10. Der Freund
Als ich näherkam, bemerkte ich, daß dieser Jemand mich ansah. Er stand langsam auf, machte einen Schritt nach vorne, drehte sich dann zu mir und blieb so stehen. Wieso sah er mich an, wieso stand er jetzt da? Ich war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Er schien mir den Weg versperren zu wollen, unbeweglich, breitbeinig, und fixierte mich mit einem durchdringenden Blick. Es war klar, daß er irgendetwas von mir wollte. Er wirkte gelassen, war ganz ruhig und versuchte erfolgreich, ein freundliches und unkompliziertes Lächeln aufzusetzen. Hatte er auf mich gewartet? Wie lange schon hatte er mich beobachtet? Wer war er überhaupt? Ich kannte ihn nicht und war von dieser plötzlichen Konfrontation so überrascht, daß ich nichts anderes tun konnte, als ganz willenlos und passiv auf das zu reagieren, was da auf mich zukam. Er handelte, ich mußte geschehen lassen. Sollte ich ihn ignorieren oder nicht? Schon war ich bei ihm angelangt und stand direkt vor seinem Gesicht; die Entscheidung war mir genommen. Ich versuchte, den direkten Blickkontakt mit ihm zu meiden. Er schien darauf vorbereitet zu sein und wartete offensichtlich umso entschlossener darauf, daß ich seinen Blick auffing. Er wollte es und fühlte in seiner Überlegenheit auch das Recht, es zu wollen. Indem er absichtlich nichts sagte und mich das Ausgesetztsein in dieser unvorhergesehenen Begegnung spüren ließ, zwang er mich schließlich dazu, ihm in die Augen zu sehen. (Er hatte schöne Augen.) Wir standen uns gegenüber, sahen uns gegenseitig an und schwiegen. Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte. Wußte er es? Warum ging ich nicht einfach weiter?
Plötzlich sagte er etwas. Er sagte es, ohne seine Körperhaltung oder seinen Blick zu verändern. Alles blieb gleich, bis auf dieses Wort, welches lautete: „Brot“.
Ich verstand nicht.
„Das Brot“, wiederholte er.
„Wie bitte?“
Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung wies er kurz in die Richtung, aus der ich gekommen war, und sagte abermals:
„Das Brot! Gerade vorhin, du weißt schon.“
Da begriff ich, daß er mich beobachtet hatte und auf das Brot anspielte, das ich soeben weggeworfen hatte. Und bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, was nun zu tun sei, stellte er sich schon kumpelhaft neben mich, nahm mich freundschaftlich am Oberarm, in sanfter Bestimmtheit keinen Widerspruch duldend, bewegte mich zum gleichzeitigen Losgehen und erklärte mir dann im langsamen Schritt, vertraulich gestikulierend (und fast ein wenig wichtigtuerisch):
„Weißt du, ich hab dich beobachtet. Wir müssen reden.“
„Aha?“, sagte ich.
Mit einer kurzen Geste wies seine Hand auf eine Bank, und wir setzten uns widerspruchslos. Er zögerte, atmete tief aus, lächelte mich kurz nervös an. Seine anfängliche Gelassenheit schien verflogen zu sein. Während er offensichtlich seine Gedanken sammelte und mit den Worten rang, den Blick auf den Boden gerichtet, sah ich ihn verwirrt an und wartete darauf, daß er das Schweigen brach. Wer war er?
„Also“, begann er.
