11. Alles lautet „ja“

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Rokwe

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11. Alles lautet „ja“

Nur noch blanker Fatalismus war es, was ich am Ende dieses merkwürdigen Tages fühlen konnte, ein widerspenstiges und doch machtloses Zähneknirschen vor der dunklen, unbekannten Größe, die mich durchs Leben warf, mit mir spielte, über mich verfügte. Unruhig zuckte ich auf meinem Bett hin und her, kopfschüttelnd, bitter lachend. Würde ich ihn wiedersehen? Jedes seiner Worte war geheimnisvoll gewesen, jeder Blick eine Nullsumme aus Aussage und Frage zugleich. Ein Rätsel. Eine Meerestiefe. Eine geschlossene Blume. (Welche Farbe hatte sie? War sie giftig? Stachelig? Fleischfressend? War sie ... schön?) Ich mußte ihn wiedersehen, etwas drängte mich streng zu ihm hin, zu ihm, dem unbekannten, namenlosen Freund. Welche Bedeutung hatte unsere Begegnung? Wo war er hingegangen? Wo war er jetzt? Wie würde ich ihn wiederfinden können?
Wenigstens diese eine Gewißheit hatte ich: Etwas drängte mich, etwas mußte so sein. Nichts war egal. Nein, es mußten notwendige Abläufe am Werk sein, in die ich mit hineingezogen wurde – und das machte mich fast ein wenig stolz, denn ich verstand, daß ich in irgendeiner Hinsicht wichtig war. In all meinen sonderbaren Erlebnissen konnte keine Gleichgültigkeit liegen, kein Zufall. Ich begriff, daß mit mir etwas geschah, daß ich Teil von etwas war, Phase eines Vorgangs, dringend benötigtes Glied eines größeren Ganzen, das vielleicht Sinn in sich barg. Ich wurde mir meiner selbst bewußt, nun deutlicher als je zuvor. Wenn ich schon nichts von dem begriff, was mein wüstes Leben war, so wußte ich doch, daß es mein wüstes Leben war. Ich geschehe, dachte ich unscharf und wälzte mich auf die andere Seite, ich wurde, werde und werde werden. Daß – es – mein – wüstes – Leben – ist, dachte ich. Und ich dachte daran, daß ich dachte, und dann dachte ich ganz kurz, nur einen Moment lang, an den Gedanken, daß ich dachte.
Ich, dachte ich.
Daß es ist, dachte ich, daß ich bin. Was heißt „ist“? Was heißt „bin“? Was heißt „sein“?
DAS SEIN, dachte ich.
Das schlicht und einfach Da-Seiende, dachte ich.
Die Faktizität, dachte ich, die Tatsache, die Gegebenheit.
Die Augenscheinlichkeit, die Evidenz.
Der Ja-Tatbestand.
Die Positivität an sich.
Das, wovon man ausgehen muß.
Das, worauf zutrifft, daß es der Fall ist.
Das Phänomen des Zutreffens an sich.
Das Unleugbare, das nicht Wegzudenkende.
Der Gedanke, daß etwas nicht wegzudenken ist, an sich.
Der einzig überhaupt denkbare Zustand.
Das sich selbst die Hände reichende Existierende.
Das sich selbst Hervorbringende.
Das Perpetuum mobile.
Der Geist, der stets bejaht.
Die Bedingung, ohne die nicht.
Das Axiom.
Das Reale.
Das Wirkliche.
Das Wahre.
Das Echte.
Das Eigentliche.
Das Identische.
Das Eine.
Das Ganze.
Die Mitte.
Das „Auge“.
Der „Pol“.
Der Grund-Punkt.
Das Ur-Plus.
Das Anti-Anti, wollte ich denken, aber ich erkannte sofort, daß dieser Gedanke unbrauchbar war, denn „Anti-Anti“ ist zweimal negativ; ich aber wollte an das ausschließlich Positive denken. (Ich fühlte die Krückenhaftigkeit jeder Definition, die mit der Verneinung des Gegenteils arbeiten muß, und erinnerte mich daran, daß ich wenige Augenblicke zuvor denselben Fehler schon im Gedanken des Unleugbaren und des nicht Wegzudenkenden begangen hatte. Sogar mit der Bedingung, ohne die nicht war ich in die Falle der zweifachen Negation getappt, wie ich mit aufrichtigem, wenn auch mittlerweile schon sehr müdem Bedauern feststellte.)
Also vielleicht besser: Das, wogegen „anti“ ist?, überlegte ich. Nein, nein, nein ... Das, was „pseudo“ zu sein glaubt? Das Sein wehrte sich offenbar dagegen, in Worte gefaßt zu werden; stattdessen wurde es in Bildern und Gefühlen lebendig, die unsagbar waren.
