Christa Reuch
Mitglied
11. Dezember
Heute war der dritte Adventssonntag. Sabrina kuschelte sich noch eine Weile gemütlich in ihre Bettdecke und las ein Buch. Wie versprochen hatte Hanna gestern Abend noch angerufen, aber viel Neues konnte Sabrina ihr nicht erzählen, genau genommen gar nichts. Sie fragte sie jedoch, ob sie auch kommen wolle. Nach anfänglichem Zögern stimmte Hanna zu.
Als Sabrina jetzt im Bett lag und daran dachte, musste sie grinsen. Einerseits spielte Hanna ganz gerne beleidigt, andererseits kannte sie keinen neugierigeren Menschen. Apropos neugierig! Sie hatte ja das nächste Türchen noch nicht geöffnet. Schnell hüpfte sie aus dem Bett und holte dies nach.
Das Bild zeigte eine Familie unterm Christbaum. Sie feierten Weihnachten. Die Gesichter der Familie erkannte sie nicht genau, aber wohl, dass es sich eindeutig um Vater, Mutter, ein Mädchen und ein Baby handelte. Sabrina überlegte. Was das wohl wieder bedeutete?
Nachdem sie sich eine Weile den Kopf zerbrochen hatte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, ging sie hinunter. Ihre Eltern saßen bereits am gedeckten Küchentisch, und auf dem Adventskranz brannten drei Kerzen. Sabrina wünschte einen guten Morgen und setzte sich.
»Was würdet Ihr denken, wenn Ihr ein Bild seht, auf dem eine Familie unter dem Christbaum Geschenke auspackt?« Gespannt wartete sie auf eine Antwort. Ihr Vater sah sie erstaunt an.
»Ich würde denken, dass es der vierundzwanzigste Dezember ist und die Familie Weihnachten feiert. Warum? Ist das ein Rätsel?« Sabrina nickte.
»Genau, ein Rätsel!«, gab sie ausweichend zu. Da sie sich aber nicht weiter dazu äußerte, sondern sich stattdessen eine Semmel nahm, vergaßen ihre Eltern die Frage ganz schnell. Voller Ungeduld wartete sie auf Hendrik und Hanna.
Als die beiden endlich eintrafen, verzogen sie sich sofort in Sabrinas Zimmer. Sabrina holte den Adventskalender und nun erzählten die Mädchen abwechselnd die ganze Geschichte. Hendrik hörte aufmerksam zu und unterbrach sie kein einziges Mal. Anschließend schwiegen alle drei und nur Sabrinas Wecker verursachte ein Geräusch.
»Und was meinst du?“, platzte Sabrina schließlich heraus, »Hältst du uns jetzt für verrückt?“
Hendrik sah sie erstaunt an. »Nein, natürlich nicht! Ich hatte schon immer das Gefühl, dass mit dem alten Haus etwas nicht stimmt und als kleines Kind wohnte ich gar nicht gerne drin.« Er dachte nach.
»Fassen wir doch mal zusammen was wir wissen: Irgendetwas ist am vierundzwanzigsten Dezember passiert. Allerdings kennen wir das Jahr nicht. Und es scheint mit dem verschwundenen Vertrag zusammenzuhängen. Soweit einverstanden?« Die Mädchen stimmten zu. »Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich eigentlich fast nichts über meine Familie. Ich werde später mal meine Eltern anrufen und Onkel Kasimir ausfragen.«
»Am besten so«, riet ihm Sabrina, »dass sie es nicht merken. Erwachsene wollen immer alles genau wissen.« Da sie in dieser Angelegenheit im Moment nicht weiterkamen, beschlossen sie Schlitten fahren zu gehen.
12. Dezember
Als sie an diesem Morgen das nächste Türchen öffnete, erblickte sie ein kleines Mädchen. Und genau wie der Junge am zehnten Dezember schien auch dieses Kind ihr zuzuwinken. Sie beeilte sich, um Hanna noch vor dem Unterricht davon zu erzählen.
