Der schwach erscheint wird einst führen.
Junger Prinz wird König sein.
(Buch der Prophezeiung)
Mickel blickte trotzig zu dem größeren Jungen auf, der so nahe vor ihm stand, dass Mickel seinen Schweiß riechen konnte. Das Innenleben des Elfjährigen sah anders aus. Er hatte Angst!
Ein kleiner Blutfaden lief aus seinem linken Nasenloch in Richtung der leicht angeschwollenen Oberlippe, wo ihn die Faust des drei Jahre älteren Sören so schmerzhaft getroffen hatte. Mickels Arme wurden von zwei weiteren älteren Jungen festgehalten, die ihrem Anführer Sören feixend zuschauten. Die anderen Kinder schienen keine Notiz von den Vorkommnissen zu nehmen. Mickel war eben der Neue. Da musste er durch.
Sören klemmte sich die Zigarette, die er wahrscheinlich einem der Lehrer gestohlen hatte, in den linken Mundwinkel.
„Du hast also kapiert!“, zischte er, wobei die Zigarette auf und ab wippte. „Ab Morgen bekomme ich deinen Nachtisch, klar?“
Einer der anderen Jungs kicherte. Mickel nahm seinen Mut zusammen und spuckte Sören in sein pockennarbiges Gesicht. Der größere Junge schaute ihn mit einer Mischung aus Zorn und Erstaunen an, wischte sich dann mit dem Ärmel des T-Shirts über das Gesicht. Im nächsten Moment traf seine Faust Mickels Magengegend und der Elfjährige sank stöhnend nach unten, nur noch von den beiden anderen Jungen an den Armen aufrecht gehalten. Bevor sie ihn wieder hochziehen konnten, erklang hinter Sören eine helle Stimme.
„Meinst du nicht, dass es reicht, Sören?“, fragte sie. Es war ein Mädchen, aber Mickel konnte nicht die Energie aufbringen, zu ihr aufzuschauen, um festzustellen, wer sie war.
„Was geht es dich an, Zicke?“, schnappte Sören und ließ von Mickel ab.
„Ihr seid wirklich mutig!“, stellte sie abfällig fest. „Drei Große gegen einen Kleinen.“
„Kommt Jungs, ich denke, der weiß jetzt Bescheid.“
Die beiden ließen Mickel los, was dazu führte, dass er endgültig zu Boden sank. Er krümmte sich zusammen und fühlte die kühlen Steinplatten des Schulkorridors an seiner Wange. Ihm war speiübel und vor seinen Augen drehten sich bunte Kreise. Aus dem Augenwinkel sah er Sören und die beiden anderen gehen – oder besser: er sah ihre in Turnschuhen steckenden Füße.
„Bist du okay?“, fragte seine Retterin und ging neben Mickel in die Hocke. Jetzt konnte er ihre Schuhe und ein Paar hellblaue Jeans erkennen.
„Geht schon“, brachte Mickel mühsam hervor und versuchte sich aufzurichten. Mit der Hilfe des Mädchens kam er leicht schwankend auf die Beine. Er bekämpfte die wieder aufkommende Übelkeit und hob den Kopf. Sie war älter als er, wahrscheinlich dreizehn oder vierzehn, hatte rötlich blonde Locken, die ihr ungezügelt vom Kopf ab standen, und ein von großen blauen Augen dominiertes Sommersprossengesicht mit einer niedlichen Stupsnase. Mickel fand sie wunderschön.
„Danke“, sagte er verlegen und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
„Schon gut“, sagte sie. „Meine Güte, die haben dich ja ganz schön zugerichtet!“
„Halb so schlimm“, versuchte Mickel abzuschwächen.
„Hier, wisch dir mal das Blut ab!“ Sie hielt ihm ein Papiertaschentuch hin.
Mickel schmeckte das Blut jetzt auch und es wurde ihm beinahe wieder schlecht. Tapfer hielt er sich auf den Beinen, nahm das Taschentuch und wischte sich Mund und Nase ab.
„Ich heiße übrigens Solveig“, stellte sich das Mädchen vor. „Du bist Mickel, oder?“
Mickel nickte.
„Lass dich von diesen Ärschen nicht einschüchtern!“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Mickel brachte ein mühsames Lächeln zustande und schüttelte den Kopf. Seine Lippe schmerzte fürchterlich und fühlte sich an, als sei sie so dick wie ein Fahrradschlauch.
„Das ist schon besser!“ Solveig grinste. „Soll ich dir meinen Lieblingsplatz zeigen?“
„Klar, bestimmt besser als hier“, nuschelte Mickel undeutlich.
„Dann komm!“ Das Mädchen winkte Mickel, ihr zu folgen.