Das [es], dachte ich.
Das [ja!].
Das [schlechthin].
Das [par excellence].
Das [an sich].
Das [A = Ω]
Das [1 = ∞].
Das Konzept „1“ schlechthin. („1“ nicht als die Hälfte von „2“, sondern als das Gegenteil von „0“, fühlte ich.)
Das Prinzip der „1“-heit.
Das Moment der „1“-nis.
Das „1“-tum.
Das „ “.
...
Wie unaussprechlich!, murmelte ich anerkennend im Halbschlaf.
Das Universum – eine stumme Bejahung.
Die Welt – ein göttliches Kopfnicken.
Der Mensch – ein Seiender, ein Seier, ein Da-Seier.
Seiend und werdend – kein Widerspruch ist darin, dachte ich, denn Widerspruch hieße nein. Alles lautet aber „ja“, dachte ich; ich heiße „Ja“, dachte ich. Die Tatsache, daß ich „Ja“ heiße, dachte ich. Die Gewißheit, daß. Keine Gewißheit, was, aber die Gewißheit, daß. Die tröstliche Gewißheit, daß. Die sichere, unbezweifelbare, tröstliche Gewißheit, daß: Leben. Daß: Mein Leben. Zwar wüst. Verworren. Verschlüsselt. Aber ganz sicher: Daß. Leben, Leben, Leben, dachte ich, mein, mein, ich. Wüst, wüst, wüst, alles wüst. Alles wüst, alles Leben, nichts mein, nichts mein, nichts mein, nichts, nichts, nichts, null, null, schwarz, aus ...
„ “, dachte ich.
Und so rumorte es noch einige gedachte Augenblicke lang in meinem wüsten, unbezweifelbaren Kopf, immer trüber, immer ertrunkener, und dann – kein Luftholen mehr! – war ich eingeschlafen und sank gedämpft hinab in ein nächtliches Reich. Es war kein traumloser Schlaf.
Als ich wieder aufwachte, früh am nächsten Mittag, dauerte es lange, bis ich einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Der Schlaf hielt mich noch hartnäckig mit seinen klebrigen Flügeln bedeckt, und wie schwerer Honig hing mir die betäubende Dunkelheit in den Augen. Ganz allmählich schälten sich die Konturen des gestrigen Tages heraus, wurden zu einer weichgezeichneten Silhouette, schließlich zu einer scharfumrandeten Karikatur. Ich erinnerte mich daran, daß ich Brot weggeworfen und einen sehr merkwürdigen Menschen kennengelernt hatte, und ich war mir nicht ganz sicher, bis zu welchem Grad ich mich im realen Leben, in einem Traum oder Alptraum oder in allem gleichzeitig befand. Immerhin konnte ich mich an dem Gedanken aufrichten, daß ich mich zumindest irgendwo befand; es war undenkbar, daß ich nirgendwo oder gar nicht war – Grund genug, auch diesmal wieder die Bettdecke zurückzuschlagen und mich der Kälte der Welt zu entblößen, mit der jeder neue Tag zwangsläufig beginnen muß. Seit gestern war ich endgültig aus jeglichem regulären Alltag ausgeklinkt, hatte keine Ahnung, was ich „eigentlich“ zu tun hatte, interessierte mich auch nicht dafür. Ich hatte nichts anderes im Sinn, als meinen Freund wiederzusehen. Da ich nichts über ihn wußte und mit ihm auch nichts vereinbart hatte, bevor er mich so plötzlich verließ, blieb mir keine andere Wahl, als mich wieder in den Park zu begeben und zu hoffen, ihn dort anzutreffen. Seltsam optimistisch gestimmt und mit der plötzlichen Erinnerung an meine schläfrigen Amateur-Ontologismen vom Abend zuvor machte ich mich auf den Weg. Das [ja!], dachte ich, und wieder einmal war ein Kopfschütteln die einzige Geste auf der Welt, die es vermochte, meinen Gefühlen als sichtbarer Ausdruck zu dienen. Ich war überrascht, welch sonderbare Wörter ich kannte und was für bizarre Ideen sich schon wieder in meinem Kopf eingenistet hatten.
„ “, dachte ich amüsiert und erwog ernsthaft den Versuch, es auszusprechen, doch da bog ich schon mit großen Schritten in den Park ein und war mit meinen Gedanken nur noch bei dem, den ich dort finden wollte.
 



 
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