12. Der Augenblick des Chu Uîw

pol shebbel

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(Chu Uîw im übertragenen Sinne des Wortes.)

Sie waren 2 Bewaffnete gegen einen Unbewaffneten; deshalb waren sie sich ihrer Sache ziemlich sicher. In dem Augenblick, in dem sie Paril packen wollten, riss dieser plötzlich die Arme in die Höhe, reckte sich zu seiner vollen Körperlänge und berührte die Sprösslinge des Halskettenbaumes.

Normalerweise stossen nur die ganz grossen Tiere dort an; und die Kinder des Halskettenbaums sind dafür konstruiert, von ihnen fortgetragen zu werden. Entsprechend ist die Wirkung auf Menschen: als sich das schwarzgrüne Rankengewirr auf die Häupter der beiden Leibwächter senkte, gingen dieselben ohne jede Verzögerung zu Boden. Paril selbst ging es leider auch nicht anders; aber da die andern überrumpelt waren, hatte er sich einen Sekundenbruchteil früher befreit. Paril versuchte sofort, eines der von seinen Gegnern fallengelassenen Schwerter zu ergreifen; fast gleichzeitig jedoch warf sich der eine Leibwächter mit seinem ganzen Gewicht auf seinen Arm. Einen endlosen Augenblick lang rangen sie miteinander, bis es Paril gelang, den anderen mit einem wuchtigen Ruck hintüber zu werfen. Als er sich aber umdrehte, um das Schwert aufzuheben, stand dort der andere Leibwächter und war gerade im Begriff, sein Schwert auf Paril niedersausen zu lassen. Paril blieb nichts anderes übrig, als sich seitwärts abzurollen, worauf der Schwertstreich statt Parils Hals des ersten Leibwächters Bein traf. Die anschliessende kurze Konfusion gab Paril Gelegenheit, blitzschnell einen Pyramidalstamm hochzuklettern; dies war jedoch, wie er sofort merkte, ein Fehler: denn nun stand der unverletzte von ihnen mit gezogener Waffe unten und schnitt ihm den Rückweg ab. Eine Situation, aus der es ziemlich rasch zu entkommen galt - denn ohne Zweifel würde es nicht lange dauern, bis auch eine Armbrust auf Paril zielte.

Paril kletterte etwas höher hinauf. Die Krone des Halskettenbaums war jetzt ganz nah, aber trotzdem nicht erreichbar. Paril riss ein Stück Liane ab - er hatte keine Zeit, den Baum um Erlaubnis zu fragen - und schleuderte es in Richtung Krone; diese Erschütterung genügte, wieder ein paar die jungen Treiblinge enthaltenden Gebilde hinunterfallen zu lassen. Keine von ihnen traf den Kalbell unten - er hatte ja genau gesehen, was Paril tat. Doch seine Aufmerksamkeit wurde einen Augenblick lang abgelenkt. Gerade als er der Baumhalskette auswich, sprang Paril vom Baum auf ihn herab. Das warf ihn notwendigerweise um, und eine kurze Bearbeitung mittels im Heer erlernter Kampftechniken erledigte den Rest. Schwer atmend richtete sich Paril auf - und blickte genau in das gerötete Gesicht des Hauptmanns. Nur einen Sekundenbruchteil verging - er sah kaum das Messer in dessen Hand - dann vollführte sein Knie einen heftigen, zwischen die Beine Ssaiangs gerichteten Stoss, was diesen aufschreien und zusammensinken liess.

Es war nicht gerade ein ehrenhafter Schlag - aber es war genau das, was dieser Scheisskerl verdiente.

Jetzt gab es endgültig keine Zeit mehr zu verlieren. Paril ergriff das nächstliegende Schwert, rannte zu dem umgestürzten Baumstamm und hieb den nächstbesten paar Gefangenen die fesselnden Stricke durch. Dann warf er ihnen das Schwert vor die Füsse, machte auf der Stelle kehrt und stürzte, ohne auf jemanden zu warten, durch den Wald davon.

