pol shebbel
Mitglied
(Oder: Vom Jäger zum Gejagten.)
Paril wusste nicht, wie lange er schlief oder ob er überhaupt schlief. Die Gedanken oder Träume in seinem Kopf waren bunt und gewalttätig - er schlug unablässig Sachen kaputt. Mal waren es Bäume, die er umhackte, mal waren es die schmutzigen Gebäude von dem, was er sich unter Zin-Âching vorstellte; dann wieder schlug er einem Kalbell ins blöde Gesicht. Jeder Schlag machte ihn heisser; er zertrümmerte jeden Baum im Wald, jeden Berg, streckte jeden Menschen nieder; er schoss mit seiner Armbrust auf die Sonne und den Mond und holte beide herunter; und am Schluss zertrümmerte er den Boden unter seinen Füssen.
Dann stand er plötzlich allein im Nichts, es gab nichts mehr, worauf er seine Aggressivität oder sonst irgend ein Gefühl richten konnte. Sein Blick schweifte hektisch, dann immer lahmer umher auf der Suche nach etwas. Seine Hitze begann sich zu verflüchtigen, verwandelte sich allmählich in Kälte - in eine tödliche Kälte, die sich bleischwer in seine Gebeine senkte.
Und zusammen mit der Kälte kam das Gefühl einer unglaublichen und absoluten Einsamkeit. Allein in einer toten Welt zu leben - das war gleich wie tot zu sein. Seine letzten Kräfte verliessen ihn, seine Arme und Beine trieben unkontrolliert durch das Nichts.
Paril war bereit zu sterben.
Wenn es keinen Himmel und auch kein Meer mehr gab, wo die Seele versinken konnte, trat das Wesen des Sterbens umso klarer zutage: die einzelnen Teile hörten auf, Teile zu sein, es gab kein Ganzes mehr. Es würde nichts mehr geben, nur noch Ruhe und ewige Stille...
Aber dann fühlte er plötzlich ein Kribbeln in seinem Bein und einen bohrenden Schmerz im Rücken - und er war wieder wach.
Im ersten Augenblick durchflutete ihn Erleichterung, dass die Welt doch nicht tot war - im zweiten fühlte er wieder nur grenzenlose Leere. Es gab keinen Unterschied zwischen dem Traum vorhin und jetzt; so oder so war er vollkommen allein. Aus dieser Welt hier war er ausgestossen, zum Ketzer erklärt; damit war er ein Fremdkörper in ihr geworden. Sollte sie ihn doch töten! Sollte Ssaiang ihn doch finden, sollten doch die Shas Gil ihn fressen, es machte keinen Unterschied mehr.
Die Stellung, in der Paril sich befand, war unglaublich unbequem; dennoch verharrte er minutenlang regungslos, und in seinem Inneren gab es statt wirbelnder Gedanken nur noch ein schwarzes Loch. Schliesslich hielt er es nicht mehr aus und veränderte seine Lage. Es waren nur winzige Verrenkungen, fingerbreitweise; gleichzeitig jedoch begann auch in seinem Inneren ein Prozess zu laufen - ein Prozess, an dessen Ende ein Entschluss stand.
Wenn es in dieser Welt noch etwas gab, woran er sich festhalten konnte, dann war das eine Person. Der Hochmeister. Und über ihm wollte er - verschimmelt noch mal - die Wahrheit herausfinden!
Unter leisem Stöhnen veränderte er seine Lage weiter, bis er imstande war , die riesigen Blütenblätter auseinanderzustemmen. Zitternd stand er einen Augenblick in der Blüte, dann fiel er mehr als er sprang, Äste kratzten an ihm, und er rollte den Pyramidalstamm hinunter. Unten angekommen, kauerte er sich sofort zusammen und spähte mit aller Wachsamkeit, die er hatte, umher.
