Die Dachkammer und Großvaters Büro bedeuteten für Christian die schönsten Räume im Haus. Alle Möbel im Büro glänzten in dunklem Holz: das große Bücherregal an der Wand, der Schreibtisch vor dem Fenster und auch die kleine Eckbank mit dem schmalen Tisch. Wenn in der Wirtschaft zu viel Trubel herrschte, und dicker Zigarettenrauch sich wie ein Dampfgeist um Christians Augen legte, aß er mit Großvater im Büro. Als er zum ersten Mal mit ihm allein am schmalen Tisch saß, fragte Christian: „Hast du denn nicht gewusst, dass ich lebe?"
„Doch, aber ich dachte nur an meine Tochter Uta und wie schön es war, als sie noch lebte. Dabei habe ich dich vergessen!"
„Hat dir denn niemand von mir erzählt?" fragte Christian erstaunt.
„Natürlich, deine Oma. Sie schrieb mir jahrelang zu Weihnachten, und manchmal schickte sie ein Bild von dir mit. Auf dem letzten bist du knapp sechs, ein Bild von deinem ersten Schultag. Danach bekam ich nur noch Briefe ohne Bilder. Aber ich habe nie darauf geantwortet, nur an Weihnachten eine Karte geschrieben!“
„Und bist du deshalb nun traurig?“
"Ja, sehr, ich habe kostbare Zeit vergeudet. Das Leben macht keinen Spaß mehr, wenn man nur an die Toten denkt. Ich könnte dich schon viel länger kennen und viel mehr von dir wissen. Aber ich war ein dummer, alter Mann!“
„Und jetzt, denkst du nicht mehr an die Toten?“
„Doch, meine Frau und meine Tochter werde ich nie vergessen. Wenn ich nun an sie denke, schmerzt mich das nicht mehr so sehr.“
Christian legte seine kleine Hand auf Großvaters Arm und sagte: „Dann ist ja alles gut. Jetzt bist du kein dummer Mann mehr, nur noch ein alter!"
Lächelnd hatte der Großvater ihm zugestimmt. Nun saß Christian mit hochgezogenen Beinen auf der Eckbank. Der Großvater hatte ihm ein Buch über die Lüneburger Heide auf den Tisch gelegt. Er begann gerade darin zu blättern, als Birgit ins Zimmer stürmte. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte:
„Ich habe die Nase voll, ich hau ab. Du kannst ja mitkommen!" Christian klappte das Buch rasch zu und rief: "Au, fein, ich sage nur noch dem Großvater Bescheid. Wo gehen wir denn hin?" Birgit stampfte leicht mit dem Fuß auf und sagte: „Das muss doch geheim bleiben!“
Der Großvater trat ins Büro. Er tippte mit dem Finger auf seine Schiffermütze. „Guten Morgen, Kinder, was muss denn geheim bleiben?“
„Du hast gelauscht“, erwiderte Birgit vorwurfsvoll. Aber der Großvater meinte, sie hätte so laut gesprochen, dass alle Leute in der Gaststube mithören konnten. Er fragte, warum sie denn flüchten möchte und Birgit sagte: „Meine Mama hat heute Großputz. Überall stehe ich ihr im Weg herum. Sie meinte, wenn ich Langeweile hätte, dürfte ich ihr gerne helfen. Also ich verschwinde für eine Weile!“
Der Großvater hatte nichts dagegen, dass die Kinder sich in der näheren Umgebung umsahen. Er erlaubte ihnen bis zur Landstraße oder zur alten Mühle oder zu Hilles Bauernhof zu gehen. Zu Birgit sagte er: „Ich lade dich zum Mittagessen ein. Dann kann deine Mutter in Ruhe fertig putzen!“
Birgit fiel ihm um den Hals und jubelte: „Danke, das ist super cool! Ich habe schon seit einer Ewigkeit nicht mehr bei dir gegessen!" Der Großvater löste sanft ihre Arme von seinem Hals. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb rasch einige Zeilen auf eine Karte. Nachdem er die Tinte trocken gepustet hatte, gab er Birgit die Karte und sagte: „Bring das deiner Mutter, damit sie dich heute nicht vermisst!“
Die Kinder stürmten hinaus und trafen Hille im Hof. Sie hatte Futter für die Pferde gebracht. Wortlos streckte Birgit ihr die Karte entgegen. Bevor Hille sie annahm, wischte sie sich ihre Hände am Taschentuch sauber. Dann las sie laut vor: „Birgit ist bis heute Abend mein Gast. Gruß, Will.
„Toll, toll“, sagte Hille, „der Großvater erwartet heute Nachmittag wieder viele Gäste. Er hat sicher nichts dagegen, wenn ich euch zum Kaffeetrinken einlade!"
"Na klar“, sagte Birgit und auch Christian war sehr einverstanden. Dann schlang Hille ihr Kopftuch um und ratterte mit dem Traktor davon. Die Kinder brachten die Karte zu Birgits Mutter. Sie schrubbte gerade den Flur.
„Bleibt um Himmels willen draußen“, rief sie ihnen entgegen. Birgit reichte der Mutter Großvaters Schreiben. Sie nahm die Karte mit spitzen Fingern und überflog sie hastig. Sie hatte nichts dagegen, dass Birgit diesen Tag bei Christian verbrachte, und die Kinder liefen zufrieden zum Gasthaus zurück.
Der Großvater aß mit Christian und dem Personal stets so frühzeitig, dass sie fertig waren, wenn die ersten Mittagsgäste eintrudelten. Frau Kruse bat die Kinder, den runden Tisch in der Gaststube zu decken. Birgit erkundigte sich, wie viele Teller sie brauchten, doch Frau Kruse sagte nur: „Für uns alle!"
Christian zählte auf, wer mit am Tisch aß: „Großvater, ich und du, Frau Kruse und Henning, der Koch Peter, zwei Küchenhilfen und zwei Serviererinnen!"