***​
Die Schatten im Urwald begannen länger zu werden. Die Tiere lärmten vielstimmig; irgendwo war die Stimme des Hauptmanns zu hören, kreischend wie die der Adjutantin. Es raschelte und knackte allenthalben; am lautesten von allem aber pochte Parils Blut in den Schläfen. Er lief ein Stück in den Wald hinein, dann schlug er einen Bogen und kehrte aus einer anderen Richtung zurück. Er fand seine Armbrust und sein Schwert an der Stelle, wo er sie zurückgelassen hatte, hob beides auf und eilte weiter, an Säulengängen aus Luftwurzeln vorbei, jetzt in östlicher Richtung. In einem trockenen "braunen Teppich" fand er eine ältere Hasenspur; er folgte ihr ein Stück, so weit sie noch sichtbar war; nach kurzer Zeit fand er, auch mittels seiner Nase, einen Stinkholzbaum. Mit einem Stock schlug er ein paar Zweige ab, worauf sich sofort ein furchtbarer Gestank ausbreitete. Stinkholz und Rishwa Lai wirkten auf Flokaigrabs genau umgekehrt wie auf Menschen; sogar die Hasen wussten das. Paril schlug im Schutze des Gestanks ein paar Haken, jeden direkten Kontakt sorgfältig vermeidend (für den Fall, dass Bush Eengil zum Einsatz kamen - und für die war eine stinkende Fährte noch auffälliger als eine normale). Die Sonne war am Sinken, doch das Spurenlesen würde noch mindestens zwei Stunden lang einfach sein. Bis jetzt allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass ihm jemand auf den Fersen war. Alle so deutbaren Geräusche waren weit entfernt und undeutlich.

Paril registrierte dies alles halb unbewusst; auch sein Handeln geschah mehr oder weniger automatisch. Der Hauptteil seines Bewusstseins war nach innen gerichtet, wo sich ein paar ziemlich gewichtige Probleme stellten.

He, was soll das? Warum fliehst du? Bleib stehen und kehr um! Aber die Leibwächter... die hatten ihn doch nicht umbringen wollen? Wie die Ausbrecher? Dieser Blick... Aber das konnte doch nicht sein. Es gab in der Obrigkeit jede Menge Sturheit und Arroganz, nicht selten gepaart mit unglaublicher Dummheit; aber Mörder - nein, das waren sie nicht. Na gut, natürlich war jeder Krieger ein potentieller Mörder... Die gefassten Ausbrecher hatten sie ja offenbar auch umbringen wollen, und Paril hatte das sogar erwartet. Aber was ihn hier störte, war die Art: so schnell und heimlich, ohne Gerichtsverfahren oder sonst etwas. Gut, vielleicht wusste Paril nur nichts davon. Aber wieso ihn? Zumindest bei ihm gab es kein Gerichtsverfahren - jedenfalls keines, bei dem er dabei gewesen wäre, was auf dasselbe hinauslief. Das war doch bestimmt ein Missverständnis! Er musste umkehren und es aufklären...

Doch welche Chance hatte er? Er hatte ja gesehen, was passiert war, als er diesem Ssaiang nur einmal widersprochen hatte. Und jetzt erst! Jetzt hatte er einen Offizier tätlich angegriffen sowie etliche Volksverhetzer befreit. Das hiess: er hatte ein Verbrechen gegenüber dem heiligen Hochmeister Assing begangen, er hatte gegen die göttliche Ordnung verstossen, er war jetzt ein Schädling am Organismus des Heeres, ein Feind der Seele Ssais... Ganze Schwalle von in solchen Fällen benutzten wohlklingenden Schmähworten hätte er ohne nachzudenken hersagen können. Es war eigentlich zum Lachen: sie würden ihn wie einen Ketzer behandeln. Ausgerechnet ihn, der die eigentlichen Ketzer wie Andai, Shnoiw, den Messerhelden und so nun wirklich abgrundtief verabscheute... Das war doch offenkundig falsch! Aber so falsch konnte es wieder nicht sein, denn die Sorge um die Seele Ssais war schliesslich die Hauptaufgabe der Obrigkeit, also musste sie trotz all ihrer sonstigen Mängel recht haben... Oder doch nicht? Da haben wirs: jetzt zweifelst du schon an der Obrigkeit! Dann hatte Ssaiang vielleicht doch recht; vielleicht war das die Wirkung jener schwarzen, entarteten Gedanken? Na, aber nur wegen Zweifeln an der Obrigkeit konnten sie ihn doch nicht gleich umbringen... Andererseits war Paril selbst kaum die richtige Person, um zu entscheiden, ob er ein Ketzer war. Andai hatte sich selbst auch nicht so bezeichnet... Doch was der geredet hatte, war ja schwarz und verlogen... Na, und Paril hatte ja schliesslich nicht nur gezweifelt, sondern auch die Ausbrecher befreit und Ssaiang niedergeschlagen... Halt, nein, sie hatten ihn ja vorher schon umbringen wollen, oder? Ssukr! Du musst aufhören. Du musst diese Gedanken stoppen, sonst wird dir noch schwindlig...