Die beiden verließen das Schulgebäude, gingen zwischen den Dormitorien für Jungen und Mädchen hindurch und überquerten den verschneiten Sportplatz. Als sie den kleinen Hügel auf der anderen Seite der Laufbahn empor gestapft waren, sah Mickel überrascht, dass es dahinter einen kleinen, von hohem Schilf umstandenen See gab. Direkt in das Schilf hinein reichte ein hölzerner Steg, dessen runde Stützbalken, die den eigentlichen Steg um vielleicht zwei Meter überragten, halbkugelige Hüte aus Schnee trugen. Den Steg selbst hatte man vom Schnee befreit.
Solveig dreht sich zu Mickel um und grinste ihn an. Dann lief sie lachend in Richtung Steg. Der Junge folgte ihr. Außer Atem wartete das Mädchen auf Mickel und präsentierte stolz „ihren Platz“.
„Na, was sagst du?“
„Toll!“, gestand Mickel und ließ sich an einem der Stützbalken nach unten sinken. Es war zwar kalt, aber Mickel genoss die frische, klare Winterluft. „Im Winter ist man hier fast immer allein.“ Solveig setzte sich ihm gegenüber im Schneidersitz auf den Steg.
„Erzähl mal“, forderte sie ihn dann auf. „Wie hat es dich hierher verschlagen?“
Mickel zögerte, schaute aber dann in das offene Gesicht seiner neuen Freundin und gab sich einen Ruck.
„Na ja, meine Oma ist vor einer Woche gestorben und da ich sonst keine Verwandten mehr habe, bin ich eben hier gelandet.“
„Und was ist mit deinen Eltern?“
„Die sind bei einem Autounfall gestorben, als ich zwei Jahre alt war. Danach war ich bei meinen Großeltern in Aalborg.“
Solveig nickte und beide schwiegen eine Weile.
„Wie lange bist du schon hier?“, durchbrach Mickel das Schweigen.
„Acht Jahre. Ich bin ein alter Hase in diesem Laden!“ Sie lachte und es klang gar nicht bitter.
„Was ist mit deiner Familie geschehen?“ Mickel schaute sie fragend an. Die kühle Luft tat seiner geschwollenen Lippe gut.
„Mein Vater ist abgehauen, als ich geboren wurde. Meine Mutter hatte Drogenprobleme und die Behörden haben mich von ihr weggeholt, weil sie sich nicht mehr um mich gekümmert hat. Tja, und jetzt bin ich hier.“ Sie grinste.
Wieder schwiegen sie für eine Weile. Mickel ließ den Blick über den kleinen See schweifen, der an den Ufern zuzufrieren begann. Das Wasser lag unbewegt und schwer wie Öl. Ein schlanker, lang gestreckter Körper – wohl eine Bisamratte - huschte durch das Schilf und glitt dann blitzschnell und geräuschlos in das eisige Wasser. Mickels Gedanken glitten ab zu seiner Großmutter, die sich bis kurz vor ihrem Tod um ihn gekümmert hatte. Wehmut kam in ihm auf. Solveig schien das zu spüren.
„Du wirst dich schon eingewöhnen“, prophezeite sie ihm. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. „Ohje! Ich muss zum Sportunterricht! Der alte Andersen bekommt sonst noch einen Herzanfall!“ Sie sprang auf, wuschelte durch Mickels Haar. „Bleib ruhig noch hier, wenn du willst!“
Mickel nickte dankbar und verabschiedete Solveig mit einem Lächeln. Er beobachtete das Mädchen, das durch den Schnee davonlief, bis es hinter dem schneebedeckten Hügel verschwand und wandte sich dann wieder dem See zu. Es gab ihm ein warmes Gefühl, nach drei Tagen an diesem Ort, vor dem er sich so gefürchtet hatte, endlich einen Freund gefunden zu haben.
An den Stützbalken gelehnt hing er seinen Gedanken nach, merkte dadurch zunächst nicht, dass mit der Landschaft um ihn herum eine Veränderung vorging. Erst als der merkwürdige Nebel, der aus dem See aufstieg, die Plattform des Stegs erreicht hatte, wurde Mickel aufmerksam. Der Nebel schien fast flüssige Konsistenz zu haben, „überschwemmte“ den Steg regelrecht. Gleichzeitig begann es nach Blumen zu riechen. Mickel wollte aufstehen, fühlte sich aber plötzlich so schwach, dass er ächzend zurücksank. Wie aus weiter Ferne, als geschähe das alles jemand anderem, beobachtete er das weitere Ansteigen des Nebels. Der Blumenduft wurde stärker, betäubend, einschläfernd. Mickels Augenlider ließen sich nicht mehr heben, schlugen zu wie stählerne Schotte. Und dann war da nur noch Schwärze ...
