Jeden Morgen, wenn Christian noch schlief, stand der Großvater mit den Hühnern auf, wie er selbst sagte. Seine erste Arbeit beschäftigte ihn auch mit dem Federvieh. Er öffnete die Klappe im Hühnerhaus. Während nun ein Huhn nach dem anderen durch die kleine Luke in den Hühnerhof stolzierte, füllte er die Futterschüssel mit Weizenkörnern und spritze frisches Wasser in die Trinknäpfe. Danach fütterte er die Pferde und als er seine Stallkleider abgelegt und sich geduscht hatte, arbeitete er noch eine Weile im Büro.
„Ich frühstücke um 8“, hatte er zu Christian gesagt, „wenn du später kommst, räumst du den Tisch ab, sonst wird Frau Kruse ungemütlich!“
Doch bisher war Christan noch nie zu spät gekommen. Wenn er morgens aufwachte, hatte er genügend Zeit, noch ein wenig im Bett zu bleiben. Er liebte es, vor sich hin zu träumen und sich auszudenken, was er am Tage mit Birgit unternehmen wollte. An einem dieser Ferientage jedoch wachte Christan erst kurz nach 8 Uhr auf. In aller Eile schlüpfte er in seine Kleider, vergaß sich zu waschen, vergaß auch die Strümpfe anzuziehen und hastete barfuß die Treppe hinunter. Der Großvater saß noch am Tisch. Christian rief ihm einen Gruß zu und schob sich auf seinen Stuhl.
„Morgen, Krischan“, sagte der Großvater und schenkte ihm Milch ein.
„Ich bin so spät aufwachte“, sagte Christian und biss herzhaft in sein Brötchen. Der Großvater lehnte sich zurück und meinte: „Man sieht es!“
„Wieso denn?“ erkundigte sich Christian.
„Nun die Haare stehen dir noch zu Berge und du hast dein Hemd verkehrt herum an. Aber das kannst du alles erledigen, wenn wir hier fertig sind, das hat keine Eile. Du hast doch Ferien!“
Nach dem Frühstück trugen sie zusammen das Geschirr in die Küche. Der Großvater ging in sein Büro, um mit Henning die nächste Planwagenfahrt zu besprechen. Christian stieg in seine Dachkammer. Als er sich gewaschen und ordentlich angezogen hatte, machte er sein Bett, so wie Frau Kruse es ihm gezeigt hatte. Sie war gleich am ersten Tag in sein Zimmer gekommen und hatte gesagt: „Du bist doch schon ein großer Junge und kannst dein Bett selbst richten. Zuerst räumst du dein Bettzeug auf den Stuhl. Dann streichst du das Laken glatt, schüttelst Kopfkissen und Decke auf und legst alles ordentlich aufs Bett. Den Schlafanzug faltest du und verstaust ihn unterm Kissen. Das schaffst du doch!“ Christian hatte zustimmend genickt. Diese Arbeit bereitete ihm keine Mühe. Auch jetzt legte er sorgfältig die Decke über das Bett. Er fand, Frau Kruse hatte viel Ähnlichkeit mit Birgits Mutter und mit Tante Lioba. Er sah nicht ein, warum er den Schlafanzug so ordentlich falten sollte, knuddelte ihn einfach zusammen und schob ihn grinsend unters Kopfkissen. Danach kletterte er auf die Truhe und äugte mit seinem Fernrohr über Großvaters Hühnerhof.
Als er mit dem Rohr zu Hilles Haus schwenkte, beobachtete er erstaunt den fremden Mann, der vor der Haustür stand. Der Mann verdeckte mit seinem Körper beinahe die ganze Tür. Er drehte den Kopf nach links und nach rechts, doch sein Gesicht sah Christian nicht. Aber irgendetwas stimmte nicht. Christian setzte das Fernrohr ab und streckte den Arm aus dem Fenster. Die Luft war angenehm warm, ein leichter Wind strich über seine Haut. Es war keineswegs kalt und doch trug der Fremde schwarze Handschuhe, mitten im Sommer! Das musste er unbedingt Birgit erzählen, außerdem wollte er endlich einmal zur Mühle gehen. Beinahe jeden Tag bat Christian seine Freundin, ihn dorthin zu begleiten. Stets fragte sie verwundert, was er denn an dem ollen Haus so schön fand. Und Christian erklärte jedes Mal, dass er eben noch nie eine Windmühle besichtigt hätte. Doch bisher war immer etwas dazwischen gekommen. Neulich glaubte Birgit, es würde bald regnen und sie gingen zuerst auf Schatzsuche. Das letzte Mal, als sie sich auf den Weg zur Mühle machten, trafen sie unterwegs den Großvater mit seinem Planwagen. Er lud die Kinder ein, mitzufahren, und so landeten sie nicht bei der Mühle, sondern am Bahnhof.