In der Tat war ihm bereits schwindlig, aber natürlich konnte er nicht aufhören. Das Wort "Ketzer" erschien auf penetranteste Weise wieder und wieder in seinem Kopf. Mit Schrecken erfasste er plötzlich, was es hiess, ein Ketzer zu sein. Das hiess nämlich nicht einfach, dass er nicht zurückkehren konnte, sondern: dass er überhaupt nirgends mehr hin konnte. Denn niemand im Pyramidalwald wollte mit einem Ketzer etwas zu tun haben - es sei denn ein anderer Ketzer! Zu den anderen Ketzern aber würde Paril, selbst wenn er das gewollt hätte (was in keiner Weise der Fall war), auch nicht gehen können, denn für sie war er ein Kalâm, ein Baumbesitzer. Was ja schliesslich stimmte! Er war doch kein Ketzer. Es konnte den Leuten schliesslich egal sein, was Asîmchômsaia behauptete... Nun, genau das eben nicht! Wenn Asîmchômsaia ihn zum Ketzer erklärte, so galt das wohl theoretisch nur in Asîmchômsaia; praktisch aber - das war ihm gerade plötzlich klargeworden - würde kein Ort gegen den Willen Asîmchômsaias handeln; eine der Nebenwirkungen des durch den Krieg erzwungenen Zusammenschlusses aller Armeen. (Oder war das eine militärisch verfälschte Sichtweise?)

Aber wenn anderswo nicht bekannt war, dass Paril als Ketzer galt? Und Paril war doch kaum so wichtig, dass Ssaiang sich die Mühe machen würde, alle Dörfer zu informieren... Aber wenn Paril nicht wichtig war, wieso hatten sie ihn dann umbringen wollen? Bei allen Wasserteufeln, was war an ihm denn so wichtig?!

Er versuchte, sich die Ereignisse der letzten Stunden möglichst genau in Erinnerung zu rufen. Gleichzeitig bewegte er sich im sommerlich hellen Abendlicht unablässig weiter quer durch den Wald - mochte er auch eigentlich nirgends mehr hingehen können, so konnte er doch noch weniger bleiben, wo er war...

Die Veränderung musste in den letzten paar Stunden geschehen sein. Kein Schwein hatte sich früher für ihn interessiert - jedenfalls kein solches von der Obrigkeit. Wann also? Als er eigenmächtig auf die Ausbrecher losgegangen war? Als er deren "volksverhetzenden Reden" ausgesetzt war? Als er deren Behauptungen betreffend den Hochmeister wiedergab? Als er dem Hauptmann widersprach? Hatte Ssaiang im Laufe des Verhörs entschieden, dass Paril umzubringen sei, oder hatte er das von Anfang an vorgehabt? Es gab einfach zu viele Unsicherheiten - ohne Chance, diese aufzuklären. Dieses Gedankenwälzen konnte einfach zu keinem Resultat führen - wenn er damit bloss endlich aufhören könnte!

Teufel! Das ist doch alles Schwachsinn, dachte er plötzlich. Wie hatte er auf den absurden Gedanken kommen können, man wolle ihn umbringen? Das konnte nicht sein. Es gab keinen Grund! Ein Dämon musste Paril geritten haben, dass er so durchgedreht war. Er würde jetzt sofort aufhören, wegzulaufen! Es gab ja sowieso keinen Ort, wo er hin konnte...