Wieder einmal verging der Vormittag quälend langsam. Sabrina sah alle paar Minuten auf ihre Armbanduhr, doch ausgerechnet heute hatte der Minutenzeiger ihrer Uhr beschlossen, sich nur im Schneckentempo voran zubewegen. Der Schulgong erlöste alle Schüler, zumindest diejenigen, die keinen Nachmittagsunterricht hatten. Sabrina und Hanna gehörten zu den Glücklichen und liefen nach Schulschluss gleich zu Herrn Baltasars Laden. Ihren Müttern hatten sie erzählt, sie kämen heute etwas später heim, da sie in der Schulbibliothek noch etwas nachschlagen müssten. Ein klein wenig plagte sie deswegen das schlechte Gewissen, doch sie entschuldigten diese Notlüge mit dem (hoffentlich) guten Zweck. Hendrik wartete bereits.
»Und, was war heute hinter der Türe verborgen?«, fragte er gespannt.
»Ein kleines Mädchen! Vielleicht fünf oder sechs Jahre alt!«, antwortete Sabrina, »Sagt dir das etwas?« Leider konnte er damit überhaupt nichts anfangen.
»Was hast du denn über deine Familie herausgefunden?«, wollte nun Hanna wissen.
»Nicht viel!« Hendrik zuckte bedauernd mit den Schultern. »Mein Großvater Sebastian Baltasar war der Bruder von Kasimir und Amalie, also von Frau Kroll. Tante Amalie heiratete einen Herrn Kroll, der aber schon lange nicht mehr lebt. Darum heißt sie Kroll und nicht Baltasar. Sebastian, Kasimir und Amalie waren die Kinder von Sebastian und Anna Baltasar. Wieder ein Sebastian! Das ist also mein Urgroßvater. Dessen Mutter Klara, also meine Ururgroßmutter führte bereits diesen Laden hier, allerdings als Buchhandlung.“ Die Mädchen schauten sich an.
»Schon mal ein Puzzelteilchen!«, freute sich Sabrina und fragte dann, »Darf ich mal die Toilette benutzen?«
»Klar, einfach die zweite Türe rechts, gegenüber der Küche.«
Als Sabrina wieder den Gang zurückging, spürte sie einen kalten Luftzug an ihrer Wange. Sie drehte sich um und sah ein kleines Mädchen am anderen Ende des Ganges stehen. Das Mädchen winkte ihr zu. Sabrina rieb sich die Augen. Aber als sie erneut hinsah, war es verschwunden. Habe ich mir wohl nur eingebildet, dachte sie. Seltsam! Sie schüttelte sich kurz und ging dann wieder in Hendriks Zimmer. Die Erscheinung des kleinen Mädchens würde sie vorerst noch für sich behalten. Darüber musste sie zuvor nachdenken.
»Ich muss jetzt nach Hause! Meine Mutter wird sonst misstrauisch!«, erklärte sie bedauernd. Hanna musste lachen.
»Ja, mir geht es auch so, vor allem, weil ich normalerweise nicht gerne lese und somit bisher noch nie viel Zeit in einer Bibliothek verbracht habe.«
»Kann ich verstehen«, entgegnete Hendrik. »Also nicht, dass du nicht gerne liest, das kann ich nicht verstehen, aber dass eure Mütter dumme Fragen stellen. Ich glaube, sie müssen so sein. Eltern wollen immer wissen, wo man ist oder was man genau tut, weil sie ständig Angst haben, es könnte etwas passieren! Echt lästig!« Die Mädchen stimmten ihm zu und verabschiedeten sich erst von Hendrik, und bevor sie durch die Ladentüre ins Freie traten, auch noch von Herrn Baltasar.
»Habt ihr heute noch einmal Zeit«, rief Hendrik ihnen nach. Die Freundinnen schüttelten betrübt den Kopf.
»Wir schreiben morgen Matheschulaufgabe. Leider! Eigentlich eine Gemeinheit uns die Vorweihnachtszeit mit Schulaufgaben zu versauen.«
»Tja, da muss man durch!«, grinste Hendrik und verschwand wieder im Laden.