Der letzte Schimmer Tageslicht war mittlerweile verschwunden (Paril hatte also anscheinend einige Zeit geschlafen); dennoch gab es Licht. Die Nacht war mond- und sternenhell, und es gab zahlreiche glimmende Pflanzen und Tiere (wenn auch zum Glück keine Shas Gil); für jemanden wie Paril genug, um sich zu orientieren. Hinweise auf Verfolger waren weiterhin keine auszumachen. Wie war es möglich, dass er sie so leicht abgeschüttelt hatte? Vielleicht hatten sie es nicht eilig, weil sie sich auf den schlechten Zustand der Flüchtigen oder auf den weiten Einfluss von Asîmchômsaia verliessen? Oder weil es ihnen nicht wichtig war?! Eine kurze, scharfe Schockwelle des Zweifels durchschoss ihn, während er abzuschätzen versuchte, wo sich jetzt die anderen Ausbrecher befanden. Nein, unmöglich; die vergangenen Ereignisse bewiesen die Wichtigkeit.
Abzuschätzen, wo er suchen musste, war nicht schwierig. Ausgehend von Parils jetzigem Standort, dem damaligen Standort des Heers, der inzwischen vergangenen Zeit (die Paril am Mondstand ablesen konnte) sowie der mutmasslichen (nicht sehr hohen) Geschwindigkeit der Ausbrecher liess sich das Gebiet, in dem sie sich befinden mussten, ziemlich eingrenzen. Dies natürlich unter der Voraussetzung, dass man sie nicht inzwischen wieder geschnappt hatte... (Wieder eine kurze, scharfe Schockwelle.)
Doch Paril brauchte nicht lange zu suchen. Im Umkreis von 100 Mannslängen wurde bestimmt jedes Tier aufgeweckt - obwohl sie sich wahrscheinlich einbildeten, sie seien leise. Wirklich, sie schienen die elementarsten Regeln des Waldes nicht zu kennen, und sie konnten sich ausserordentlich glücklich schätzen, dass die hochmeisterlichen Verfolger nicht viel klüger waren...
Eine bekannte Stimme stiess einen kleinen Schreckensschrei aus, als sich Paril - absichtlich geräuschvoll - näherte, und ein Bronzeschwert wurde gegen ihn erhoben. "Tu das Schwert weg, du Schwachkopf!" sagte er ruhig.
Die Schwertspitze sank hinab, während die Gruppe in überraschte, etwas matte Bewegung geriet. "Da ist er!" rief einer von ihnen. Der Besitzer des Schwertes glotzte Paril an und sagte mit dem wohlbekannten Akzent von Shnoiw: "Er ist der, der uns befreit hat. Was für ein Glück, dass wir Ihn hier treffen!"
"Glück?" brummte Paril. "Für mich wohl weniger. Die hochmeisterliche Armee kommt wohl auch gleich hinterher, wie?" Und er spähte demonstrativ in den Wald hinter ihnen.
"Wir wissen nicht, wie nah sie uns auf den Fersen sind", antwortete Shnoiw. "Aber wieso flieht Er auch? Wieso hat Er uns befreit?"
"Wieso?" wiederholte Paril und rieb seinen Rücken, der von dem Aufenthalt in der Blüte noch etwas schmerzte. "Na, weiss nicht. Ich hätte es wohl lieber nicht tun sollen."
Diese Bemerkung erzeugte Erstaunen. Selbst in der Dunkelheit war Shnoiws Stirnrunzeln zu sehen. Die anderen kamen ein paar Schritte näher. Paril sah, dass die Grösse der Gruppe auf rund die Hälfte geschrumpft war - nun, wundern musste man sich höchstens darüber, dass es noch so viele waren. War er auch dabei? Wieder durchlief Paril eine Schockwelle - doch dann fiel sein Blick auf Andai. Der hatte mit den Behauptungen über den Hochmeister angefangen, also würde er es auch erklären können!
Die ganze Gruppe schien in ziemlich schlechtem Zustand zu sein. Ausser Shnoiw sah nur einer von ihnen einigermassen frisch aus, ein grosser Kerl mit einem respekteinflössenden Vollbart. Parils alter "Freund" Messerheld hing mit jämmerlicher Miene an Shnoiws Schulter, während der Vollbart den einen der beiden "Generäle" stützte, einen verwittert aussehenden Greis mit grauweissen Haarsträhnen.