Bei jedem Namen streckte Birgit einen Finger in die Höhe. Danach deckten sie den Tisch und Birgit erklärte: „Bei deinem Großvater und Hille esse ich am liebsten. Da sagt keiner sitz gerade oder schmatz nicht so, oder Ellenbogen vom Tisch.“ Christian bemerkte: „Das kenne ich von meiner Tante Lioba. Sie ermahnt mich jedes Mal wenn wir zusammen essen!“
„Und deine Oma?“
„Meine Oma?" wiederholte Christian und überlegte einen Augenblick. Dann sagte er: „Wenn ich zu laut esse, spitzt sie den Mund und zwinkert mir zu. Wenn ich zu sehr am Tisch lümmle, hebt sie ihren Arm ein wenig hoch und zwinkert mir wieder zu. Und wenn die Tante Lioba zu sehr an mir rummeckert, dann zwinkert die Oma ihr zu.“
Bald waren sie mit ihrer Aufgabe fertig und Christian schlug vor, bis zum Mittagessen draußen zu spielen. Aber Birgit schüttelte energisch den Kopf. „Wir bleiben im Haus“, bestimmte sie, „ich möchte nicht eine Minute zu spät zum Essen kommen!" Christian seufzte leise. Das würde ein langweiliger Vormittag werden. Birgit zupfte ihn am Ärmel und fragte: "Was machst du denn für ein Sauertopfgesicht?“
„Lass mich los“, grollte er, „ich habe einfach keine Lust, die ganze Zeit brav am Tisch zu hocken und auf das Essen zu warten!“ Das wollte Birgit auch nicht. Sie schlug vor, Großvaters Buch anzuschauen, vielleicht fanden sie Bilder und Geschichten von Moorhexen und Dampfgeistern.
Die Kinder eilten ins Büro und weil der Großvater gerade Rechnungen ausschrieb, verzogen sie sich mit dem Buch ins Nebenzimmer. Christian schlug das Buch auf und als Birgit die ersten Bilder sah, vergaß sie Hexen und Geister. Sie stieß einen erstaunten Pfiff aus und deutete mit dem Finger auf eine Flusslandschaft. Christian konnte nichts Besonderes entdecken. Birgit zog das Buch zu sich heran und las vor: „Perlmuscheln im Heidefluss! In der Krone von Englands Königin glänzt eine besonders schöne Heideperle!“
Birgit klappte das Buch zu und sagte: „Heute gehen wir auf Schatzsuche!“ Christian wäre viel lieber zur alten Mühle gelaufen und so wandte er ein: „Muscheln gibt es doch nur im Meer. Vielleicht muss es auch Heidelbeere statt Heideperle heißen! Beeren gibt es hier genug, aber Perlen?“ Birgit schüttelte heftig den Kopf. Sie suchte noch einmal den Bericht von den Perlmuscheln heraus und hielt ihn Christian unter die Nase. "Perlmuscheln im Heidefluss“, las er laut vor. Dann sagte er: „Aber hier gibt es keinen Fluss!“
„Irrtum, bei Hilles Felder fließt ein Bach, da habe ich schon oft gespielt“, entgegnete Birgit. Nun lächelte Christian vergnügt und sagte: „Vergiss die Schatzsuche, wir dürfen doch nicht über die Landstraße! Ich möchte zur Mühle gehen!“
Birgit legte die Hand an die Stirn und schaute zum Himmel. Sie schüttelte sorgenvoll den Kopf und meinte: „Von mir aus könnten wir die Schatzsuche auch verschieben. Aber ich fürchte, morgen wird es regnen. Schau dir nur die dicken Wolken an! Wäre es nicht wunderbar, bei dieser Hitze im kühlen Bach zu stehen?“
Christian sah den ziehenden Wolken nach und überlegte nicht länger, wie er die Freundin von der Schatzsuche abbringen konnte. Nachdem sich Birgit vergewissert hatte, dass erst in einer viertel Stunde zu Mittag gegessen wurde, holte sie Zuhause ihre Badesachen. Inzwischen erzählte Christian seinem Großvater von den neuen Plänen. Er kannte den kleinen Bach und erlaubte den Kindern dort zu spielen, doch nur, wenn Hille in der Nähe arbeitete. Atemlos kehrte Birgit zu Christian zurück. Sie war auch noch bei Hille gewesen und nach dem Essen würde sie die Kinder mit zum Bach nehmen. Birgit rieb sich vergnügt die Hände. Sie boxte Christian freundschaftlich in die Seite und kicherte: „Wir werden Schatzsucher!“ Dann stürmten sie in die Gaststube. Zuerst saßen sie noch allein am Esstisch. Birgit schaute auf die Uhr. Gleich würden die anderen kommen! Doch zunächst schickte Frau Kruse die beiden noch einmal hinaus zum Hände waschen. Als sie wieder ins Zimmer kamen, saßen alle am Tisch. Birgit warf Frau Kruse einen vorwurfsvollen Blick zu, und Frau Kruse sagte: „Du hast noch nichts verpasst!“
Der Großvater sagte laut: „Gesegnete Mahlzeit!“ und wie im Chor erwiderten alle: „Mahlzeit!“
Frau Kruse teilte die Suppe aus. Christian beobachtete die Freundin von der Seite. Jetzt konnte sie endlich nach Herzenslust schmatzen. Doch er bemerkte erstaunt, dass Birgit weder schmatzte noch schlürfte. Sie aß sehr sorgfältig und legte auch nicht die Ellbogen auf den Tisch. Sie waren gerade mit dem Nachtisch fertig, als Hille auf dem Traktor hupte.
„Dürfen wir aufstehen?" fragte Birgit. Der Großvater nickte und Frau Kruse sagte: „Nun beeilt euch!“
„Bis heute Abend!" rief Christian und schon sausten die Kinder hinaus. Rasch kletterten sie auf den Traktor und setzten sich auf die kleine Bank über dem großen Hinterrad. Hille hupte noch einmal, dann zuckelte sie los. Christian fuhr sehr gern mit dem Traktor. Er fand es unbeschreiblich gemütlich, wenn der Wind durch seine Haare strich, der Motor leise tuckerte und Hille vergnügt vor sich hin summte. Auch diese Fahrt ging viel zu schnell vorbei. Bald schon stoppte Hille den Traktor.
„Runter mit euch“, sagte sie, „ich habe eine Weile drüben im Kartoffelacker zu tun! Bleibt bitte in der Nähe.“
Die Kinder liefen zum Bach, sie hatten schon Zuhause ihre Badesachen angezogen. Birgit breitete ihre Badematte am Ufer aus, sie warfen Schuhe und Kleider darauf und stiegen in den Bach. Das Wasser ging ihnen nicht einmal bis zu den Knien. Birgit sagte: „ aus meiner erste Perle lasse ich mir eine Krone machen und werde Heidekönigin und du?“
„Die behalte ich für mich, aber erst müssen wir welche finden“, sagte Christian. Birgit tauchte die Arme ins Wasser und brachte eine Handvoll Sand hoch. Sie streckte Christian die Hände entgegen und bat ihn, nachzuschauen, ob sie eine Muschel gefunden hatte. Vorsichtig stocherte er im Sand und schüttelte den Kopf. „Nichts drin“, sagte er und holte ebenfalls Sand aus dem Bach. Sie suchten eifrig und allmählich färbte das kalte Wasser ihre Arme rot. Aber außer ein paar Kieselsteinchen hatten sie nur Sand gefunden. Birgit setzte sich an den Bachrand und meinte: „Wir fischen sicher nicht richtig. Ich habe einmal gelesen, dass man nach Perlmuscheln tauchen muss. Sollen wir das mal probieren?"