13. Dezember
Am liebsten wäre Sabrina in der Früh liegen geblieben. Doch dann fiel ihr der Adventskalender wieder ein und sie sprang hurtig aus dem Bett. Als sie das nächste Türchen aufmachte, befand sich darin ein Zettel. Neugierig faltete sie ihn auseinander. Wer nicht glaubt, was er sieht, kann auch nicht sehen, was er glaubt. Was sollte das denn schon wieder bedeuten? Sabrina blickte verständnislos auf das Papierstück und las es noch einige Male. Vielleicht fällt ja Hanna oder Hendrik dazu etwas ein, dachte sie, als sie in ihre Klamotten schlüpfte. Noch vor dem Unterricht bekam Hanna ihn zu lesen.
Doch auch sie hatte keinen blassen Schimmer und so mussten sie sich wohl gedulden, bis sie sich nachmittags mit Hendrik trafen.
»Und wie war die Schulaufgabe«, fragte Hendrik zunächst.
»Ganz gut«, antwortete Hanna, während Sabrina ein »ging schon mal besser« vor sich hinmurmelte. Dann zeigte Sabrina Hendrik den Zettel. Ratlos starrte Hendrik auf die Zeilen und dachte dann einige Minuten angestrengt nach. Anschließend blickte er den Mädchen forschend ins Gesicht:
»Ihr seid euch sicher, dass ihr mir alles erzählt habt? Nichts aus Versehen vergessen oder weggelassen, weil es vielleicht unwichtig erscheint?« Hanna verneinte und sah zu Sabrina. Diese wollte gerade den Kopf schütteln, als ihr das Mädchen von gestern einfiel.
» Naja«, fing sie verlegen an und errötete leicht, »da gibt es etwas, aber ich weiß nicht einmal, ob ich es wirklich gesehen habe.« Gespannt warteten die beiden anderen, dass sie fort fuhr. »Also«, begann sie von Neuem, »als wir dich gestern besucht haben, musste ich doch auf die Toilette. Und als ich wieder zu euch zurückging, dachte ich, ein kleines Mädchen zu sehen. Als ich noch einmal hinschaute, war es verschwunden und ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet.«
»Und warum hast du uns nicht gleich davon erzählt?«, fragte Hanna empört.
»Tut mir leid, aber ich war mir doch gar nicht sicher, ob ich überhaupt etwas gesehen habe.« Zerknirscht schaute Sabrina ihre Freunde an.
»Nicht so schlimm«, meinte Hendrik, »Aber jetzt wissen wir wenigstens, was die Worte auf dem Zettel bedeuten sollen.«
»So, wissen wir das?« Hanna blickte ihn zweifelnd an.
»Klar«, entgegnete Hendrik und triumphierend erklärte er: »Wenn wir nicht glauben, dass Sabrina einen Geist gesehen hat und das kleine Mädchen ist ja wohl einer, dann werden wir das Geheimnis des Hauses und des verschwundenen Vertrages nie entschlüsseln. Wir müssen daran glauben, dass uns der Geist hilft, die Lösung zu finden.« Hendrik grinste die Freundinnen an und genoss die bewundernden Blicke, mit denen beide ihn ansahen.
»Ich glaube, du hast recht«, gab Sabrina schließlich zu, »hoffen wir also, dass sich der Geist noch einmal zeigt.« Nachdenklich fügte sie noch hinzu: »Ist euch aufgefallen, dass manche Räume des Hauses kalt und ungemütlich wirken, auch wenn sie beheizt sind, während es zum Beispiel in der Küche warm ist und man sich wohl fühlt?« Jetzt staunten die anderen beiden.
»Wenn ich ehrlich sein soll«, entgegnete Hendrik schließlich, »habe ich bisher nicht darauf geachtet, aber wenn ich es mir recht überlege, es stimmt.«
Die Kinder beschlossen einen Rundgang durch das Haus zu machen und schlenderten gemächlich von Zimmer zu Zimmer. Doch nichts geschah. Sabrina und Hanna mussten heim und enttäuscht stiegen die Kinder die Treppe zum Laden hinunter. Sabrina drehte sich noch einmal um und hielt den Atem an. Dort oben stand sie wieder und blickte auf sie herab. Sabrina packte Hendrik so fest am Arm, dass er leise aufschrie.
»Spinnst du?«, fauchte er und drehte sich zu ihr um.