"Aber..." begann Shnoiw zögernd, "wir dachten... Weil Er uns doch befreit hat, und weil Er jetzt auch auf der Flucht ist... Nun gut", er blickte kurz zu Boden, "natürlich wussten wir nicht, warum. Aber wir hatten nichts zu verlieren."
"Ja, freilich!" lachte Paril verächtlich auf. "Freilich hattet ihr nichts zu verlieren! Ihr habt nach dem Tode nicht viel zu erwarten, nach dem, was ihr den Bäumen angetan habt, oder?"
Jetzt hatte er sie richtig schockiert. Der Typ mit dem südländischen Vollbart gab ein knurrendes Geräusch von sich, das entfernt wie "Hab's doch gleich gesagt" klang. Shnoiw hob den Kopf mit unwilliger Miene und setzte zu einer Erwiderung an, da schrie plötzlch der Messerheld auf: "Mann! Hau doch ab! Baumbesitzer, verkackter..." Und er ballte seine magere Faust und wollte sie gegen Paril schütteln - da verliessen ihn seine Kräfte, er glitt von Shnoiws Schulter herab und stürzte mit einem Schrei zu Boden. Die anderen sammelten sich sofort erschreckt um ihn, Paril nicht mehr beachtend, und begannen ihm aufzuhelfen.
"Nur keine Panik", sagte Paril. "Einen Moment..." Er griff nach seinem Wasserschlauch, öffnete den Verschluss und hielt den Schlauch dem noch immer feindselig blickenden Shnoiw hin. "Viel ist nicht mehr drin. Zwei Schlucke für jeden, würde ich sagen..."
Sie hörten gar nicht zu, so begierig stürzten sie sich auf das kostbare Nass. Als Paril den Schlauch zurückbekam, war nicht ein Bruchteil eines Tropfens mehr drin. "Also gut", brummte er, während er ihn wieder zukorkte. "Ich kann dich zwar nicht leiden, Scheissfliegenkopf" - dies an den Messerhelden gerichtet - "aber merk dir eines: wenn du wirklich fliehen willst, hör auf, so laut zu schreien."
"Schluss mit dem Scheiss!!" Das war der Schwarzbart. In heiser gebelltem Stakkato schossen ihm die Worte aus dem Mund. "Ihr habt gehört, was er quatscht. Das ist ein Baumbesitzer! Er wird uns nicht helfen. Kein Baumbesitzer hat uns je geholfen! Für die sind wir keine Menschen, sondern irgend ein Ungeziefer, das in der Hölle ersaufen wird. Obwohl wir die ganze Arbeit für sie machen, reden sie, als ob man uns ausrotten müsste. Los, gehn wir!"
Paril musste sich etwas anstrengen, ungerührt zu erscheinen; der andere sah selbst in seinem derzeitigen Zustand beunruhigend kräftig aus. "Wenn ihr mir nicht traut, dann lasst es bleiben", brummte er. "Aber ihr solltet euch vielleicht entscheiden, bevor ihr geschnappt werdet..."
Sie schauten immer noch misstrauisch, allen voran der Messerheld, bei dem die Prügel nicht gewirkt zu haben schienen. Doch nun trat einer von ihnen vor - Andai. "Er hat recht", sagte er. "Wir können ihm natürlich nicht trauen; aber wie gesagt, wir haben nichts zu verlieren - vor allem keine Zeit. Statt zu streiten, sollten wir machen, dass wir wegkommen!" Und zu Paril gewandt: "Also - was hat er für Vorschläge?"
Paril legte den Kopf schief. "Nun, ich kann euch sagen, was unsere Offiziere uns erzählt haben. Die haben behauptet, ihr wolltet nach Onnikerr Ewshtrôm oder Onnikisse Pellda, um den Süden für eure Partei zu gewinnen. Aber so schwachsinnig werdet ihr wohl nicht sein?!"
Andai warf einen Blick zur Seite. "Also... um ehrlich zu sein... Etwas in der Art hatten wir eigentlich vor."
"Wirklich?!" gluckste Paril mit gespielter Heiterkeit. "Das ist ja kolossal - eine Reise von hundert Meilen wolltet ihr machen, mitten durch den Pyramidalwald in eurem Zustand?!"