„Klar“, sagte Christian, „zeig mir, wie das geht!“ Birgit kniete sich in den Bach, hielt sich die Nase zu, beugte sich vor und legte das Gesicht aufs Wasser. Christian machte es nach. Zunächst sah er nichts als feinen, hellen Sand. Doch auf einmal huschte ein Fisch an seinem Gesicht vorbei. Vor Schreck plumpste er ins Wasser und stieß dabei auch Birgit um. Sie lachte laut und damit begann die große Wasserschlacht. Sie bespritzten sich, schoben sich Wellen zu, prusteten und husteten und vergaßen, dass sie Perlen suchen wollten.
Birgit schüttelte sich und meinte: „das mit den Perlen wird nichts, wir sind Schatzsucher und müssen zwischen durch auch mal essen!“
„Hast du was dabei“? erkundigte sich Christian.
„Nein, wir fangen uns einen Fisch, und nehmen ein Netz. Ich könnte mein Shirt nehmen, aber dann fliehen die Fische durch die Ärmel und den Halsausschnitt.“
„Warte, ich gebe dir einen Schnürsenkel von meinem Turnschuh, damit binden wir dein Hemd oben zu.“
Nachdem sie das zusammen erledigt hatten, blieb von Birgits Shirt nur ein kleiner Beutel übrig. Sie packte das Shirt auf der einen Seite an, Christian hielt es auf der anderen. Dann gingen sie gemächlich Bach aufwärts, hielten dabei stets ihr Fischnetz offen. Doch außer Wasser und einem Wasserfloh sammelte sich nichts darin.
„Jetzt fangen wir uns einen Fisch mit den Händen, wie alle große Schatzsucher! Wir müssen schauen, wo sich die Fische verstecken“, bestimmte Birgit.
Christian blieb im Bach stehen, Birgit trampelte am Bachufer entlang. Zwei verschreckte Fische suchten unter der Böschung Schutz. Christian deutet mit der Hand auf die Stelle, Birgit legte sich auf den Bauch und tastete mit bloßem Arm die Böschung ab. Plötzlich fand sie ein Loch, griff hinein. Ohne zu zögern packte sie den kleinen Fisch und sprang mit ihm jubelnd in die Höhe. Christian klatschte begeistert, doch nun vermischte sich mit ihrem Kreischen ein fremder lauter Schrei. Birgit ließ vor Schreck den Fisch ins Wasser fallen. Am Ufer stand ein großer Mann. Er hatte ein knallrotes Gesicht und fuchtelte wild mit den Armen. „Was fällt euch eigentlich ein?“ schrie er, „ihr habt hier nicht das Recht, Fische zu fangen, dürft nichts, was lebt aus dem Bach holen. Das kann sehr teuer für eure Eltern werden!“
Die Kinder drängten sich zusammen und Birgit sagte: „Wir spielen im Wasser und suchen nur Perlen!“ Doch diese Erklärung beruhigte den Unbekannten keineswegs. Er befahl ihnen, sofort aus dem Wasser zu steigen und fragte sie nach ihrem Namen. Da Christian fror und mit den Zähnen klapperte, antwortete nur Birgit. Dann wollte der Fremde noch wissen, wo die Eltern der Kinder wohnten. „Da drüben, sie können uns von dort aus sehen“, sagte Birgit. Sie warf den Kopf zurück und deutete mit dem Finger zur Landstraße. „Deine auch?" wandte sich der Fremde an Christian, der sich die Arme rieb. Christian schlotterte laut und sagte mühsam: "Ich bin beim Großvater!"
„Und, wo wohnst du wirklich“? fragte der Mann.
„In Freiburg.“
„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen", schimpfte der Fremde und drohte Christian mit dem Finger. Aber Birgit erklärte: „Dafür bist du doch viel zu dick. Er kann kaum mich hoch heben!“
Das Gesicht des Fremden färbte sich dunkelrot. „Du freche Göre, du!“ zischte er und packte Birgit leicht am Pferdeschwanz. Mit einem Satz hängte sich Christian an den Arm des Fremden und kreischte: „Loslassen, loslassen!"
Birgit aber rief gellend: „Hille, Hille!“
Verblüfft ließ der Mann Birgit los und fragte: „Du rufst nach Hilfe und sagst Hille? Kannst du nicht ordentlich sprechen oder bist du nicht recht gescheit?“ Birgit beachtete den Fremden nicht mehr. Sie winkte Hille zu, die rasch näher kam. „Hille!" rief Birgit noch einmal und nun drehte sich der fremde Mann um. Wie ein Blitz sausten die Kinder an ihm vorbei und stellten sich neben die große Freundin. Der Unbekannte musterte Hille mit finsterem Blick und sagte: „Diese Kinder fangen meine Fische!" Hille fragte ihn mit strenger Stimme, ob der Bach ihm gehöre.
„Natürlich nicht“, grollte der Fremde, „aber ich besitze einen Angelschein, ich darf hier fischen!"
„Das kann sich sehr schnell ändern", erklärte Hille und legte ihre Arme um Birgit und Christian. Mit ihrer tiefsten Brummstimme sagte sie: „Wenn Sie die Kinder noch einmal in Angst und Schrecken versetzen oder sie gar anfassen, dann sorge ich dafür, dass Sie hier zum letzten Mal geangelt haben. Halten Sie sich ja von den Kindern fern!“
Der Unbekannte drehte sich wortlos um und eilte davon. Die Kinder holten ihre Sachen vom Ufer und schlenderten mit Hille zum Traktor. „Den Rotkopf sehen wir nie wieder", meinte Birgit, doch da irrte sie sich.
*
„Jetzt haben wir uns aber einen Kaffee verdient“, meinte Hille. Fröhlich singend fuhren sie zum Bauernhof zurück. Bei Hille Zuhause roch es stets nach frischem Brot oder Kuchen. Auch an diesem Tag hatte Tante Hede, wie die Kinder Hilles Mutter nannten, Streuselkuchen gebacken. Der schmeckte Christian inzwischen beinahe so gut wie der Gugelhopf von seiner Oma. „Wenn der fremde Kerl nicht gekommen wäre, hätten wir vielleicht noch eine Perlmuschel gefunden“, sagte Birgit.