Paril zwang sich, stehen zu bleiben. Es fiel ihm nicht einmal besonders schwer; im Gegenteil war er wieder ziemlich erschöpft. So. Und jetzt würde er zurückkehren. Wenn es für ihn überhaupt ein Zuhause gab in dieser Welt auf dem Meeresgrund, wenn es überhaupt Menschen gab, die ihm etwas bedeuteten, dann dort. Natürlich würde man ihn jetzt noch ein wenig härter anfassen als vorher, aber das würde er überleben. Denn wie gesagt, sie würden ihn ja nicht töten...

Minuten verstrichen, während Paril regungslos stehenblieb. Sein Atem ging schwer in der blütenstaubgeschwängerten Luft, Mücken und Leuchtkäfer schwirrten um sein schweissfeuchtes Gesicht. Zurück also. Zurück zum Hauptmann mit dem Milchgesicht und der Kreischstimme. Zurück zur fetten Adjutantin mit dem Haarknoten und der Kreischstimme? Seltsam, es war ihm nie aufgefallen, wie viele von ihnen Kreischstimmen hatten. Der Herold in der Stadt fiel ihm ein, der jede Woche die neuesten Scheusslichkeiten des Feindes ausgerufen hatte - na gut, der musste sich natürlich anstrengen, damit man ihn hörte. Und auch der Nuchaelkal aus Onnikir, dieser alte Giftzwerg - Onnikir! Das war auch ein Ort, wo er nicht mehr hingehen konnte. Daran waren die Ketzer schuld! Er hasste Ketzer! - Na, es hatten natürlich nicht alle Kreischstimmen; höchstens, wenn er sie mit seiner eigenen Stimme verglich... Ha! Ha! Was denkst du da für einen Blödsinn zusammen. Es gibt weiss Ssai genug zu bedenken, wenn schon...

Natürlich gab es keinen Grund, Paril umzubringen. Das Problem war, dass sich das Verhalten der Obrigkeit nicht nach logischen Gesetzen richtete. Von Beginn weg hatte er ihre Willkür und Unberechenbarkeit wieder und wieder erfahren. So gesehen war die Vorstellung, sie hätten ihn umbringen wollen, gar nicht so abwegig. Abgesehen davon, dass sie immer hysterisch wurden, sobald von Workash Assing die Rede war.

Workash Assing... Der Hochmeister sollte einer der Ausbrecher aus dem Gefangenenlager sein? Was für eine lächerliche Behauptung! Niemand konnte das ernstnehmen... Aber wenn das so war, dann gab es doch auch keinen Grund, Paril umzubringen? Oder... Fest stand: der Hochmeister war keine Person, über die man Witze machte. Der Paem Nuchaelkal von Asîmchômsaia - das war die heiligste Person im südlichen Pyramidalwald, er war so etwas wie eine lebende Gottheit; die Vorstellung, ihm vor kurzer Zeit Auge in Auge gegenübergestanden zu haben, jagte Paril buchstäblich Schauer über den Rücken. Ganz gleich, was es Unfreundliches über die Obrigkeit zu sagen gab - der Hochmeister war tabu. So etwas zu sagen, wie es der rundgesichtige Andai getan hatte, war Blasphemie, es machte ihn zum - eben zum Ketzer. Aber genügte das, auch aus Paril einen Ketzer zu machen? Oder...

Nur mal angenommen, es stimmte, was der Kerl gesagt hatte? Wenn man bedachte, wie die Galbell ihre Untertanen behandelten, wäre es im Grunde auch nicht erstaunlich, wenn sie sich gegenseitig auch so behandelten. Nur mal angenommen, es hätte Streit oder Intrigen gegeben, in deren Verlauf Workash Assing entmachtet und heimlich ins Gefangenenlager gesteckt worden wäre - das musste natürlich heimlich geschehen, denn sonst wären ja die Galbell selbst als Ketzer dagestanden. Daraus folgte sofort, dass man ihn, falls er ausbrach, auf Tod und Teufel verfolgen musste, und ausserdem, dass jeder, der auf irgend eine Weise davon erfuhr, in Lebensgefahr war... Hmm! Diese Gedanken gefielen Paril ganz und gar nicht. Wenn die höchste Moralinstanz sich plötzlich als moralisch verwerflich herausstellte, wie stand es dann mit der Moral selbst? Und von da an war es nicht mehr weit bis zum Chu Uîw, der Umkehrung jeder Moral, dem Chaos, der Katastrophe! Ssaiang hatte völlig recht: es war gefährlich, mit diesen Leuten nur zu reden! Diese Gedanken waren in der Tat schwarz und entartet. Und dass sie Paril trotzdem plausibel dünkten, machte ihn ausgesprochen wütend - so wütend, dass er nervös den Kopf hochwarf und sich wieder in Bewegung setzte, wenn auch langsamer und mit einem Hang zum Stolpern.