„Ich hab dich beobachtet. Wie du gekommen bist, mit dem Brot in der Hand. Wie du nachgedacht hast. Wie du das Brot weggeworfen hast. Wie du ... wie es dir aufgefallen ist, daß du das Brot weggeworfen hast. Und wie du dich hingesetzt hast. Das alles hab ich beobachtet.“
Und dann sagte er noch, vorsichtig und ein wenig schuldbewußt lächelnd, so wie einer, der zufällig etwas Intimes entdeckt und anstatt sich taktvoll zurückzuziehen nur noch unerbittlicher auf die Offenlegung der ganzen Wahrheit drängt:
„Das war großartig. Bitte erkläre es mir.“
Und er zwinkerte mir erwartungsvoll zu und wirkte wieder so gelassen wie zu Beginn unserer Begegnung. Seine Worte klangen merkwürdig vertraut, ganz freundlich und vertrauenerweckend. Und seine Augen waren groß und ehrlich. (Und schön.) Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er mich schon gefangen in einem Netz aus Wörtern und Blicken, hatte mich in eine Sackgasse gelockt, aus der es nur den Ausweg der bedingungslosen Offenheit gab, und allem Anschein nach wollte er jetzt – wie unerklärlich, dieser sanfte Blick! – zärtlich sein zu dem Fisch, den er da aus dem Wasser geholt hatte ... Wieder schauten wir uns schweigend an, wieder fehlten mir die Worte und eine ganz grundsätzliche, unaussprechliche Fähigkeit für derartige Situationen, eine menschliche oder rhetorische, allemal spontane Kompetenz. Auch das schien er gewußt zu haben. Seelenruhig blickte er mich weiter an, nahm mir mit jeder Sekunde etwas von meiner Verkrampfung, ließ mit jeder verrinnenden, wortlosen Zeitspanne mein Schweigen immer überflüssiger und kraftloser werden, und sagte endlich, leise und mit einem auffordernden und doch zurückhaltenden Kopfnicken:
„Sag es einfach. Ich glaub, ich versteh dich. Sag’s mir einfach. Sag es.“
Und da sagte ich es. Ich war überredet, war besiegt von seinem Charisma, von dieser höheren Kraft, die ich in ihm zu erkennen glaubte und gegen die sich zu wehren blanker Hohn gegen das Schicksal gewesen wäre. Ich spürte unterbewußt, daß sich da etwas anbahnte, was so sein mußte; ich wußte irgendwie, daß ich keine andere Wahl hatte, ja daß mein Gegenüber eine Art Freund war, ein langjähriger Freund, den ich nicht einmal persönlich kennen mußte, um doch mit ihm innig vereint zu sein. Ich erzählte ihm meine Geschichte, sagte alles das, was ich über Brot zu sagen hatte, und holte schließlich noch weiter aus, gelangte zu meinen Malversuchen und berichtete ihm auch darüber. Ich ging schließlich so weit zurück, bis ich mich in der Grauheit meiner frühen Jahre verlor und nichts Interessantes mehr wußte, das ich ihm hätte erzählen können. Nicht ganz sicher darüber, ob mir in meiner von hinten nach vorne aufgerollten Lebensgeschichte ein angemessenes und gutes Ende gelingen würde, versandeten meine Worte in der Landschaft, die ich da vor uns beiden aufgetan hatte. Aus einem Redefluß wurde ein ruckartiges, peristaltisches Plätschern, und wie bei einem undichten Wasserhahn, der fest zugedreht ist und dennoch tropft, fügte ich noch zögernd die eine oder andere Bemerkung an. Ich schloß nicht mit „das war’s“ und blickte ihn auch nicht ungeduldig und eine Erklärung verlangend an, nein, ich schwieg nur, mied wieder seinen Blick und war von meinen eigenen Erlebnissen, die zum ersten Mal offen ausgesprochen waren, so überrascht, als wären sie mir bisher unbekannt gewesen. War ich es, der da eben so merkwürdige Dinge über Brot geäußert hatte?
Er aber sagte während meiner Ausführungen kein einziges Wort, schien nur hin und wieder ein leises Kopfnicken andeuten zu wollen, ohne wirklich zu nicken, und mehrere Male schmunzelte er wissend, als käme ihm vieles bekannt vor – dabei war es doch meine eigene, einzigartige, unbekannte, groteske Geschichte!
Keiner traute sich etwas zu sagen, denn wir wußten beide nicht, ob ich noch etwas hinzufügen wollte oder schon ans Ende meiner Erzählung gelangt war.
