es bei mir behalten!" „In Ordnung“, sagte der Großvater und legte das Geschenk an die Wandseite vom Bett.
„Ich weiß, dein Vater und deine Oma erzählen dir Gute Nacht Geschichten, aber ich kenne keine mehr. Willst du mir nicht etwas erzählen?“ Christian nickte und begann mit der Geschichte vom tapferen Schneiderlein, seinem Lieblingsmärchen. Doch schon nach drei Sätzen wurde seine Stimme leiser. Seine Augendeckel waren plötzlich bleischwer. "Sieben Fliegen erschlagen“, murmelte Christian mühsam. Bevor er endgültig einschlief, legte er die Hand aufs Fernrohr und murmelte. "Ein Schatz von meiner Mama! Ich hätte sie gern gekannt, meine Mama.“
Der Großvater knipste das Licht aus und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.
 



 
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