Junger Prinz wird König sein.
(Buch der Prophezeiung)
Mickel blickte trotzig zu dem größeren Jungen auf, der so nahe vor ihm stand, dass Mickel seinen Schweiß riechen konnte. Das Innenleben des Elfjährigen sah anders aus. Er hatte Angst!
Ein kleiner Blutfaden lief aus seinem linken Nasenloch in Richtung der leicht angeschwollenen Oberlippe, wo ihn die Faust des drei Jahre älteren Sören so schmerzhaft getroffen hatte. Mickels Arme wurden von zwei weiteren älteren Jungen festgehalten, die ihrem Anführer Sören feixend zuschauten. Die anderen Kinder schienen keine Notiz von den Vorkommnissen zu nehmen. Mickel war eben der Neue. Da musste er durch.
Sören klemmte sich die Zigarette, die er wahrscheinlich einem der Lehrer gestohlen hatte, in den linken Mundwinkel.
„Du hast also kapiert!“, zischte er, wobei die Zigarette auf und ab wippte. „Ab Morgen bekomme ich deinen Nachtisch, klar?“
Einer der anderen Jungs kicherte. Mickel nahm seinen Mut zusammen und spuckte Sören in sein pockennarbiges Gesicht. Der größere Junge schaute ihn mit einer Mischung aus Zorn und Erstaunen an, wischte sich dann mit dem Ärmel des T-Shirts über das Gesicht. Im nächsten Moment traf seine Faust Mickels Magengegend und der Elfjährige sank stöhnend nach unten, nur noch von den beiden anderen Jungen an den Armen aufrecht gehalten. Bevor sie ihn wieder hochziehen konnten, erklang hinter Sören eine helle Stimme.
„Meinst du nicht, dass es reicht, Sören?“, fragte sie. Es war ein Mädchen, aber Mickel konnte nicht die Energie aufbringen, zu ihr aufzuschauen, um festzustellen, wer sie war.
„Was geht es dich an, Zicke?“, schnappte Sören und ließ von Mickel ab.
„Ihr seid wirklich mutig!“, stellte sie abfällig fest. „Drei Große gegen einen Kleinen.“
„Kommt Jungs, ich denke, der weiß jetzt Bescheid.“
Die beiden ließen Mickel los, was dazu führte, dass er endgültig zu Boden sank. Er krümmte sich zusammen und fühlte die kühlen Steinplatten des Schulkorridors an seiner Wange. Ihm war speiübel und vor seinen Augen drehten sich bunte Kreise. Aus dem Augenwinkel sah er Sören und die beiden anderen gehen – oder besser: er sah ihre in Turnschuhen steckenden Füße.
„Bist du okay?“, fragte seine Retterin und ging neben Mickel in die Hocke. Jetzt konnte er ihre Schuhe und ein Paar hellblaue Jeans erkennen.
„Geht schon“, brachte Mickel mühsam hervor und versuchte sich aufzurichten. Mit der Hilfe des Mädchens kam er leicht schwankend auf die Beine. Er bekämpfte die wieder aufkommende Übelkeit und hob den Kopf. Sie war älter als er, wahrscheinlich dreizehn oder vierzehn, hatte rötlich blonde Locken, die ihr ungezügelt vom Kopf ab standen, und ein von großen blauen Augen dominiertes Sommersprossengesicht mit einer niedlichen Stupsnase. Mickel fand sie wunderschön.
„Danke“, sagte er verlegen und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
„Schon gut“, sagte sie. „Meine Güte, die haben dich ja ganz schön zugerichtet!“
„Halb so schlimm“, versuchte Mickel abzuschwächen.
„Hier, wisch dir mal das Blut ab!“ Sie hielt ihm ein Papiertaschentuch hin.
Mickel schmeckte das Blut jetzt auch und es wurde ihm beinahe wieder schlecht. Tapfer hielt er sich auf den Beinen, nahm das Taschentuch und wischte sich Mund und Nase ab.
„Ich heiße übrigens Solveig“, stellte sich das Mädchen vor. „Du bist Mickel, oder?“
Mickel nickte.
„Lass dich von diesen Ärschen nicht einschüchtern!“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Mickel brachte ein mühsames Lächeln zustande und schüttelte den Kopf. Seine Lippe schmerzte fürchterlich und fühlte sich an, als sei sie so dick wie ein Fahrradschlauch.
„Das ist schon besser!“ Solveig grinste. „Soll ich dir meinen Lieblingsplatz zeigen?“
„Klar, bestimmt besser als hier“, nuschelte Mickel undeutlich.
„Dann komm!“ Das Mädchen winkte Mickel, ihr zu folgen.