Wieso erzählte ich diesem wildfremden Menschen von meinen privaten Gedanken? Wieso plapperte ich auf einmal ohne Hemmungen los und offenbarte ihm meine intimen Gefühle? Daß ich schaffen wollte und scheiterte, daß ich entdecken wollte und fand, daß ich nicht wußte, was meine eigene Aufgabe in dieser Welt war, daß ich schließlich das Brot entdeckte, seinen Mikrokosmos, seine Unendlichkeit und schließlich sein Ende, das soeben in einem Mülleimer im Park besiegelt worden war? Wer war er, daß er alles erfahren durfte, was in mir geschah; all das, was ich nie einem anderen Menschen erzählt hatte, was nicht einmal ich selbst verstehen konnte?
Es spielte keine Rolle. Ich wußte nur eines: Dieser Jemand, der da neben mir saß und meinen Erzählungen über das Brot mit so großer Aufmerksamkeit folgte, war mein Freund. Ich kannte ihn nicht, aber er war mein Freund.
Der Freund begriff schließlich – noch vor mir selbst –, daß ich alles gesagt hatte, was zu sagen war. Er hielt sich noch still, schien zu warten, und verlor sich mit einem nach wie vor wissenden Blick in die Ferne. Etwas Humorvoll-Ernstes spielte auf seinem Gesicht, und er wirkte kurzzeitig abwesend. Dann verschränkte er in einer auffällig deutlichen und verzögerten Bewegung seine Hände hinter dem Kopf, streckte die Beine aus, hing dann ganz gelassen da, in sich ruhend, schaute nirgendwo hin und durchdrang doch alles, ließ wieder sein flüchtiges Lächeln tanzen, schien den Augenblick auszukosten und tausend solcher Augenblicke daraus machen zu wollen, und er schwieg, bewußt und absichtlich, und er wußte, daß irgendwann mein Blick zu ihm wanderte, zu ihm wandern mußte, daß ich ihn mit wachsender Spannung und mit großen Fragezeichen in meinen Augen ansah, ansehen mußte, daß all das Ungeklärte, das zwischen uns lag, durch meinen Monolog nicht weniger, sondern mehr geworden war, daß sich hier wieder etwas anstaute, daß sich etwas ankündigte, daß etwas geboren wurde – wie eine dicke Knospe, die endlich erleichtert aufspringt und verspätet erblüht.
All sein Verhalten ließ ihn sehr erfahren und stark erscheinen, obwohl er nicht viel älter als ich gewesen sein dürfte. Plötzlich kam mir die irrwitzige Idee, ihn auf die Probe zu stellen. Noch bevor er das lange, für ihn genußvolle Schweigen mit einem wohlüberlegten und vermutlich orakelhaften Wort beenden konnte, kam ich ihm zuvor und fragte ihn:
„Wie geht sie weiter? Meine Geschichte: Wie geht sie weiter?“
Er schien kurz verwirrt und war sichtlich bemüht, die Initiative nicht an mich abzugeben, entgegnete mir dann aber doch überraschend sicher und mit alter, fast überheblicher Gelassenheit:
„Wie die Geschichte letztlich weitergeht, ist nicht so wichtig. Wichtig ist nur, daß du immer weißt, daß du dich in einer Geschichte befindest. Und daß du diese Geschichte nicht nur lesen, sondern auch schreiben mußt! Schreibe deine Geschichte so, daß dir das Schreiben Freude bereitet. Schreibe sie so, daß du dich schon während des Schreibens auf das nächste Kapitel freust. Aber schreibe sie immer auch so, daß du mit Genugtuung das Buch zuschlagen könntest, wenn du plötzlich feststellst, daß es kein weiteres Kapitel gibt ...“
Und dann, ganz gedankenverloren und wie im Selbstgespräch:
„Ja, ja, kein weiteres Kapitel ... kein weiteres Kapitel, und dennoch Genugtuung ... aber was ist schon Handlung! Was ist schon Geschichte!“
Und er erhob sich, breitete die Arme aus und deklamierte elegisch in eine nicht mir zugewandte Richtung:
„Ihr gurrenden Tauben da drüben: Wie geht eure Geschichte weiter? Dieses Kind da hinten: Warum freut es sich, wo es doch nicht weiß, was morgen ist?“
Dann drehte er sich zu mir um, hielt kurz inne, lächelte mich noch einmal freundlich an und ging dann zügig weg. Und ich saß da, verwirrter als je zuvor und völlig unfähig, auch nur das Geringste zu verstehen.