Da sah er es auch und tippte seinerseits Hanna, die vor ihm ging, auf die Schulter. Schweigend schauten die drei nach oben, bis Sabrina langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, wieder hinaufging, den Blick immer auf das kleine Mädchen gerichtet. Es sah genau so aus, wie auf dem Bild hinter dem zwölften Türchen. In ungefähr zwei Metern Entfernung blieb Sabrina stehen und sprach mit gedämpfter Stimme auf den Geist ein. So leise, dass Hanna und Hendrik nicht verstanden, was Sabrina sagte. Anschließend winkte das kleine Mädchen ihnen zu und verschwand. Nachdenklich stieg sie wieder zu Hanna und Hendrik hinunter. Behutsam fasste Hanna ihre Freundin am Arm.
»Was hast du ihr gesagt?« Mit großen Augen sah Sabrina sie an.
»Natürlich dass wir ihr helfen! Und dass sie uns vertrauen kann. Wir andererseits jedoch auf ihre Hilfe angewiesen sind.« Dann schwieg sie und verließ den Laden. Hanna verabschiedete sich und folgte der Freundin.
14. Dezember
Als Sabrina aufwachte, fiel ihr sofort das Erlebnis von gestern wieder ein. Seltsamerweise hatte sie in Gegenwart des Geistes keine Angst verspürt, sondern nur große Traurigkeit. Was musste dieses kleine Mädchen wohl erleben?
»Wir werden es herausfinden und dir helfen«, sagte sie laut. Dann stand sie auf und nahm den Adventskalender. Hinter dem vierzehnten Türchen verbargen sich zwei Baumstämme und ein Pfeil. Sollen wir jetzt mit Pfeil und Bogen auf Bäume schießen, oder wie ist das gemeint? Verwirrt runzelte sie die Stirn. Na, da werde ich wohl warten müssen, bis ich Hanna und Hendrik treffe.
Vor Unterrichtsbeginn erzählte sie Hanna noch schnell, was sich hinter dem Türchen versteckte. Hendrik schaute zufällig in der Mittagspause kurz vorbei. Sabrina musste grinsen. Von wegen ‚zufällig’! Neugier trieb ihn her, aber sie behielt ihre Gedanken für sich, denn eigentlich freute sie sich, ihn zu sehen. Auch er konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen, versprach jedoch darüber nachzudenken.
Nachmittags hatten sie leider keine Zeit für ihn, da morgen in der Schule das Weihnachtskonzert stattfand und heute Nachmittag mussten sie pünktlich zur Generalprobe erscheinen. Dafür wollten sie ihn morgen gleich nach der Schule im Laden besuchen.
Der Anrufbeantworter blinkte, als Sabrina nach der Generalprobe nach Hause kam. Schnell hörte sie die Nachrichten ab. Bis auf einen Anrufer wollten alle ihre Mutter sprechen. Diese eine Nachricht kam von Hendrik. Sie solle möglichst rasch zurückrufen. Sie drückte die Rückruftaste und wartete. Als Herr Baltasar sich meldete, fragte sie, ob sie wohl mit Hendrik sprechen könne.
»Hallo Sabrina! Ich glaube, ich weiß, was die Baumstämme zu bedeuten haben«, kam er gleich zur Sache. »Es sind keine Baumstämme gemeint, sondern Stammbäume!« Sabrina konnte förmlich spüren wie er selbstzufrieden vor sich hin grinste, aber sie musste zugeben, dass der Vorschlag gut war. Bevor sie nachhaken konnte, sprach er schon weiter. »Ich werde einen Stammbaum von meiner Familie anfertigen, soweit ich es eben weiß. Den zeige ich euch dann morgen. Einverstanden?“ Was für eine Frage! »Oder hast du eine Emailadresse? Dann schicke ich ihn dir per Email! Du musst ihn dann nur noch ausdrucken.“ Wenn es nach Sabrina gegangen wäre, hätte es auch bis morgen Zeit gehabt, aber sie gab ihm ihre Emailadresse und verabschiedete sich. Eine halbe Stunde später kam die versprochene Email und sie druckte sie sich aus:
Hallo Sabrina, hier wie versprochen der Stammbaum. Er ist allerdings nicht vollständig. Ich weiß zum Beispiel immer noch nicht, wie mein Ururgroßvater hieß. Bis morgen, Hendrik
Heute war der dritte Adventssonntag. Sabrina kuschelte sich noch eine Weile gemütlich in ihre Bettdecke und las ein Buch. Wie versprochen hatte Hanna gestern Abend noch angerufen, aber viel Neues konnte Sabrina ihr nicht erzählen, genau genommen gar nichts. Sie fragte sie jedoch, ob sie auch kommen wolle. Nach anfänglichem Zögern stimmte Hanna zu.