Natürlich nicht!" versetzte Andai gereizt. "Man kann sich ja schliesslich Kleider und Essen besorgen. Und anderswo kennt man uns ja nicht..."
"Anderswo? Wo denn?" fragte Paril zurück. "Im hiesigen Pyramidalwald jedenfalls werdet ihr meilenweit keine Sicherheit mehr finden; alle Orte tun seit neuestem nur noch, was Asîmchômsaia sagt. Vermutlich sind jetzt schon Boten unterwegs, und bald werden überall hochmeisterliche Krieger auftauchen. Nein, den Süden - den direkten Weg dahin, in jedem Fall - schlag dir aus dem Kopf. Wenn ihr aus dem Einflussgebiet der Doppeleiche entkommen wollt, gibt es im Moment nur eins: so schnell wie möglich aus dem Pyramidalwald hinaus!"
Sie schauten sich an. Andai begann langsam zu nicken. Ein anderer Bursche aus der Gruppe ergriff das Wort: "Dann... müssen wir nach Osten! Der kürzeste Weg. Man kann in zwei Tagen die Berge erreichen..." Er sprach denselben Dialekt wie Shnoiw. Sein Gesicht war, wie Paril beim Hinsehen mit Entsetzen feststellte, eine furchterregende Maske, entstellt von Narben, die auf Brandwunden zurückzugehen schienen. Offenbar traf der Waldfrevel zumindest manchmal auch die Frevler selbst...
Nach einer kurzen Schreckpause stimmte Paril zu. "Hmm... ja, nach Osten würde ich auch sagen." "Also - dann gehen wir sofort!" beschloss Andai nach einem kurzen Blick in die Runde.
"Aber wie wissen wir, wo Osten ist?" fragte der Messerheld.
Paril mass ihn mit einem geringschätzigen Blick. "Nach dem Mond natürlich. So was lernt man in Zin-Âching wohl nicht, wie? Braucht er doch die Hilfe eines verkackten Baumbesitzers..."
Der Messerheld warf gequält den Kopf hoch. "Is' ja gut, is' ja schon gut, Mann! Reg dich nicht so auf..."
Paril wusste nicht, wie lange er schlief oder ob er überhaupt schlief. Die Gedanken oder Träume in seinem Kopf waren bunt und gewalttätig - er schlug unablässig Sachen kaputt. Mal waren es Bäume, die er umhackte, mal waren es die schmutzigen Gebäude von dem, was er sich unter Zin-Âching vorstellte; dann wieder schlug er einem Kalbell ins blöde Gesicht. Jeder Schlag machte ihn heisser; er zertrümmerte jeden Baum im Wald, jeden Berg, streckte jeden Menschen nieder; er schoss mit seiner Armbrust auf die Sonne und den Mond und holte beide herunter; und am Schluss zertrümmerte er den Boden unter seinen Füssen.
Dann stand er plötzlich allein im Nichts, es gab nichts mehr, worauf er seine Aggressivität oder sonst irgend ein Gefühl richten konnte. Sein Blick schweifte hektisch, dann immer lahmer umher auf der Suche nach etwas. Seine Hitze begann sich zu verflüchtigen, verwandelte sich allmählich in Kälte - in eine tödliche Kälte, die sich bleischwer in seine Gebeine senkte.
Und zusammen mit der Kälte kam das Gefühl einer unglaublichen und absoluten Einsamkeit. Allein in einer toten Welt zu leben - das war gleich wie tot zu sein. Seine letzten Kräfte verliessen ihn, seine Arme und Beine trieben unkontrolliert durch das Nichts.
Paril war bereit zu sterben.
Wenn es keinen Himmel und auch kein Meer mehr gab, wo die Seele versinken konnte, trat das Wesen des Sterbens umso klarer zutage: die einzelnen Teile hörten auf, Teile zu sein, es gab kein Ganzes mehr. Es würde nichts mehr geben, nur noch Ruhe und ewige Stille...
Aber dann fühlte er plötzlich ein Kribbeln in seinem Bein und einen bohrenden Schmerz im Rücken - und er war wieder wach.