„Nein“, erwiderte Hille, „in unserem Bach gibt es schon lange keine Perlmuscheln mehr."
„Aber irgendwo in einem Heidebach gibt es noch welche,
sagte Tante Hede, doch wo die zu finden sind, ist ein Geheimnis. Davon wissen nur sehr wenig Menschen!“
Nach der Kaffeepause fuhr Hille nicht wieder zum Bach zurück. Aber das war nicht weiter schlimm für die Kinder, sie spielten ebenso gern auf dem Bauernhof.
Christians Großvater hatte nur Pferde und Hühner, bei Hille dagegen gab es noch Schweine, Katzen, Enten, Gänse, ein paar Schafe und natürlich auch Hühner. Hille drückte Birgit einen Korb in die Hand und bat die Kinder, im Hühnerhaus die Eier einzusammeln.
Während Birgit den Hühnerhof betrat, setzte Christian sich vor die Haustür und streichelte die Katze. Ihr Fell war rot und weiß und warm von der Mittagssonne.
Viel lieber würde er bei dem Tier sitzen bleiben, doch Birgit rief schon nach ihm. Er eilte in den Hühnerhof und die Hühner flatterten mit lautem Spektakel davon. Sie lärmten, als ginge es um ihr Leben, nur der Hahn stolzierte majestätisch über den Platz.
„Du Angeber“, rief Birgit ihm zu und öffnete die Tür zum Stall. Eine braune Henne saß auf einem Nest und gluckste sie vorwurfsvoll an. „Warten wir, bis sie ihr Ei gelegt hat, sagte Birgit und schloss leise die Tür. Sie stellte den Korb zur Seite, nahm den Schlauch, der am Hühnerhaus hing und füllte die Tränke mit frischem Wasser. Dann richtete sie den Strahl auf Christians Beine und spritzte ihn nass. Im Nu bildete sich eine Pfütze auf dem Boden.
Vom Küchenfenster aus rief Tante Hede, sie bräuchte dringend Eier. Rasch drehte Christian den Wasserhahn zu. Birgit nahm den Henkelkorb wieder auf und gemeinsam holten sie nun vorsichtig die frischen Eier aus den Gelegen.
„20 Stück, die Hühner waren fleißig, alle haben eins gelegt“, verkündete Birgit und stellte den Korb auf den Tisch. Danach besuchten sie die vier Schweine im Stall, die sich auf dem Stroh hingelegt hatten und nur ab und zu leise grunzten. „Hier stinkt es gewaltig“, sagte Birgit und zog ihn in die Scheune. Doch zum Verstecken spielen hatten sie keine Zeit mehr, Hille kam zum Abendessen nach Hause.
„Jetzt müssen wir heim“, sagte Christian. Sie verabschiedeten sich rasch von Hille und Tante Hede, Christian streichelte noch einmal die Katze, dann liefen sie zum Großvater.
Die Gaststube war gerammelt voll und auch im Nebenzimmer
gab es keinen freien Stuhl mehr. Der Großvater winkte die Kinder in sein Büro, brachte ihnen Brote und Tee und eilte zu den Gästen.
„Einmal im Büro essen, das habe ich mir schon immer gewünscht“, sagte Birgit strahlend und schnappte sich ein Schinkenbrot. Gerade, als Christian die letzte Gurke in den Mund schob, streckte der Großvater den Kopf zur Tür herein.
Er fragte, ob die Kinder ihn mit der Kutsche zum Bahnhof begleiten wollten. Sie nickten nur, und noch kauend trugen sie die leeren Teller in die Küche. Dann schwangen sie sich zu Großvater auf den Kutschbock. „Los, Jungs“, rief der Großvater den Pferden zu und schon rollte der Planwagen, vollbesetzt mit Gästen, aus dem Hof, dem Bahnhof entgegen.
Als diese Tour zu Ende war, setzten sie Birgit auf dem Heimweg
vor ihrem Elternhaus ab. „Auf Wiedersehen, bis morgen“, rief sie und winkte ihnen nach, bis sie den Hufschlag der Pferde nicht mehr hörte.
Für Christian war es nun Zeit ins Bett zu gehen. „Aber erst musst du heute noch duschen“, erinnerte ihn Frau Kruse, „du riechst so nach Stall.“
„Ja, ja, sagte er gedehnt, „ich vergesse auch nicht meine Zähne zu putzen!“
„Hoffentlich“, sagte Frau Kruse, „ nun mach aber mal fix, dass du fertig wirst.“
*
Als der Großvater das Dachstübchen betrat, stand Christian auf der Truhe. Er fragte: „Wie heißt der helle Stern da oben?“
Der Großvater rückte die Truhe ein Stück zur Seite und betrachtete den Sternenhimmel. „Das ist die Wega“, antwortete er und gab Christian die Hand. Dieser sprang in sein Bett und der Großvater setzte sich auf den Rand. Er zog einen Block aus der Hosentasche. Auf dem schrieb er sonst den Gästen die Rechnung. Nun aber malte er einen großen Kreis, verteilte darunter links und rechts vier kleine Kreise, verband sie mit dünnen Strichen und erklärte: „Dieses Sternbild haben die Menschen „Leier“ genannt und der hellste Stern davon ist die „Wega.“
Er schloss die Truhe auf und holte für Christian ein kleines Buch heraus. „Hier sind alle Sternbilder aufgezeichnet und du kannst auch nachlesen, wann du sie am Himmel siehst. Doch nun erzähle mir eine Geschichte!“ Vorsichtig legte Christan das Buch auf den Nachttisch und sagte: „Jetzt habe ich heute doch noch einen Schatz bekommen!“ Zuerst berichtete er dem Großvater von der Perlensuche. Zum Schluss sagte er: „Ich erzähle dir nun die Geschichte von Aladin. Er fand viele Perlen, Gold, Silber, Edelsteine und eine Lampe die wie eine kleine Kanne aussah.“
Christian gähnte laut und fragte: „Kannst du mir sagen, warum ich immer so müde werde, wenn ich dir eine Geschichte erzählen will?“
„Nein, das weiß ich nicht“, sagte der Großvater und lächelte, „ich kann dir nur sagen, dass ich nach deinen Geschichten jedes Mal wunderbar einschlafe! Erzähl ruhig weiter!“
„Also, dieser Aladin fand einen riesigen Schatz.“ Christian seufzte leise: „Mein Papa sagt, sein größter Schatz wäre meine Mutter gewesen und sie hätte ihm ein Schätzchen geschenkt. Das bin ich.“ Das Sprechen fiel Christian immer schwerer und Großvaters Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Kurz bevor er einschlief, spürte er zum ersten Mal Großvaters schwielige Hand auf seinem Kopf, die ihm sanft über die Haare strich. „Lieber Großvater“, flüsterte Christian. Der alte Mann blieb auf dem Bettrand sitzen und betrachtete den schlafenden Jungen. Nach einer Weile löschte er die Lampe aus und ging leise aus dem Zimmer.