Als Sabrina jetzt im Bett lag und daran dachte, musste sie grinsen. Einerseits spielte Hanna ganz gerne beleidigt, andererseits kannte sie keinen neugierigeren Menschen. Apropos neugierig! Sie hatte ja das nächste Türchen noch nicht geöffnet. Schnell hüpfte sie aus dem Bett und holte dies nach.
Das Bild zeigte eine Familie unterm Christbaum. Sie feierten Weihnachten. Die Gesichter der Familie erkannte sie nicht genau, aber wohl, dass es sich eindeutig um Vater, Mutter, ein Mädchen und ein Baby handelte. Sabrina überlegte. Was das wohl wieder bedeutete?
Nachdem sie sich eine Weile den Kopf zerbrochen hatte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, ging sie hinunter. Ihre Eltern saßen bereits am gedeckten Küchentisch, und auf dem Adventskranz brannten drei Kerzen. Sabrina wünschte einen guten Morgen und setzte sich.
»Was würdet Ihr denken, wenn Ihr ein Bild seht, auf dem eine Familie unter dem Christbaum Geschenke auspackt?« Gespannt wartete sie auf eine Antwort. Ihr Vater sah sie erstaunt an.
»Ich würde denken, dass es der vierundzwanzigste Dezember ist und die Familie Weihnachten feiert. Warum? Ist das ein Rätsel?« Sabrina nickte.
»Genau, ein Rätsel!«, gab sie ausweichend zu. Da sie sich aber nicht weiter dazu äußerte, sondern sich stattdessen eine Semmel nahm, vergaßen ihre Eltern die Frage ganz schnell. Voller Ungeduld wartete sie auf Hendrik und Hanna.
Als die beiden endlich eintrafen, verzogen sie sich sofort in Sabrinas Zimmer. Sabrina holte den Adventskalender und nun erzählten die Mädchen abwechselnd die ganze Geschichte. Hendrik hörte aufmerksam zu und unterbrach sie kein einziges Mal. Anschließend schwiegen alle drei und nur Sabrinas Wecker verursachte ein Geräusch.
»Und was meinst du?“, platzte Sabrina schließlich heraus, »Hältst du uns jetzt für verrückt?“
Hendrik sah sie erstaunt an. »Nein, natürlich nicht! Ich hatte schon immer das Gefühl, dass mit dem alten Haus etwas nicht stimmt und als kleines Kind wohnte ich gar nicht gerne drin.« Er dachte nach.
»Fassen wir doch mal zusammen was wir wissen: Irgendetwas ist am vierundzwanzigsten Dezember passiert. Allerdings kennen wir das Jahr nicht. Und es scheint mit dem verschwundenen Vertrag zusammenzuhängen. Soweit einverstanden?« Die Mädchen stimmten zu. »Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich eigentlich fast nichts über meine Familie. Ich werde später mal meine Eltern anrufen und Onkel Kasimir ausfragen.«
»Am besten so«, riet ihm Sabrina, »dass sie es nicht merken. Erwachsene wollen immer alles genau wissen.« Da sie in dieser Angelegenheit im Moment nicht weiterkamen, beschlossen sie Schlitten fahren zu gehen.
12. Dezember
Als sie an diesem Morgen das nächste Türchen öffnete, erblickte sie ein kleines Mädchen. Und genau wie der Junge am zehnten Dezember schien auch dieses Kind ihr zuzuwinken. Sie beeilte sich, um Hanna noch vor dem Unterricht davon zu erzählen.