Aber heute war Christian fest entschlossen, sich durch nichts aufhalten zu lassen. Notfalls würde er auch alleine zur alten Mühle laufen. Ohne anzuklopfen stürmte Birgit in die Dachkammer. „Hi“, rief sie, darf ich mal dein Fernrohr benutzen?“
„Nur, wenn du nachher mit zur Mühle gehst“, sagte Christian tapfer.
„Einverstanden.“ Birgit und streckte die Hand nach dem Fernrohr aus.
„Versprichst du mir das“, wollte Christian wissen.
„Ehrenwort“, erwiderte Birgit und streckte die Hand hoch. Christian reichte ihr das Fernrohr und Birgit schaute aus dem Fenster. Auf einmal stieß sie einen spitzen Schrei aus. Sie gab Christian das Rohr zurück und forderte ihn auf, Hilles Haustür zu beobachten. Die Tür stand offen, sonst war nichts Ungewöhnliches zu sehen. „Da stand eben noch ein Mann, ein Fremder“, flüsterte sie aufgeregt. Nun erzählte Christian der Freundin, was er schon gesehen hatte.
Birgit rief: „Das müssen wir sofort aufklären, komm, wir gehen zu Hille!“
„Nein, erst zur Mühle“, entgegnete Christian.
„Und wenn das nun ein Räuber oder ein Dieb oder ein Einbrecher ist?“
Christian tat, als hätte er Birgits Einwand nicht gehört: „Du hast es mir versprochen!“
„Meinetwegen“, gab Birgit nach, „aber wir erzählen Hille kurz von dem Fremden!“
„Wir sind bald zurück“ rief Christian Frau Kruse zu. Doch dieser Spaziergang dauerte sehr viel länger, als er ahnte. Christian hatte dem Großvater schon beim Frühstück vom geplanten Ausflug zur Mühle berichtet. Sie liefen zunächst zum Bauernhaus. Die Haustür war verschlossen, von Hille und ihren Eltern keine Spur und auch der Fremde schien wie vom Erdboden verschluckt. Birgit zuckte mit den Schultern: „Da kann man nichts machen und dabei hätte ich Hille so gern vor dem unheimlichen Kerl gewarnt!“
„Komm weiter“, drängte Christian und unaufhaltsam schritten sie der Mühle entgegen. „Ich verstehe wirklich nicht, was du an dem morschen Schuppen findest“, bemerkte Birgit noch einmal. Erst als sie vor der Mühle standen, erkannte Christian, wie beschädigt das alte Gemäuer war. Putz bröckelte von den Wänden, die Gitterstäbe vor den Fenstern sahen verrostet aus und die Windmühlenflügel waren zum Teil zerbrochen. Am schmalen Holzbalkon, der im ersten Stock rund um die Mühle führte, fehlten Bretter und das Geländer war abgebrochen. Vielleicht sah die Mühle innen besser aus. Birgit öffnete die schiefe Holztür, die mit lautem Quietschen zur Seite schwang. Die Mühle war leer bis auf den Staub, den der letzte Sturm herein geweht hatte. Eine schmale Holztreppe führte nach oben.
„Wie das hier muffig riecht!“ bestätigte Christian. Die Kinder öffneten die Fenster und als das dritte auf war, knallte die alte Holztür zu. „Das kommt vom Durchzug“, meinte Birgit und wollte die Tür wieder öffnen. Doch innen fehlte der Griff, sie waren eingesperrt.
Birgit fand das zum Lachen, aber Christian hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Er rüttelte an den Gitterstäben, doch sie saßen noch alle fest in der Wand. „So ein Pech“, murmelte er. Im ersten Stock sind keine Gitter vor den Fenstern, vielleicht können wir da hinaus klettern“, sagte Birgit und stieg die knarrenden Stufen hinauf. Sie kehrte bald wieder um. „ Die Tür nach oben ist abgesperrt“, erklärte sie, „jetzt spielen wir verstecken.“
„Und wer sucht uns?“ fragte Christian.
„Ach, hier wandern viele Leute vorbei und irgend jemand wird uns schon die Tür aufmachen“, sagte Birgit. Ihre Ruhe und Gelassenheit wirkten ansteckend und so setzte sich auch Christian sorglos neben Birgit auf die Bodentreppe. Zuerst spielten sie Birgits liebstes Ratespiel und sie begann: „Ich wünsch mir was!“ Nun sollte Christian herausfinden, was sie sich wünschte. Er fragte: „Ein Mensch?“
„Nein!“
„Ein Tier?“
„Ja!“
„Ein Pferd!“ rief Christian und hatte damit ihren Wunsch erraten.
„Ich möchte so gerne einmal reiten, aber die Mama will das nicht“, sagte sie.