Die beiden verließen das Schulgebäude, gingen zwischen den Dormitorien für Jungen und Mädchen hindurch und überquerten den verschneiten Sportplatz. Als sie den kleinen Hügel auf der anderen Seite der Laufbahn empor gestapft waren, sah Mickel überrascht, dass es dahinter einen kleinen, von hohem Schilf umstandenen See gab. Direkt in das Schilf hinein reichte ein hölzerner Steg, dessen runde Stützbalken, die den eigentlichen Steg um vielleicht zwei Meter überragten, halbkugelige Hüte aus Schnee trugen. Den Steg selbst hatte man vom Schnee befreit.
Solveig dreht sich zu Mickel um und grinste ihn an. Dann lief sie lachend in Richtung Steg. Der Junge folgte ihr. Außer Atem wartete das Mädchen auf Mickel und präsentierte stolz „ihren Platz“.
„Na, was sagst du?“
„Toll!“, gestand Mickel und ließ sich an einem der Stützbalken nach unten sinken. Es war zwar kalt, aber Mickel genoss die frische, klare Winterluft. „Im Winter ist man hier fast immer allein.“ Solveig setzte sich ihm gegenüber im Schneidersitz auf den Steg.
„Erzähl mal“, forderte sie ihn dann auf. „Wie hat es dich hierher verschlagen?“
Mickel zögerte, schaute aber dann in das offene Gesicht seiner neuen Freundin und gab sich einen Ruck.
„Na ja, meine Oma ist vor einer Woche gestorben und da ich sonst keine Verwandten mehr habe, bin ich eben hier gelandet.“
„Und was ist mit deinen Eltern?“
„Die sind bei einem Autounfall gestorben, als ich zwei Jahre alt war. Danach war ich bei meinen Großeltern in Aalborg.“
Solveig nickte und beide schwiegen eine Weile.
„Wie lange bist du schon hier?“, durchbrach Mickel das Schweigen.
„Acht Jahre. Ich bin ein alter Hase in diesem Laden!“ Sie lachte und es klang gar nicht bitter.
„Was ist mit deiner Familie geschehen?“ Mickel schaute sie fragend an. Die kühle Luft tat seiner geschwollenen Lippe gut.
„Mein Vater ist abgehauen, als ich geboren wurde. Meine Mutter hatte Drogenprobleme und die Behörden haben mich von ihr weggeholt, weil sie sich nicht mehr um mich gekümmert hat. Tja, und jetzt bin ich hier.“ Sie grinste.
Wieder schwiegen sie für eine Weile. Mickel ließ den Blick über den kleinen See schweifen, der an den Ufern zuzufrieren begann. Das Wasser lag unbewegt und schwer wie Öl. Ein schlanker, lang gestreckter Körper – wohl eine Bisamratte - huschte durch das Schilf und glitt dann blitzschnell und geräuschlos in das eisige Wasser. Mickels Gedanken glitten ab zu seiner Großmutter, die sich bis kurz vor ihrem Tod um ihn gekümmert hatte. Wehmut kam in ihm auf. Solveig schien das zu spüren.
„Du wirst dich schon eingewöhnen“, prophezeite sie ihm. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. „Ohje! Ich muss zum Sportunterricht! Der alte Andersen bekommt sonst noch einen Herzanfall!“ Sie sprang auf, wuschelte durch Mickels Haar. „Bleib ruhig noch hier, wenn du willst!“
Mickel nickte dankbar und verabschiedete Solveig mit einem Lächeln. Er beobachtete das Mädchen, das durch den Schnee davonlief, bis es hinter dem schneebedeckten Hügel verschwand und wandte sich dann wieder dem See zu. Es gab ihm ein warmes Gefühl, nach drei Tagen an diesem Ort, vor dem er sich so gefürchtet hatte, endlich einen Freund gefunden zu haben.
An den Stützbalken gelehnt hing er seinen Gedanken nach, merkte dadurch zunächst nicht, dass mit der Landschaft um ihn herum eine Veränderung vorging. Erst als der merkwürdige Nebel, der aus dem See aufstieg, die Plattform des Stegs erreicht hatte, wurde Mickel aufmerksam. Der Nebel schien fast flüssige Konsistenz zu haben, „überschwemmte“ den Steg regelrecht. Gleichzeitig begann es nach Blumen zu riechen. Mickel wollte aufstehen, fühlte sich aber plötzlich so schwach, dass er ächzend zurücksank. Wie aus weiter Ferne, als geschähe das alles jemand anderem, beobachtete er das weitere Ansteigen des Nebels. Der Blumenduft wurde stärker, betäubend, einschläfernd. Mickels Augenlider ließen sich nicht mehr heben, schlugen zu wie stählerne Schotte. Und dann war da nur noch Schwärze ...