Wieder einmal verging der Vormittag quälend langsam. Sabrina sah alle paar Minuten auf ihre Armbanduhr, doch ausgerechnet heute hatte der Minutenzeiger ihrer Uhr beschlossen, sich nur im Schneckentempo voran zubewegen. Der Schulgong erlöste alle Schüler, zumindest diejenigen, die keinen Nachmittagsunterricht hatten. Sabrina und Hanna gehörten zu den Glücklichen und liefen nach Schulschluss gleich zu Herrn Baltasars Laden. Ihren Müttern hatten sie erzählt, sie kämen heute etwas später heim, da sie in der Schulbibliothek noch etwas nachschlagen müssten. Ein klein wenig plagte sie deswegen das schlechte Gewissen, doch sie entschuldigten diese Notlüge mit dem (hoffentlich) guten Zweck. Hendrik wartete bereits.
»Und, was war heute hinter der Türe verborgen?«, fragte er gespannt.
»Ein kleines Mädchen! Vielleicht fünf oder sechs Jahre alt!«, antwortete Sabrina, »Sagt dir das etwas?« Leider konnte er damit überhaupt nichts anfangen.
»Was hast du denn über deine Familie herausgefunden?«, wollte nun Hanna wissen.
»Nicht viel!« Hendrik zuckte bedauernd mit den Schultern. »Mein Großvater Sebastian Baltasar war der Bruder von Kasimir und Amalie, also von Frau Kroll. Tante Amalie heiratete einen Herrn Kroll, der aber schon lange nicht mehr lebt. Darum heißt sie Kroll und nicht Baltasar. Sebastian, Kasimir und Amalie waren die Kinder von Sebastian und Anna Baltasar. Wieder ein Sebastian! Das ist also mein Urgroßvater. Dessen Mutter Klara, also meine Ururgroßmutter führte bereits diesen Laden hier, allerdings als Buchhandlung.“ Die Mädchen schauten sich an.
»Schon mal ein Puzzelteilchen!«, freute sich Sabrina und fragte dann, »Darf ich mal die Toilette benutzen?«
»Klar, einfach die zweite Türe rechts, gegenüber der Küche.«
Als Sabrina wieder den Gang zurückging, spürte sie einen kalten Luftzug an ihrer Wange. Sie drehte sich um und sah ein kleines Mädchen am anderen Ende des Ganges stehen. Das Mädchen winkte ihr zu. Sabrina rieb sich die Augen. Aber als sie erneut hinsah, war es verschwunden. Habe ich mir wohl nur eingebildet, dachte sie. Seltsam! Sie schüttelte sich kurz und ging dann wieder in Hendriks Zimmer. Die Erscheinung des kleinen Mädchens würde sie vorerst noch für sich behalten. Darüber musste sie zuvor nachdenken.
»Ich muss jetzt nach Hause! Meine Mutter wird sonst misstrauisch!«, erklärte sie bedauernd. Hanna musste lachen.
»Ja, mir geht es auch so, vor allem, weil ich normalerweise nicht gerne lese und somit bisher noch nie viel Zeit in einer Bibliothek verbracht habe.«
»Kann ich verstehen«, entgegnete Hendrik. »Also nicht, dass du nicht gerne liest, das kann ich nicht verstehen, aber dass eure Mütter dumme Fragen stellen. Ich glaube, sie müssen so sein. Eltern wollen immer wissen, wo man ist oder was man genau tut, weil sie ständig Angst haben, es könnte etwas passieren! Echt lästig!« Die Mädchen stimmten ihm zu und verabschiedeten sich erst von Hendrik, und bevor sie durch die Ladentüre ins Freie traten, auch noch von Herrn Baltasar.
»Habt ihr heute noch einmal Zeit«, rief Hendrik ihnen nach. Die Freundinnen schüttelten betrübt den Kopf.
»Wir schreiben morgen Matheschulaufgabe. Leider! Eigentlich eine Gemeinheit uns die Vorweihnachtszeit mit Schulaufgaben zu versauen.«
»Tja, da muss man durch!«, grinste Hendrik und verschwand wieder im Laden.
13. Dezember
Am liebsten wäre Sabrina in der Früh liegen geblieben. Doch dann fiel ihr der Adventskalender wieder ein und sie sprang hurtig aus dem Bett. Als sie das nächste Türchen aufmachte, befand sich darin ein Zettel. Neugierig faltete sie ihn auseinander. Wer nicht glaubt, was er sieht, kann auch nicht sehen, was er glaubt. Was sollte das denn schon wieder bedeuten? Sabrina blickte verständnislos auf das Papierstück und las es noch einige Male. Vielleicht fällt ja Hanna oder Hendrik dazu etwas ein, dachte sie, als sie in ihre Klamotten schlüpfte. Noch vor dem Unterricht bekam Hanna ihn zu lesen.