„Doch, aber ich dachte nur an meine Tochter Uta und wie schön es war, als sie noch lebte. Dabei habe ich dich vergessen!"
„Hat dir denn niemand von mir erzählt?" fragte Christian erstaunt.
„Natürlich, deine Oma. Sie schrieb mir jahrelang zu Weihnachten, und manchmal schickte sie ein Bild von dir mit. Auf dem letzten bist du knapp sechs, ein Bild von deinem ersten Schultag. Danach bekam ich nur noch Briefe ohne Bilder. Aber ich habe nie darauf geantwortet, nur an Weihnachten eine Karte geschrieben!“
„Und bist du deshalb nun traurig?“
"Ja, sehr, ich habe kostbare Zeit vergeudet. Das Leben macht keinen Spaß mehr, wenn man nur an die Toten denkt. Ich könnte dich schon viel länger kennen und viel mehr von dir wissen. Aber ich war ein dummer, alter Mann!“
„Und jetzt, denkst du nicht mehr an die Toten?“
„Doch, meine Frau und meine Tochter werde ich nie vergessen. Wenn ich nun an sie denke, schmerzt mich das nicht mehr so sehr.“
Christian legte seine kleine Hand auf Großvaters Arm und sagte: „Dann ist ja alles gut. Jetzt bist du kein dummer Mann mehr, nur noch ein alter!"
Lächelnd hatte der Großvater ihm zugestimmt. Nun saß Christian mit hochgezogenen Beinen auf der Eckbank. Der Großvater hatte ihm ein Buch über die Lüneburger Heide auf den Tisch gelegt. Er begann gerade darin zu blättern, als Birgit ins Zimmer stürmte. Sie schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte:
„Ich habe die Nase voll, ich hau ab. Du kannst ja mitkommen!" Christian klappte das Buch rasch zu und rief: "Au, fein, ich sage nur noch dem Großvater Bescheid. Wo gehen wir denn hin?" Birgit stampfte leicht mit dem Fuß auf und sagte: „Das muss doch geheim bleiben!“
Der Großvater trat ins Büro. Er tippte mit dem Finger auf seine Schiffermütze. „Guten Morgen, Kinder, was muss denn geheim bleiben?“
„Du hast gelauscht“, erwiderte Birgit vorwurfsvoll. Aber der Großvater meinte, sie hätte so laut gesprochen, dass alle Leute in der Gaststube mithören konnten. Er fragte, warum sie denn flüchten möchte und Birgit sagte: „Meine Mama hat heute Großputz. Überall stehe ich ihr im Weg herum. Sie meinte, wenn ich Langeweile hätte, dürfte ich ihr gerne helfen. Also ich verschwinde für eine Weile!“
Der Großvater hatte nichts dagegen, dass die Kinder sich in der näheren Umgebung umsahen. Er erlaubte ihnen bis zur Landstraße oder zur alten Mühle oder zu Hilles Bauernhof zu gehen. Zu Birgit sagte er: „Ich lade dich zum Mittagessen ein. Dann kann deine Mutter in Ruhe fertig putzen!“
Birgit fiel ihm um den Hals und jubelte: „Danke, das ist super cool! Ich habe schon seit einer Ewigkeit nicht mehr bei dir gegessen!" Der Großvater löste sanft ihre Arme von seinem Hals. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb rasch einige Zeilen auf eine Karte. Nachdem er die Tinte trocken gepustet hatte, gab er Birgit die Karte und sagte: „Bring das deiner Mutter, damit sie dich heute nicht vermisst!“
Die Kinder stürmten hinaus und trafen Hille im Hof. Sie hatte Futter für die Pferde gebracht. Wortlos streckte Birgit ihr die Karte entgegen. Bevor Hille sie annahm, wischte sie sich ihre Hände am Taschentuch sauber. Dann las sie laut vor: „Birgit ist bis heute Abend mein Gast. Gruß, Will.
„Toll, toll“, sagte Hille, „der Großvater erwartet heute Nachmittag wieder viele Gäste. Er hat sicher nichts dagegen, wenn ich euch zum Kaffeetrinken einlade!"
"Na klar“, sagte Birgit und auch Christian war sehr einverstanden. Dann schlang Hille ihr Kopftuch um und ratterte mit dem Traktor davon. Die Kinder brachten die Karte zu Birgits Mutter. Sie schrubbte gerade den Flur.
„Bleibt um Himmels willen draußen“, rief sie ihnen entgegen. Birgit reichte der Mutter Großvaters Schreiben. Sie nahm die Karte mit spitzen Fingern und überflog sie hastig. Sie hatte nichts dagegen, dass Birgit diesen Tag bei Christian verbrachte, und die Kinder liefen zufrieden zum Gasthaus zurück.
Der Großvater aß mit Christian und dem Personal stets so frühzeitig, dass sie fertig waren, wenn die ersten Mittagsgäste eintrudelten. Frau Kruse bat die Kinder, den runden Tisch in der Gaststube zu decken. Birgit erkundigte sich, wie viele Teller sie brauchten, doch Frau Kruse sagte nur: „Für uns alle!"
Christian zählte auf, wer mit am Tisch aß: „Großvater, ich und du, Frau Kruse und Henning, der Koch Peter, zwei Küchenhilfen und zwei Serviererinnen!"
Bei jedem Namen streckte Birgit einen Finger in die Höhe. Danach deckten sie den Tisch und Birgit erklärte: „Bei deinem Großvater und Hille esse ich am liebsten. Da sagt keiner sitz gerade oder schmatz nicht so, oder Ellenbogen vom Tisch.“ Christian bemerkte: „Das kenne ich von meiner Tante Lioba. Sie ermahnt mich jedes Mal wenn wir zusammen essen!“
„Und deine Oma?“
„Meine Oma?" wiederholte Christian und überlegte einen Augenblick. Dann sagte er: „Wenn ich zu laut esse, spitzt sie den Mund und zwinkert mir zu. Wenn ich zu sehr am Tisch lümmle, hebt sie ihren Arm ein wenig hoch und zwinkert mir wieder zu. Und wenn die Tante Lioba zu sehr an mir rummeckert, dann zwinkert die Oma ihr zu.“
Bald waren sie mit ihrer Aufgabe fertig und Christian schlug vor, bis zum Mittagessen draußen zu spielen. Aber Birgit schüttelte energisch den Kopf. „Wir bleiben im Haus“, bestimmte sie, „ich möchte nicht eine Minute zu spät zum Essen kommen!" Christian seufzte leise. Das würde ein langweiliger Vormittag werden. Birgit zupfte ihn am Ärmel und fragte: "Was machst du denn für ein Sauertopfgesicht?“
„Lass mich los“, grollte er, „ich habe einfach keine Lust, die ganze Zeit brav am Tisch zu hocken und auf das Essen zu warten!“ Das wollte Birgit auch nicht. Sie schlug vor, Großvaters Buch anzuschauen, vielleicht fanden sie Bilder und Geschichten von Moorhexen und Dampfgeistern.