Der Rundgesichtige konnte zwar auch gelogen haben. Genauso gut! Wenn das der Fall war, dann war er ein ganz genialer Ketzer. Man sah ja, wie diese Lüge auf Paril wirkte; wenn sie sich erst im Heer ausbreitete, musste die Wirkung wahrhaft zerstörerisch sein. Ein wahrer Volksverhetzer war er - schon wieder hatte Ssaiang recht! Und es war dann auch richtig, dass er Paril umbringen liess - nicht, weil dieser schuldig war, sondern um zu verhindern, dass sich das Heer wie ein Shas Kil in seine Bestandteile auflöste...

Gut, gut. Es war also alles irgendwie plausibel. Aber was stimmte nun? Na, um das zu entscheiden, war der Dschungel hier ein denkbar ungeeigneter Ort. Dazu musste Paril zurück; aber genau das konnte er ja nicht. Das war eines der wenigen Dinge, die klar zu sein schienen.

Ach, die Teufel sollten das alles holen! Zack, ins Meer geschmissen! Sie waren alle Ketzer. Alles Lüge, was sie sagten! Paril war wieder stehengeblieben und glotzte den nächststehenden Pyramidalbaum an. Es gab keine Strafe der Götter. Wer glaubte diesen Schwachsinn mit der Anbetung der Bäume?! Paril holte aus und trat kräftig mit dem Fuss gegen den Stamm. Aua! Der Fuss tat weh, und dazu noch verlor Paril das Gleichgewicht und landete auf dem Boden. Baum, es tut mir leid! Die Strafe der Götter ist schon gekommen... Ach was. Kindisch! Das war lediglich der Kater von heute morgen, die Folgen des aufreibenden Tages - und des Hungers. Seine Kollegen sassen jetzt wahrscheinlich beim Abendessen - er hingegen hatte nichts ausser einem halbleeren Wasserschlauch und ein paar Stücken Lebensflechte in der Tasche...

Aber trotzdem. Die Leute in der Obrigkeit mochten Ketzer sein - aber Paril doch nicht! Das wollte ihm bei allen 4 Urgewalten nicht in den Kopf. Baum, es tut mir leid... Paril hatte seit seiner Kindheit in einem Pyramidalbaum geschlafen und meditiert - er hatte mit der Seele dieses Baumes kommuniziert, es gab keinen Zweifel, dass dieser Baum Parils Freund gewesen war. Das lebendige Wesen Ssai war kein Hirngespinst, es war erlebte Realität. Auch seine Eltern - die waren bestimmt keine Ketzer gewesen! (Oder?) Und es gab noch eine Menge anderer Leute, denen das Wohlergehen Ssais keinesfalls egal war... Paril wälzte sich auf dem Boden, und seine Lippen zuckten, als er versuchte, sich zu erinnern. Da gab es Wora-Goch, den netten, von religiöser Tatkraft erfüllten Jüngling; da gab es Etuik, der sich bei all seinen kleinen Schwächen doch immer redlich bemühte; da gab es Mîkir und Wokechm, von denen er auch nicht unbedingt eine hohe Meinung hatte, für die jedoch dasselbe galt wie für Etuik - da gab es Gânssi! Sie kannte Paril gut genug, um mit Bestimmtheit sagen zu können, dass sie keine Ketzerin war.... Doch jetzt war sie im hochmeisterlichen Heer, befördert zur Gruppenführerin... Sie war eine von denen...