Doch auch sie hatte keinen blassen Schimmer und so mussten sie sich wohl gedulden, bis sie sich nachmittags mit Hendrik trafen.
»Und wie war die Schulaufgabe«, fragte Hendrik zunächst.
»Ganz gut«, antwortete Hanna, während Sabrina ein »ging schon mal besser« vor sich hinmurmelte. Dann zeigte Sabrina Hendrik den Zettel. Ratlos starrte Hendrik auf die Zeilen und dachte dann einige Minuten angestrengt nach. Anschließend blickte er den Mädchen forschend ins Gesicht:
»Ihr seid euch sicher, dass ihr mir alles erzählt habt? Nichts aus Versehen vergessen oder weggelassen, weil es vielleicht unwichtig erscheint?« Hanna verneinte und sah zu Sabrina. Diese wollte gerade den Kopf schütteln, als ihr das Mädchen von gestern einfiel.
» Naja«, fing sie verlegen an und errötete leicht, »da gibt es etwas, aber ich weiß nicht einmal, ob ich es wirklich gesehen habe.« Gespannt warteten die beiden anderen, dass sie fort fuhr. »Also«, begann sie von Neuem, »als wir dich gestern besucht haben, musste ich doch auf die Toilette. Und als ich wieder zu euch zurückging, dachte ich, ein kleines Mädchen zu sehen. Als ich noch einmal hinschaute, war es verschwunden und ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet.«
»Und warum hast du uns nicht gleich davon erzählt?«, fragte Hanna empört.
»Tut mir leid, aber ich war mir doch gar nicht sicher, ob ich überhaupt etwas gesehen habe.« Zerknirscht schaute Sabrina ihre Freunde an.
»Nicht so schlimm«, meinte Hendrik, »Aber jetzt wissen wir wenigstens, was die Worte auf dem Zettel bedeuten sollen.«
»So, wissen wir das?« Hanna blickte ihn zweifelnd an.
»Klar«, entgegnete Hendrik und triumphierend erklärte er: »Wenn wir nicht glauben, dass Sabrina einen Geist gesehen hat und das kleine Mädchen ist ja wohl einer, dann werden wir das Geheimnis des Hauses und des verschwundenen Vertrages nie entschlüsseln. Wir müssen daran glauben, dass uns der Geist hilft, die Lösung zu finden.« Hendrik grinste die Freundinnen an und genoss die bewundernden Blicke, mit denen beide ihn ansahen.
»Ich glaube, du hast recht«, gab Sabrina schließlich zu, »hoffen wir also, dass sich der Geist noch einmal zeigt.« Nachdenklich fügte sie noch hinzu: »Ist euch aufgefallen, dass manche Räume des Hauses kalt und ungemütlich wirken, auch wenn sie beheizt sind, während es zum Beispiel in der Küche warm ist und man sich wohl fühlt?« Jetzt staunten die anderen beiden.
»Wenn ich ehrlich sein soll«, entgegnete Hendrik schließlich, »habe ich bisher nicht darauf geachtet, aber wenn ich es mir recht überlege, es stimmt.«
Die Kinder beschlossen einen Rundgang durch das Haus zu machen und schlenderten gemächlich von Zimmer zu Zimmer. Doch nichts geschah. Sabrina und Hanna mussten heim und enttäuscht stiegen die Kinder die Treppe zum Laden hinunter. Sabrina drehte sich noch einmal um und hielt den Atem an. Dort oben stand sie wieder und blickte auf sie herab. Sabrina packte Hendrik so fest am Arm, dass er leise aufschrie.
»Spinnst du?«, fauchte er und drehte sich zu ihr um.
Da sah er es auch und tippte seinerseits Hanna, die vor ihm ging, auf die Schulter. Schweigend schauten die drei nach oben, bis Sabrina langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, wieder hinaufging, den Blick immer auf das kleine Mädchen gerichtet. Es sah genau so aus, wie auf dem Bild hinter dem zwölften Türchen. In ungefähr zwei Metern Entfernung blieb Sabrina stehen und sprach mit gedämpfter Stimme auf den Geist ein. So leise, dass Hanna und Hendrik nicht verstanden, was Sabrina sagte. Anschließend winkte das kleine Mädchen ihnen zu und verschwand. Nachdenklich stieg sie wieder zu Hanna und Hendrik hinunter. Behutsam fasste Hanna ihre Freundin am Arm.