Als ich näherkam, bemerkte ich, daß dieser Jemand mich ansah. Er stand langsam auf, machte einen Schritt nach vorne, drehte sich dann zu mir und blieb so stehen. Wieso sah er mich an, wieso stand er jetzt da? Ich war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Er schien mir den Weg versperren zu wollen, unbeweglich, breitbeinig, und fixierte mich mit einem durchdringenden Blick. Es war klar, daß er irgendetwas von mir wollte. Er wirkte gelassen, war ganz ruhig und versuchte erfolgreich, ein freundliches und unkompliziertes Lächeln aufzusetzen. Hatte er auf mich gewartet? Wie lange schon hatte er mich beobachtet? Wer war er überhaupt? Ich kannte ihn nicht und war von dieser plötzlichen Konfrontation so überrascht, daß ich nichts anderes tun konnte, als ganz willenlos und passiv auf das zu reagieren, was da auf mich zukam. Er handelte, ich mußte geschehen lassen. Sollte ich ihn ignorieren oder nicht? Schon war ich bei ihm angelangt und stand direkt vor seinem Gesicht; die Entscheidung war mir genommen. Ich versuchte, den direkten Blickkontakt mit ihm zu meiden. Er schien darauf vorbereitet zu sein und wartete offensichtlich umso entschlossener darauf, daß ich seinen Blick auffing. Er wollte es und fühlte in seiner Überlegenheit auch das Recht, es zu wollen. Indem er absichtlich nichts sagte und mich das Ausgesetztsein in dieser unvorhergesehenen Begegnung spüren ließ, zwang er mich schließlich dazu, ihm in die Augen zu sehen. (Er hatte schöne Augen.) Wir standen uns gegenüber, sahen uns gegenseitig an und schwiegen. Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte. Wußte er es? Warum ging ich nicht einfach weiter?
Plötzlich sagte er etwas. Er sagte es, ohne seine Körperhaltung oder seinen Blick zu verändern. Alles blieb gleich, bis auf dieses Wort, welches lautete: „Brot“.
Ich verstand nicht.
„Das Brot“, wiederholte er.
„Wie bitte?“
Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung wies er kurz in die Richtung, aus der ich gekommen war, und sagte abermals:
„Das Brot! Gerade vorhin, du weißt schon.“
Da begriff ich, daß er mich beobachtet hatte und auf das Brot anspielte, das ich soeben weggeworfen hatte. Und bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, was nun zu tun sei, stellte er sich schon kumpelhaft neben mich, nahm mich freundschaftlich am Oberarm, in sanfter Bestimmtheit keinen Widerspruch duldend, bewegte mich zum gleichzeitigen Losgehen und erklärte mir dann im langsamen Schritt, vertraulich gestikulierend (und fast ein wenig wichtigtuerisch):
„Weißt du, ich hab dich beobachtet. Wir müssen reden.“
„Aha?“, sagte ich.
Mit einer kurzen Geste wies seine Hand auf eine Bank, und wir setzten uns widerspruchslos. Er zögerte, atmete tief aus, lächelte mich kurz nervös an. Seine anfängliche Gelassenheit schien verflogen zu sein. Während er offensichtlich seine Gedanken sammelte und mit den Worten rang, den Blick auf den Boden gerichtet, sah ich ihn verwirrt an und wartete darauf, daß er das Schweigen brach. Wer war er?
„Also“, begann er.