Und sofort tauchten, Schlag auf Schlag, die anderen Bilder wieder auf: das verzerrte Gesicht von Ssaiang, dem das Blut durch die Wangen schien, die fetten Backen der Adjutantin, die sturen, leeren, sich so sehr ähnelnden Gesichter der Wächter von O'kir... "Nein! Nein!" ächzte Paril tonlos und versuchte krampfhaft, die in seinem Kopf herumwirbelnden Bilder unter Kontrolle zu bringen. Es war vergeblich; die Bilder waren zu stark - oder aber sein Wille war zu schwach.

Na gut, dann eben andersherum: wenn die Bilder nicht verschwinden wollten, dann musste er eben andere Bilder dagegen setzen. Unter Anspannung aller ihm noch verbliebenen Kräfte holte Paril die Gegenbilder in sein Bewusstsein: dieses saublöde runde Grinsegesicht von Andai mit der saublöden Redeweise, die Unverschämtheit "Babygesicht", die stumpfsinnige Arroganz von Shnoiw, sobald er eine Eisenwaffe in der Hand hatte, und - wieder und wieder - der Messerheld mit seinen fettigen, schwarzgefärbten Haarsträhnen, den gehässigen Worten und den Fusstritten... Doch diese Bilder wurden aus irgend einem Grunde ständig überlagert von solchen ausgemergelter Gestalten in zerlumpter Sträflingskleidung. Gehässige Worte? Wieder kamen sofort die Gesichter der Offiziere hinterher. Junge, was die manchmal für Ausdrücke gebraucht hatten... Es schien, als könne sich Paril drehen und wenden, wohin er wollte; überall taten sich Abgründe auf...

Mittlerweile begann es leicht dämmrig zu werden. Die erste Nacht der feuerlosen Zeit würde eine laue, elektrische Sommernacht sein, genau so wie die vielen Sommerfestnächte davor. Einmal mehr kümmerte sich die Natur keinen Deut um die Qualen eines ihrer Teile... Noch bleich vom Tage, spähte eine abnehmende Mondsichel durch die Zweige auf Parils Gestalt herab, die zusammengesunken zu Füssen des grossen Pyramdalbaums lag. Die Gedanken in seinem Kopf wurden flacher und gleichzeitig schneller, die Bilder wurden bunter und verrückter und Träumen immer ähnlicher...

Da zuckte er plötzlich zusammen. Der mit der Aussenwelt beschäftigte Teil von ihm hatte registriert, dass seine jetzige Lage für einen einzelnen allein in der Wildnis etwas gefährlich war. Langsam erhob er sich (eine Bewegung, die ihm inzwischen überaus schwer fiel), ging ein paar Schritte, blickte umher, horchte, schnüffelte.

Schliesslich stand er vor einem Pyramidalbaum, dessen Stamm von einer Masse kräftiger Luftwurzeln umwallt wurde. Das dazugehörige Gewächs stand wie auf Stelzen in fast 2 Mannslängen Höhe inmitten der Krone des Pyramidalbaums: eine monströse Sukkulente mit fetten, schwer herabhängenden Blattzungen und einer riesigen, glockenförmigen Blüte. Letztere war zu einem Durchmesser von mehr als einer halben Mannslänge geöffnet und strömte einen fauligen Duft aus. Genau so etwas brauchte Paril; unverzüglich begann er, an den Luftwurzeln emporzuklettern. Sorgfältig den Kontakt mit der Riesenblüte vermeidend, tastete er sich durch die Krone des Baumes, bis er sich genau über ihr befand. Sie stand offen unter ihm wie ein rostroter Schlund, in dessen Innern es vor Scheissfliegen brummte und krabbelte. Der Geruch, von dem die Fliegen angezogen wurden, stieg fett in Parils Nase - er war reichlich abstossend, aber Paril hatte im Moment keine andere Wahl. Mit einer letzten Anstrengung rollte er über den Ast, auf dem er gesessen hatte, und liess sich in die Blüte gleiten. Kaum hatten seine Füsse - unter panischem Gebrumm seitens der Scheissfliegen - deren Boden berührt, als die Blütenblätter zuklappten und ihn mit sanfter Gewalt in eine kauernde Position drückten.

Es war eng und unbequem, aber es bot Schutz gegen Würgelianen. Und Paril war so unglaublich müde, dass es ihm überhaupt nichts mehr ausmachte.

Der Kampf in seinem Innern aber tobte weiter.
 



 
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