Die Kinder eilten ins Büro und weil der Großvater gerade Rechnungen ausschrieb, verzogen sie sich mit dem Buch ins Nebenzimmer. Christian schlug das Buch auf und als Birgit die ersten Bilder sah, vergaß sie Hexen und Geister. Sie stieß einen erstaunten Pfiff aus und deutete mit dem Finger auf eine Flusslandschaft. Christian konnte nichts Besonderes entdecken. Birgit zog das Buch zu sich heran und las vor: „Perlmuscheln im Heidefluss! In der Krone von Englands Königin glänzt eine besonders schöne Heideperle!“
Birgit klappte das Buch zu und sagte: „Heute gehen wir auf Schatzsuche!“ Christian wäre viel lieber zur alten Mühle gelaufen und so wandte er ein: „Muscheln gibt es doch nur im Meer. Vielleicht muss es auch Heidelbeere statt Heideperle heißen! Beeren gibt es hier genug, aber Perlen?“ Birgit schüttelte heftig den Kopf. Sie suchte noch einmal den Bericht von den Perlmuscheln heraus und hielt ihn Christian unter die Nase. "Perlmuscheln im Heidefluss“, las er laut vor. Dann sagte er: „Aber hier gibt es keinen Fluss!“
„Irrtum, bei Hilles Felder fließt ein Bach, da habe ich schon oft gespielt“, entgegnete Birgit. Nun lächelte Christian vergnügt und sagte: „Vergiss die Schatzsuche, wir dürfen doch nicht über die Landstraße! Ich möchte zur Mühle gehen!“
Birgit legte die Hand an die Stirn und schaute zum Himmel. Sie schüttelte sorgenvoll den Kopf und meinte: „Von mir aus könnten wir die Schatzsuche auch verschieben. Aber ich fürchte, morgen wird es regnen. Schau dir nur die dicken Wolken an! Wäre es nicht wunderbar, bei dieser Hitze im kühlen Bach zu stehen?“
Christian sah den ziehenden Wolken nach und überlegte nicht länger, wie er die Freundin von der Schatzsuche abbringen konnte. Nachdem sich Birgit vergewissert hatte, dass erst in einer viertel Stunde zu Mittag gegessen wurde, holte sie Zuhause ihre Badesachen. Inzwischen erzählte Christian seinem Großvater von den neuen Plänen. Er kannte den kleinen Bach und erlaubte den Kindern dort zu spielen, doch nur, wenn Hille in der Nähe arbeitete. Atemlos kehrte Birgit zu Christian zurück. Sie war auch noch bei Hille gewesen und nach dem Essen würde sie die Kinder mit zum Bach nehmen. Birgit rieb sich vergnügt die Hände. Sie boxte Christian freundschaftlich in die Seite und kicherte: „Wir werden Schatzsucher!“ Dann stürmten sie in die Gaststube. Zuerst saßen sie noch allein am Esstisch. Birgit schaute auf die Uhr. Gleich würden die anderen kommen! Doch zunächst schickte Frau Kruse die beiden noch einmal hinaus zum Hände waschen. Als sie wieder ins Zimmer kamen, saßen alle am Tisch. Birgit warf Frau Kruse einen vorwurfsvollen Blick zu, und Frau Kruse sagte: „Du hast noch nichts verpasst!“
Der Großvater sagte laut: „Gesegnete Mahlzeit!“ und wie im Chor erwiderten alle: „Mahlzeit!“
Frau Kruse teilte die Suppe aus. Christian beobachtete die Freundin von der Seite. Jetzt konnte sie endlich nach Herzenslust schmatzen. Doch er bemerkte erstaunt, dass Birgit weder schmatzte noch schlürfte. Sie aß sehr sorgfältig und legte auch nicht die Ellbogen auf den Tisch. Sie waren gerade mit dem Nachtisch fertig, als Hille auf dem Traktor hupte.
„Dürfen wir aufstehen?" fragte Birgit. Der Großvater nickte und Frau Kruse sagte: „Nun beeilt euch!“
„Bis heute Abend!" rief Christian und schon sausten die Kinder hinaus. Rasch kletterten sie auf den Traktor und setzten sich auf die kleine Bank über dem großen Hinterrad. Hille hupte noch einmal, dann zuckelte sie los. Christian fuhr sehr gern mit dem Traktor. Er fand es unbeschreiblich gemütlich, wenn der Wind durch seine Haare strich, der Motor leise tuckerte und Hille vergnügt vor sich hin summte. Auch diese Fahrt ging viel zu schnell vorbei. Bald schon stoppte Hille den Traktor.
„Runter mit euch“, sagte sie, „ich habe eine Weile drüben im Kartoffelacker zu tun! Bleibt bitte in der Nähe.“
Die Kinder liefen zum Bach, sie hatten schon Zuhause ihre Badesachen angezogen. Birgit breitete ihre Badematte am Ufer aus, sie warfen Schuhe und Kleider darauf und stiegen in den Bach. Das Wasser ging ihnen nicht einmal bis zu den Knien. Birgit sagte: „ aus meiner erste Perle lasse ich mir eine Krone machen und werde Heidekönigin und du?“
„Die behalte ich für mich, aber erst müssen wir welche finden“, sagte Christian. Birgit tauchte die Arme ins Wasser und brachte eine Handvoll Sand hoch. Sie streckte Christian die Hände entgegen und bat ihn, nachzuschauen, ob sie eine Muschel gefunden hatte. Vorsichtig stocherte er im Sand und schüttelte den Kopf. „Nichts drin“, sagte er und holte ebenfalls Sand aus dem Bach. Sie suchten eifrig und allmählich färbte das kalte Wasser ihre Arme rot. Aber außer ein paar Kieselsteinchen hatten sie nur Sand gefunden. Birgit setzte sich an den Bachrand und meinte: „Wir fischen sicher nicht richtig. Ich habe einmal gelesen, dass man nach Perlmuscheln tauchen muss. Sollen wir das mal probieren?"