Im ersten Augenblick durchflutete ihn Erleichterung, dass die Welt doch nicht tot war - im zweiten fühlte er wieder nur grenzenlose Leere. Es gab keinen Unterschied zwischen dem Traum vorhin und jetzt; so oder so war er vollkommen allein. Aus dieser Welt hier war er ausgestossen, zum Ketzer erklärt; damit war er ein Fremdkörper in ihr geworden. Sollte sie ihn doch töten! Sollte Ssaiang ihn doch finden, sollten doch die Shas Gil ihn fressen, es machte keinen Unterschied mehr.
Die Stellung, in der Paril sich befand, war unglaublich unbequem; dennoch verharrte er minutenlang regungslos, und in seinem Inneren gab es statt wirbelnder Gedanken nur noch ein schwarzes Loch. Schliesslich hielt er es nicht mehr aus und veränderte seine Lage. Es waren nur winzige Verrenkungen, fingerbreitweise; gleichzeitig jedoch begann auch in seinem Inneren ein Prozess zu laufen - ein Prozess, an dessen Ende ein Entschluss stand.
Wenn es in dieser Welt noch etwas gab, woran er sich festhalten konnte, dann war das eine Person. Der Hochmeister. Und über ihm wollte er - verschimmelt noch mal - die Wahrheit herausfinden!
Unter leisem Stöhnen veränderte er seine Lage weiter, bis er imstande war , die riesigen Blütenblätter auseinanderzustemmen. Zitternd stand er einen Augenblick in der Blüte, dann fiel er mehr als er sprang, Äste kratzten an ihm, und er rollte den Pyramidalstamm hinunter. Unten angekommen, kauerte er sich sofort zusammen und spähte mit aller Wachsamkeit, die er hatte, umher.
Der letzte Schimmer Tageslicht war mittlerweile verschwunden (Paril hatte also anscheinend einige Zeit geschlafen); dennoch gab es Licht. Die Nacht war mond- und sternenhell, und es gab zahlreiche glimmende Pflanzen und Tiere (wenn auch zum Glück keine Shas Gil); für jemanden wie Paril genug, um sich zu orientieren. Hinweise auf Verfolger waren weiterhin keine auszumachen. Wie war es möglich, dass er sie so leicht abgeschüttelt hatte? Vielleicht hatten sie es nicht eilig, weil sie sich auf den schlechten Zustand der Flüchtigen oder auf den weiten Einfluss von Asîmchômsaia verliessen? Oder weil es ihnen nicht wichtig war?! Eine kurze, scharfe Schockwelle des Zweifels durchschoss ihn, während er abzuschätzen versuchte, wo sich jetzt die anderen Ausbrecher befanden. Nein, unmöglich; die vergangenen Ereignisse bewiesen die Wichtigkeit.
Abzuschätzen, wo er suchen musste, war nicht schwierig. Ausgehend von Parils jetzigem Standort, dem damaligen Standort des Heers, der inzwischen vergangenen Zeit (die Paril am Mondstand ablesen konnte) sowie der mutmasslichen (nicht sehr hohen) Geschwindigkeit der Ausbrecher liess sich das Gebiet, in dem sie sich befinden mussten, ziemlich eingrenzen. Dies natürlich unter der Voraussetzung, dass man sie nicht inzwischen wieder geschnappt hatte... (Wieder eine kurze, scharfe Schockwelle.)
Doch Paril brauchte nicht lange zu suchen. Im Umkreis von 100 Mannslängen wurde bestimmt jedes Tier aufgeweckt - obwohl sie sich wahrscheinlich einbildeten, sie seien leise. Wirklich, sie schienen die elementarsten Regeln des Waldes nicht zu kennen, und sie konnten sich ausserordentlich glücklich schätzen, dass die hochmeisterlichen Verfolger nicht viel klüger waren...
Eine bekannte Stimme stiess einen kleinen Schreckensschrei aus, als sich Paril - absichtlich geräuschvoll - näherte, und ein Bronzeschwert wurde gegen ihn erhoben. "Tu das Schwert weg, du Schwachkopf!" sagte er ruhig.