„Ich hab dich beobachtet. Wie du gekommen bist, mit dem Brot in der Hand. Wie du nachgedacht hast. Wie du das Brot weggeworfen hast. Wie du ... wie es dir aufgefallen ist, daß du das Brot weggeworfen hast. Und wie du dich hingesetzt hast. Das alles hab ich beobachtet.“
Und dann sagte er noch, vorsichtig und ein wenig schuldbewußt lächelnd, so wie einer, der zufällig etwas Intimes entdeckt und anstatt sich taktvoll zurückzuziehen nur noch unerbittlicher auf die Offenlegung der ganzen Wahrheit drängt:
„Das war großartig. Bitte erkläre es mir.“
Und er zwinkerte mir erwartungsvoll zu und wirkte wieder so gelassen wie zu Beginn unserer Begegnung. Seine Worte klangen merkwürdig vertraut, ganz freundlich und vertrauenerweckend. Und seine Augen waren groß und ehrlich. (Und schön.) Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er mich schon gefangen in einem Netz aus Wörtern und Blicken, hatte mich in eine Sackgasse gelockt, aus der es nur den Ausweg der bedingungslosen Offenheit gab, und allem Anschein nach wollte er jetzt – wie unerklärlich, dieser sanfte Blick! – zärtlich sein zu dem Fisch, den er da aus dem Wasser geholt hatte ... Wieder schauten wir uns schweigend an, wieder fehlten mir die Worte und eine ganz grundsätzliche, unaussprechliche Fähigkeit für derartige Situationen, eine menschliche oder rhetorische, allemal spontane Kompetenz. Auch das schien er gewußt zu haben. Seelenruhig blickte er mich weiter an, nahm mir mit jeder Sekunde etwas von meiner Verkrampfung, ließ mit jeder verrinnenden, wortlosen Zeitspanne mein Schweigen immer überflüssiger und kraftloser werden, und sagte endlich, leise und mit einem auffordernden und doch zurückhaltenden Kopfnicken:
„Sag es einfach. Ich glaub, ich versteh dich. Sag’s mir einfach. Sag es.“
Und da sagte ich es. Ich war überredet, war besiegt von seinem Charisma, von dieser höheren Kraft, die ich in ihm zu erkennen glaubte und gegen die sich zu wehren blanker Hohn gegen das Schicksal gewesen wäre. Ich spürte unterbewußt, daß sich da etwas anbahnte, was so sein mußte; ich wußte irgendwie, daß ich keine andere Wahl hatte, ja daß mein Gegenüber eine Art Freund war, ein langjähriger Freund, den ich nicht einmal persönlich kennen mußte, um doch mit ihm innig vereint zu sein. Ich erzählte ihm meine Geschichte, sagte alles das, was ich über Brot zu sagen hatte, und holte schließlich noch weiter aus, gelangte zu meinen Malversuchen und berichtete ihm auch darüber. Ich ging schließlich so weit zurück, bis ich mich in der Grauheit meiner frühen Jahre verlor und nichts Interessantes mehr wußte, das ich ihm hätte erzählen können. Nicht ganz sicher darüber, ob mir in meiner von hinten nach vorne aufgerollten Lebensgeschichte ein angemessenes und gutes Ende gelingen würde, versandeten meine Worte in der Landschaft, die ich da vor uns beiden aufgetan hatte. Aus einem Redefluß wurde ein ruckartiges, peristaltisches Plätschern, und wie bei einem undichten Wasserhahn, der fest zugedreht ist und dennoch tropft, fügte ich noch zögernd die eine oder andere Bemerkung an. Ich schloß nicht mit „das war’s“ und blickte ihn auch nicht ungeduldig und eine Erklärung verlangend an, nein, ich schwieg nur, mied wieder seinen Blick und war von meinen eigenen Erlebnissen, die zum ersten Mal offen ausgesprochen waren, so überrascht, als wären sie mir bisher unbekannt gewesen. War ich es, der da eben so merkwürdige Dinge über Brot geäußert hatte?
Er aber sagte während meiner Ausführungen kein einziges Wort, schien nur hin und wieder ein leises Kopfnicken andeuten zu wollen, ohne wirklich zu nicken, und mehrere Male schmunzelte er wissend, als käme ihm vieles bekannt vor – dabei war es doch meine eigene, einzigartige, unbekannte, groteske Geschichte!
Keiner traute sich etwas zu sagen, denn wir wußten beide nicht, ob ich noch etwas hinzufügen wollte oder schon ans Ende meiner Erzählung gelangt war.