„Klar“, sagte Christian, „zeig mir, wie das geht!“ Birgit kniete sich in den Bach, hielt sich die Nase zu, beugte sich vor und legte das Gesicht aufs Wasser. Christian machte es nach. Zunächst sah er nichts als feinen, hellen Sand. Doch auf einmal huschte ein Fisch an seinem Gesicht vorbei. Vor Schreck plumpste er ins Wasser und stieß dabei auch Birgit um. Sie lachte laut und damit begann die große Wasserschlacht. Sie bespritzten sich, schoben sich Wellen zu, prusteten und husteten und vergaßen, dass sie Perlen suchen wollten.
Birgit schüttelte sich und meinte: „das mit den Perlen wird nichts, wir sind Schatzsucher und müssen zwischen durch auch mal essen!“
„Hast du was dabei“? erkundigte sich Christian.
„Nein, wir fangen uns einen Fisch, und nehmen ein Netz. Ich könnte mein Shirt nehmen, aber dann fliehen die Fische durch die Ärmel und den Halsausschnitt.“
„Warte, ich gebe dir einen Schnürsenkel von meinem Turnschuh, damit binden wir dein Hemd oben zu.“
Nachdem sie das zusammen erledigt hatten, blieb von Birgits Shirt nur ein kleiner Beutel übrig. Sie packte das Shirt auf der einen Seite an, Christian hielt es auf der anderen. Dann gingen sie gemächlich Bach aufwärts, hielten dabei stets ihr Fischnetz offen. Doch außer Wasser und einem Wasserfloh sammelte sich nichts darin.
„Jetzt fangen wir uns einen Fisch mit den Händen, wie alle große Schatzsucher! Wir müssen schauen, wo sich die Fische verstecken“, bestimmte Birgit.
Christian blieb im Bach stehen, Birgit trampelte am Bachufer entlang. Zwei verschreckte Fische suchten unter der Böschung Schutz. Christian deutet mit der Hand auf die Stelle, Birgit legte sich auf den Bauch und tastete mit bloßem Arm die Böschung ab. Plötzlich fand sie ein Loch, griff hinein. Ohne zu zögern packte sie den kleinen Fisch und sprang mit ihm jubelnd in die Höhe. Christian klatschte begeistert, doch nun vermischte sich mit ihrem Kreischen ein fremder lauter Schrei. Birgit ließ vor Schreck den Fisch ins Wasser fallen. Am Ufer stand ein großer Mann. Er hatte ein knallrotes Gesicht und fuchtelte wild mit den Armen. „Was fällt euch eigentlich ein?“ schrie er, „ihr habt hier nicht das Recht, Fische zu fangen, dürft nichts, was lebt aus dem Bach holen. Das kann sehr teuer für eure Eltern werden!“
Die Kinder drängten sich zusammen und Birgit sagte: „Wir spielen im Wasser und suchen nur Perlen!“ Doch diese Erklärung beruhigte den Unbekannten keineswegs. Er befahl ihnen, sofort aus dem Wasser zu steigen und fragte sie nach ihrem Namen. Da Christian fror und mit den Zähnen klapperte, antwortete nur Birgit. Dann wollte der Fremde noch wissen, wo die Eltern der Kinder wohnten. „Da drüben, sie können uns von dort aus sehen“, sagte Birgit. Sie warf den Kopf zurück und deutete mit dem Finger zur Landstraße. „Deine auch?" wandte sich der Fremde an Christian, der sich die Arme rieb. Christian schlotterte laut und sagte mühsam: "Ich bin beim Großvater!"
„Und, wo wohnst du wirklich“? fragte der Mann.
„In Freiburg.“
„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen", schimpfte der Fremde und drohte Christian mit dem Finger. Aber Birgit erklärte: „Dafür bist du doch viel zu dick. Er kann kaum mich hoch heben!“
Das Gesicht des Fremden färbte sich dunkelrot. „Du freche Göre, du!“ zischte er und packte Birgit leicht am Pferdeschwanz. Mit einem Satz hängte sich Christian an den Arm des Fremden und kreischte: „Loslassen, loslassen!"
Birgit aber rief gellend: „Hille, Hille!“
Verblüfft ließ der Mann Birgit los und fragte: „Du rufst nach Hilfe und sagst Hille? Kannst du nicht ordentlich sprechen oder bist du nicht recht gescheit?“ Birgit beachtete den Fremden nicht mehr. Sie winkte Hille zu, die rasch näher kam. „Hille!" rief Birgit noch einmal und nun drehte sich der fremde Mann um. Wie ein Blitz sausten die Kinder an ihm vorbei und stellten sich neben die große Freundin. Der Unbekannte musterte Hille mit finsterem Blick und sagte: „Diese Kinder fangen meine Fische!" Hille fragte ihn mit strenger Stimme, ob der Bach ihm gehöre.
„Natürlich nicht“, grollte der Fremde, „aber ich besitze einen Angelschein, ich darf hier fischen!"
„Das kann sich sehr schnell ändern", erklärte Hille und legte ihre Arme um Birgit und Christian. Mit ihrer tiefsten Brummstimme sagte sie: „Wenn Sie die Kinder noch einmal in Angst und Schrecken versetzen oder sie gar anfassen, dann sorge ich dafür, dass Sie hier zum letzten Mal geangelt haben. Halten Sie sich ja von den Kindern fern!“
Der Unbekannte drehte sich wortlos um und eilte davon. Die Kinder holten ihre Sachen vom Ufer und schlenderten mit Hille zum Traktor. „Den Rotkopf sehen wir nie wieder", meinte Birgit, doch da irrte sie sich.
*
„Jetzt haben wir uns aber einen Kaffee verdient“, meinte Hille. Fröhlich singend fuhren sie zum Bauernhof zurück. Bei Hille Zuhause roch es stets nach frischem Brot oder Kuchen. Auch an diesem Tag hatte Tante Hede, wie die Kinder Hilles Mutter nannten, Streuselkuchen gebacken. Der schmeckte Christian inzwischen beinahe so gut wie der Gugelhopf von seiner Oma. „Wenn der fremde Kerl nicht gekommen wäre, hätten wir vielleicht noch eine Perlmuschel gefunden“, sagte Birgit.
„Nein“, erwiderte Hille, „in unserem Bach gibt es schon lange keine Perlmuscheln mehr."
„Aber irgendwo in einem Heidebach gibt es noch welche,
sagte Tante Hede, doch wo die zu finden sind, ist ein Geheimnis. Davon wissen nur sehr wenig Menschen!“
Nach der Kaffeepause fuhr Hille nicht wieder zum Bach zurück. Aber das war nicht weiter schlimm für die Kinder, sie spielten ebenso gern auf dem Bauernhof.