Die Schwertspitze sank hinab, während die Gruppe in überraschte, etwas matte Bewegung geriet. "Da ist er!" rief einer von ihnen. Der Besitzer des Schwertes glotzte Paril an und sagte mit dem wohlbekannten Akzent von Shnoiw: "Er ist der, der uns befreit hat. Was für ein Glück, dass wir Ihn hier treffen!"
"Glück?" brummte Paril. "Für mich wohl weniger. Die hochmeisterliche Armee kommt wohl auch gleich hinterher, wie?" Und er spähte demonstrativ in den Wald hinter ihnen.
"Wir wissen nicht, wie nah sie uns auf den Fersen sind", antwortete Shnoiw. "Aber wieso flieht Er auch? Wieso hat Er uns befreit?"
"Wieso?" wiederholte Paril und rieb seinen Rücken, der von dem Aufenthalt in der Blüte noch etwas schmerzte. "Na, weiss nicht. Ich hätte es wohl lieber nicht tun sollen."
Diese Bemerkung erzeugte Erstaunen. Selbst in der Dunkelheit war Shnoiws Stirnrunzeln zu sehen. Die anderen kamen ein paar Schritte näher. Paril sah, dass die Grösse der Gruppe auf rund die Hälfte geschrumpft war - nun, wundern musste man sich höchstens darüber, dass es noch so viele waren. War er auch dabei? Wieder durchlief Paril eine Schockwelle - doch dann fiel sein Blick auf Andai. Der hatte mit den Behauptungen über den Hochmeister angefangen, also würde er es auch erklären können!
Die ganze Gruppe schien in ziemlich schlechtem Zustand zu sein. Ausser Shnoiw sah nur einer von ihnen einigermassen frisch aus, ein grosser Kerl mit einem respekteinflössenden Vollbart. Parils alter "Freund" Messerheld hing mit jämmerlicher Miene an Shnoiws Schulter, während der Vollbart den einen der beiden "Generäle" stützte, einen verwittert aussehenden Greis mit grauweissen Haarsträhnen.
"Aber..." begann Shnoiw zögernd, "wir dachten... Weil Er uns doch befreit hat, und weil Er jetzt auch auf der Flucht ist... Nun gut", er blickte kurz zu Boden, "natürlich wussten wir nicht, warum. Aber wir hatten nichts zu verlieren."
"Ja, freilich!" lachte Paril verächtlich auf. "Freilich hattet ihr nichts zu verlieren! Ihr habt nach dem Tode nicht viel zu erwarten, nach dem, was ihr den Bäumen angetan habt, oder?"
Jetzt hatte er sie richtig schockiert. Der Typ mit dem südländischen Vollbart gab ein knurrendes Geräusch von sich, das entfernt wie "Hab's doch gleich gesagt" klang. Shnoiw hob den Kopf mit unwilliger Miene und setzte zu einer Erwiderung an, da schrie plötzlch der Messerheld auf: "Mann! Hau doch ab! Baumbesitzer, verkackter..." Und er ballte seine magere Faust und wollte sie gegen Paril schütteln - da verliessen ihn seine Kräfte, er glitt von Shnoiws Schulter herab und stürzte mit einem Schrei zu Boden. Die anderen sammelten sich sofort erschreckt um ihn, Paril nicht mehr beachtend, und begannen ihm aufzuhelfen.
"Nur keine Panik", sagte Paril. "Einen Moment..." Er griff nach seinem Wasserschlauch, öffnete den Verschluss und hielt den Schlauch dem noch immer feindselig blickenden Shnoiw hin. "Viel ist nicht mehr drin. Zwei Schlucke für jeden, würde ich sagen..."
Sie hörten gar nicht zu, so begierig stürzten sie sich auf das kostbare Nass. Als Paril den Schlauch zurückbekam, war nicht ein Bruchteil eines Tropfens mehr drin. "Also gut", brummte er, während er ihn wieder zukorkte. "Ich kann dich zwar nicht leiden, Scheissfliegenkopf" - dies an den Messerhelden gerichtet - "aber merk dir eines: wenn du wirklich fliehen willst, hör auf, so laut zu schreien."