»Was hast du ihr gesagt?« Mit großen Augen sah Sabrina sie an.
»Natürlich dass wir ihr helfen! Und dass sie uns vertrauen kann. Wir andererseits jedoch auf ihre Hilfe angewiesen sind.« Dann schwieg sie und verließ den Laden. Hanna verabschiedete sich und folgte der Freundin.
14. Dezember
Als Sabrina aufwachte, fiel ihr sofort das Erlebnis von gestern wieder ein. Seltsamerweise hatte sie in Gegenwart des Geistes keine Angst verspürt, sondern nur große Traurigkeit. Was musste dieses kleine Mädchen wohl erleben?
»Wir werden es herausfinden und dir helfen«, sagte sie laut. Dann stand sie auf und nahm den Adventskalender. Hinter dem vierzehnten Türchen verbargen sich zwei Baumstämme und ein Pfeil. Sollen wir jetzt mit Pfeil und Bogen auf Bäume schießen, oder wie ist das gemeint? Verwirrt runzelte sie die Stirn. Na, da werde ich wohl warten müssen, bis ich Hanna und Hendrik treffe.
Vor Unterrichtsbeginn erzählte sie Hanna noch schnell, was sich hinter dem Türchen versteckte. Hendrik schaute zufällig in der Mittagspause kurz vorbei. Sabrina musste grinsen. Von wegen ‚zufällig’! Neugier trieb ihn her, aber sie behielt ihre Gedanken für sich, denn eigentlich freute sie sich, ihn zu sehen. Auch er konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen, versprach jedoch darüber nachzudenken.
Nachmittags hatten sie leider keine Zeit für ihn, da morgen in der Schule das Weihnachtskonzert stattfand und heute Nachmittag mussten sie pünktlich zur Generalprobe erscheinen. Dafür wollten sie ihn morgen gleich nach der Schule im Laden besuchen.
Der Anrufbeantworter blinkte, als Sabrina nach der Generalprobe nach Hause kam. Schnell hörte sie die Nachrichten ab. Bis auf einen Anrufer wollten alle ihre Mutter sprechen. Diese eine Nachricht kam von Hendrik. Sie solle möglichst rasch zurückrufen. Sie drückte die Rückruftaste und wartete. Als Herr Baltasar sich meldete, fragte sie, ob sie wohl mit Hendrik sprechen könne.
»Hallo Sabrina! Ich glaube, ich weiß, was die Baumstämme zu bedeuten haben«, kam er gleich zur Sache. »Es sind keine Baumstämme gemeint, sondern Stammbäume!« Sabrina konnte förmlich spüren wie er selbstzufrieden vor sich hin grinste, aber sie musste zugeben, dass der Vorschlag gut war. Bevor sie nachhaken konnte, sprach er schon weiter. »Ich werde einen Stammbaum von meiner Familie anfertigen, soweit ich es eben weiß. Den zeige ich euch dann morgen. Einverstanden?“ Was für eine Frage! »Oder hast du eine Emailadresse? Dann schicke ich ihn dir per Email! Du musst ihn dann nur noch ausdrucken.“ Wenn es nach Sabrina gegangen wäre, hätte es auch bis morgen Zeit gehabt, aber sie gab ihm ihre Emailadresse und verabschiedete sich. Eine halbe Stunde später kam die versprochene Email und sie druckte sie sich aus:
Hallo Sabrina, hier wie versprochen der Stammbaum. Er ist allerdings nicht vollständig. Ich weiß zum Beispiel immer noch nicht, wie mein Ururgroßvater hieß. Bis morgen, Hendrik
Klara (*1880)
/ \
Elisabeth Sebastian(*1905)∞Anna
/ \ \
Herr Kroll∞Amalie(*1930) Kasimir(*1928) Sebastian(*1935)
/
Benjamin ∞ Ingrid
/
Hendrik