Christians Großvater hatte nur Pferde und Hühner, bei Hille dagegen gab es noch Schweine, Katzen, Enten, Gänse, ein paar Schafe und natürlich auch Hühner. Hille drückte Birgit einen Korb in die Hand und bat die Kinder, im Hühnerhaus die Eier einzusammeln.
Während Birgit den Hühnerhof betrat, setzte Christian sich vor die Haustür und streichelte die Katze. Ihr Fell war rot und weiß und warm von der Mittagssonne.
Viel lieber würde er bei dem Tier sitzen bleiben, doch Birgit rief schon nach ihm. Er eilte in den Hühnerhof und die Hühner flatterten mit lautem Spektakel davon. Sie lärmten, als ginge es um ihr Leben, nur der Hahn stolzierte majestätisch über den Platz.
„Du Angeber“, rief Birgit ihm zu und öffnete die Tür zum Stall. Eine braune Henne saß auf einem Nest und gluckste sie vorwurfsvoll an. „Warten wir, bis sie ihr Ei gelegt hat, sagte Birgit und schloss leise die Tür. Sie stellte den Korb zur Seite, nahm den Schlauch, der am Hühnerhaus hing und füllte die Tränke mit frischem Wasser. Dann richtete sie den Strahl auf Christians Beine und spritzte ihn nass. Im Nu bildete sich eine Pfütze auf dem Boden.
Vom Küchenfenster aus rief Tante Hede, sie bräuchte dringend Eier. Rasch drehte Christian den Wasserhahn zu. Birgit nahm den Henkelkorb wieder auf und gemeinsam holten sie nun vorsichtig die frischen Eier aus den Gelegen.
„20 Stück, die Hühner waren fleißig, alle haben eins gelegt“, verkündete Birgit und stellte den Korb auf den Tisch. Danach besuchten sie die vier Schweine im Stall, die sich auf dem Stroh hingelegt hatten und nur ab und zu leise grunzten. „Hier stinkt es gewaltig“, sagte Birgit und zog ihn in die Scheune. Doch zum Verstecken spielen hatten sie keine Zeit mehr, Hille kam zum Abendessen nach Hause.
„Jetzt müssen wir heim“, sagte Christian. Sie verabschiedeten sich rasch von Hille und Tante Hede, Christian streichelte noch einmal die Katze, dann liefen sie zum Großvater.
Die Gaststube war gerammelt voll und auch im Nebenzimmer
gab es keinen freien Stuhl mehr. Der Großvater winkte die Kinder in sein Büro, brachte ihnen Brote und Tee und eilte zu den Gästen.
„Einmal im Büro essen, das habe ich mir schon immer gewünscht“, sagte Birgit strahlend und schnappte sich ein Schinkenbrot. Gerade, als Christian die letzte Gurke in den Mund schob, streckte der Großvater den Kopf zur Tür herein.
Er fragte, ob die Kinder ihn mit der Kutsche zum Bahnhof begleiten wollten. Sie nickten nur, und noch kauend trugen sie die leeren Teller in die Küche. Dann schwangen sie sich zu Großvater auf den Kutschbock. „Los, Jungs“, rief der Großvater den Pferden zu und schon rollte der Planwagen, vollbesetzt mit Gästen, aus dem Hof, dem Bahnhof entgegen.
Als diese Tour zu Ende war, setzten sie Birgit auf dem Heimweg
vor ihrem Elternhaus ab. „Auf Wiedersehen, bis morgen“, rief sie und winkte ihnen nach, bis sie den Hufschlag der Pferde nicht mehr hörte.
Für Christian war es nun Zeit ins Bett zu gehen. „Aber erst musst du heute noch duschen“, erinnerte ihn Frau Kruse, „du riechst so nach Stall.“
„Ja, ja, sagte er gedehnt, „ich vergesse auch nicht meine Zähne zu putzen!“
„Hoffentlich“, sagte Frau Kruse, „ nun mach aber mal fix, dass du fertig wirst.“
*
Als der Großvater das Dachstübchen betrat, stand Christian auf der Truhe. Er fragte: „Wie heißt der helle Stern da oben?“
Der Großvater rückte die Truhe ein Stück zur Seite und betrachtete den Sternenhimmel. „Das ist die Wega“, antwortete er und gab Christian die Hand. Dieser sprang in sein Bett und der Großvater setzte sich auf den Rand. Er zog einen Block aus der Hosentasche. Auf dem schrieb er sonst den Gästen die Rechnung. Nun aber malte er einen großen Kreis, verteilte darunter links und rechts vier kleine Kreise, verband sie mit dünnen Strichen und erklärte: „Dieses Sternbild haben die Menschen „Leier“ genannt und der hellste Stern davon ist die „Wega.“
Er schloss die Truhe auf und holte für Christian ein kleines Buch heraus. „Hier sind alle Sternbilder aufgezeichnet und du kannst auch nachlesen, wann du sie am Himmel siehst. Doch nun erzähle mir eine Geschichte!“ Vorsichtig legte Christan das Buch auf den Nachttisch und sagte: „Jetzt habe ich heute doch noch einen Schatz bekommen!“ Zuerst berichtete er dem Großvater von der Perlensuche. Zum Schluss sagte er: „Ich erzähle dir nun die Geschichte von Aladin. Er fand viele Perlen, Gold, Silber, Edelsteine und eine Lampe die wie eine kleine Kanne aussah.“
Christian gähnte laut und fragte: „Kannst du mir sagen, warum ich immer so müde werde, wenn ich dir eine Geschichte erzählen will?“
„Nein, das weiß ich nicht“, sagte der Großvater und lächelte, „ich kann dir nur sagen, dass ich nach deinen Geschichten jedes Mal wunderbar einschlafe! Erzähl ruhig weiter!“
„Also, dieser Aladin fand einen riesigen Schatz.“ Christian seufzte leise: „Mein Papa sagt, sein größter Schatz wäre meine Mutter gewesen und sie hätte ihm ein Schätzchen geschenkt. Das bin ich.“ Das Sprechen fiel Christian immer schwerer und Großvaters Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Kurz bevor er einschlief, spürte er zum ersten Mal Großvaters schwielige Hand auf seinem Kopf, die ihm sanft über die Haare strich. „Lieber Großvater“, flüsterte Christian. Der alte Mann blieb auf dem Bettrand sitzen und betrachtete den schlafenden Jungen. Nach einer Weile löschte er die Lampe aus und ging leise aus dem Zimmer.