Wieso erzählte ich diesem wildfremden Menschen von meinen privaten Gedanken? Wieso plapperte ich auf einmal ohne Hemmungen los und offenbarte ihm meine intimen Gefühle? Daß ich schaffen wollte und scheiterte, daß ich entdecken wollte und fand, daß ich nicht wußte, was meine eigene Aufgabe in dieser Welt war, daß ich schließlich das Brot entdeckte, seinen Mikrokosmos, seine Unendlichkeit und schließlich sein Ende, das soeben in einem Mülleimer im Park besiegelt worden war? Wer war er, daß er alles erfahren durfte, was in mir geschah; all das, was ich nie einem anderen Menschen erzählt hatte, was nicht einmal ich selbst verstehen konnte?
Es spielte keine Rolle. Ich wußte nur eines: Dieser Jemand, der da neben mir saß und meinen Erzählungen über das Brot mit so großer Aufmerksamkeit folgte, war mein Freund. Ich kannte ihn nicht, aber er war mein Freund.
Der Freund begriff schließlich – noch vor mir selbst –, daß ich alles gesagt hatte, was zu sagen war. Er hielt sich noch still, schien zu warten, und verlor sich mit einem nach wie vor wissenden Blick in die Ferne. Etwas Humorvoll-Ernstes spielte auf seinem Gesicht, und er wirkte kurzzeitig abwesend. Dann verschränkte er in einer auffällig deutlichen und verzögerten Bewegung seine Hände hinter dem Kopf, streckte die Beine aus, hing dann ganz gelassen da, in sich ruhend, schaute nirgendwo hin und durchdrang doch alles, ließ wieder sein flüchtiges Lächeln tanzen, schien den Augenblick auszukosten und tausend solcher Augenblicke daraus machen zu wollen, und er schwieg, bewußt und absichtlich, und er wußte, daß irgendwann mein Blick zu ihm wanderte, zu ihm wandern mußte, daß ich ihn mit wachsender Spannung und mit großen Fragezeichen in meinen Augen ansah, ansehen mußte, daß all das Ungeklärte, das zwischen uns lag, durch meinen Monolog nicht weniger, sondern mehr geworden war, daß sich hier wieder etwas anstaute, daß sich etwas ankündigte, daß etwas geboren wurde – wie eine dicke Knospe, die endlich erleichtert aufspringt und verspätet erblüht.
All sein Verhalten ließ ihn sehr erfahren und stark erscheinen, obwohl er nicht viel älter als ich gewesen sein dürfte. Plötzlich kam mir die irrwitzige Idee, ihn auf die Probe zu stellen. Noch bevor er das lange, für ihn genußvolle Schweigen mit einem wohlüberlegten und vermutlich orakelhaften Wort beenden konnte, kam ich ihm zuvor und fragte ihn:
„Wie geht sie weiter? Meine Geschichte: Wie geht sie weiter?“
Er schien kurz verwirrt und war sichtlich bemüht, die Initiative nicht an mich abzugeben, entgegnete mir dann aber doch überraschend sicher und mit alter, fast überheblicher Gelassenheit:
„Wie die Geschichte letztlich weitergeht, ist nicht so wichtig. Wichtig ist nur, daß du immer weißt, daß du dich in einer Geschichte befindest. Und daß du diese Geschichte nicht nur lesen, sondern auch schreiben mußt! Schreibe deine Geschichte so, daß dir das Schreiben Freude bereitet. Schreibe sie so, daß du dich schon während des Schreibens auf das nächste Kapitel freust. Aber schreibe sie immer auch so, daß du mit Genugtuung das Buch zuschlagen könntest, wenn du plötzlich feststellst, daß es kein weiteres Kapitel gibt ...“
Und dann, ganz gedankenverloren und wie im Selbstgespräch:
„Ja, ja, kein weiteres Kapitel ... kein weiteres Kapitel, und dennoch Genugtuung ... aber was ist schon Handlung! Was ist schon Geschichte!“
Und er erhob sich, breitete die Arme aus und deklamierte elegisch in eine nicht mir zugewandte Richtung:
„Ihr gurrenden Tauben da drüben: Wie geht eure Geschichte weiter? Dieses Kind da hinten: Warum freut es sich, wo es doch nicht weiß, was morgen ist?“
Dann drehte er sich zu mir um, hielt kurz inne, lächelte mich noch einmal freundlich an und ging dann zügig weg. Und ich saß da, verwirrter als je zuvor und völlig unfähig, auch nur das Geringste zu verstehen.