"Schluss mit dem Scheiss!!" Das war der Schwarzbart. In heiser gebelltem Stakkato schossen ihm die Worte aus dem Mund. "Ihr habt gehört, was er quatscht. Das ist ein Baumbesitzer! Er wird uns nicht helfen. Kein Baumbesitzer hat uns je geholfen! Für die sind wir keine Menschen, sondern irgend ein Ungeziefer, das in der Hölle ersaufen wird. Obwohl wir die ganze Arbeit für sie machen, reden sie, als ob man uns ausrotten müsste. Los, gehn wir!"
Paril musste sich etwas anstrengen, ungerührt zu erscheinen; der andere sah selbst in seinem derzeitigen Zustand beunruhigend kräftig aus. "Wenn ihr mir nicht traut, dann lasst es bleiben", brummte er. "Aber ihr solltet euch vielleicht entscheiden, bevor ihr geschnappt werdet..."
Sie schauten immer noch misstrauisch, allen voran der Messerheld, bei dem die Prügel nicht gewirkt zu haben schienen. Doch nun trat einer von ihnen vor - Andai. "Er hat recht", sagte er. "Wir können ihm natürlich nicht trauen; aber wie gesagt, wir haben nichts zu verlieren - vor allem keine Zeit. Statt zu streiten, sollten wir machen, dass wir wegkommen!" Und zu Paril gewandt: "Also - was hat er für Vorschläge?"
Paril legte den Kopf schief. "Nun, ich kann euch sagen, was unsere Offiziere uns erzählt haben. Die haben behauptet, ihr wolltet nach Onnikerr Ewshtrôm oder Onnikisse Pellda, um den Süden für eure Partei zu gewinnen. Aber so schwachsinnig werdet ihr wohl nicht sein?!"
Andai warf einen Blick zur Seite. "Also... um ehrlich zu sein... Etwas in der Art hatten wir eigentlich vor."
"Wirklich?!" gluckste Paril mit gespielter Heiterkeit. "Das ist ja kolossal - eine Reise von hundert Meilen wolltet ihr machen, mitten durch den Pyramidalwald in eurem Zustand?!"
Natürlich nicht!" versetzte Andai gereizt. "Man kann sich ja schliesslich Kleider und Essen besorgen. Und anderswo kennt man uns ja nicht..."
"Anderswo? Wo denn?" fragte Paril zurück. "Im hiesigen Pyramidalwald jedenfalls werdet ihr meilenweit keine Sicherheit mehr finden; alle Orte tun seit neuestem nur noch, was Asîmchômsaia sagt. Vermutlich sind jetzt schon Boten unterwegs, und bald werden überall hochmeisterliche Krieger auftauchen. Nein, den Süden - den direkten Weg dahin, in jedem Fall - schlag dir aus dem Kopf. Wenn ihr aus dem Einflussgebiet der Doppeleiche entkommen wollt, gibt es im Moment nur eins: so schnell wie möglich aus dem Pyramidalwald hinaus!"
Sie schauten sich an. Andai begann langsam zu nicken. Ein anderer Bursche aus der Gruppe ergriff das Wort: "Dann... müssen wir nach Osten! Der kürzeste Weg. Man kann in zwei Tagen die Berge erreichen..." Er sprach denselben Dialekt wie Shnoiw. Sein Gesicht war, wie Paril beim Hinsehen mit Entsetzen feststellte, eine furchterregende Maske, entstellt von Narben, die auf Brandwunden zurückzugehen schienen. Offenbar traf der Waldfrevel zumindest manchmal auch die Frevler selbst...
Nach einer kurzen Schreckpause stimmte Paril zu. "Hmm... ja, nach Osten würde ich auch sagen." "Also - dann gehen wir sofort!" beschloss Andai nach einem kurzen Blick in die Runde.
"Aber wie wissen wir, wo Osten ist?" fragte der Messerheld.
Paril mass ihn mit einem geringschätzigen Blick. "Nach dem Mond natürlich. So was lernt man in Zin-Âching wohl nicht, wie? Braucht er doch die Hilfe eines verkackten Baumbesitzers..."
Der Messerheld warf gequält den Kopf hoch. "Is' ja gut, is' ja schon gut, Mann! Reg dich nicht so auf..."