„Ich mache mir nichts aus Pferden, sie sind so stark und groß. Jetzt bin ich dran: „Ich wünsche mir was!“ sagte Christian.
„Eine Sache?“
„Nein!“
„Ein Tier?“
„Nein!“
„Ein Mensch also!“
„Ja!“
„Na klar“, sagte Birgit, „du wünschst dir eine neue Mutter!“
„Falsch, ich wünsche mir den Großvater her, der würde uns befreien!“
„Keine Mutter?“
„Nein“, sagte Christian, „ich habe doch meine Oma!“
„Aber wenn dein Vater wieder heiratet, bekommst du eine neue Mutter!“
Nun erzählte Christian seiner Freundin, was die Oma und der Vater beschlossen hatten. Als der Vater wieder einmal nach einer langen Reise nach Hause kam, brachte er für ein paar Tage seine Freundin Maria mit. Kaum war die Dame abgereist, sagte die Oma zu Vater, dass sie ein für alle Mal etwas zu klären hätte. Sie zitierte den Vater und Christian in die gute Stube und sagte: „ Ich habe gehört, du möchtest heiraten und mit deiner Frau auch weiterhin in der Weltgeschichte herum ziehen. Der Bub aber bleibt, solange ich lebe, bei mir. Ich dulde nicht, dass der kleine Kerl mit dir und deiner zukünftigen Frau von Baustelle zu Baustelle reist. Ich bin zwar nur die Oma, aber ich werde für ihn immer wie eine Mutter sein. Nur, wenn mir etwas zustößt, kümmerst du dich voll und ganz um den Bub!“
Und der Vater hatte gesagt: „Mutter, das mit der Heirat steht noch in den Sternen. Aber ich danke dir sehr, auch ich möchte nicht, dass mein Kind als Vagabund aufwächst!“
Am nächsten Tag gingen alle zusammen aufs Jugendamt, und die Oma hat die gleiche Geschichte noch einmal einem sehr freundlichen Mann erzählt. Der Vater und die Oma mussten einen Vertrag unterschreiben, der Christian versprach, dass er für immer bei der Oma bleiben durfte. Zuhause hatte die Oma Vaters und Christians Lieblingsessen gekocht: Spätzle und Sauce, und sie feierten den ganzen Tag mit Kuchen essen und Karten spielen.
Birgit hörte die ganze Zeit zu, ohne Christian zu unterbrechen. Jetzt aber sagt sie: „Wau, das ist ja eine starke Geschichte. Weiß dein Großvater davon?“
„Na, klar, er findet das sogar sehr vernünftig. Meine Oma ist noch nicht so uralt wie der Großvater.“
Birgit schaute auf ihre Armbanduhr. Sie saßen nun schon über eine Stunde in der Mühle. Weit in der Ferne hörten sie die Mittagsglocken läuten. Christian klagte laut über seinen Durst. „Denk nicht daran“, riet Birgit und leckte sich ihre trockenen Lippen. Sie fragte: „was willst du später einmal werden?“
„Hm, nichts, wo ich ständig auf Reisen sein muss wie mein Papa. Ich werde Fischer und Lehrer. Dann habe ich große Ferien und kann mir Fische fangen. Und du?“
„Ich werde Bäuerin, wie Hille, und habe dann auch eigene Pferde.“
Nun spielten sie Städteraten, übten Kopfrechnen und schnellsprechen. Gerade, als Birgit „Sieben-Zwetschgen-Wasser-Flaschen“ nachsagen sollte, hörte sie draußen ein seltsames Knattern. Die Kinder stürzten zu den Fenstern.
„In Deckung“, zischte Birgit und das brauchte sie Christian nicht zweimal zu sagen. Ganz in der Nähe stand der Fremde mit den schwarzen Handschuhen. Birgit kniete sich vors Fenster. Sie hielt sich am Sims fest und schaute über den Rand. Der Fremde kam geradewegs auf sie zu. Kurz entschlossen floh Birgit unter die Holztreppe und Christian eilte hinterher. „Birgit keuchte: „Der Fremde, das ist der Rotkopf!“
„Der vom Bach?“ hauchte Christian entsetzt. Birgit nickte nur und legte den Finger auf den Mund. Der Fremde schaute durch alle Fenster, ging langsam um die Mühle herum und öffnete für einen Augenblick die Tür. Christian biss sich auf die Lippen und hielt die Hand vor die Augen. Birgit aber beobachtete den Mann. Ohne die Kinder zu entdecken, zog er die Tür wieder zu. Die Kinder verharrten eine Weile in ihrem Versteck. Dann eilten sie zum Fenster und guckten vorsichtig hinaus. Sie sahen den Fremden kaum noch. Beinahe lautlos hatte er sich auf dem feinen Sandweg entfernt. Birgit wandte sich an Christian:
„Also dieser Rotkopf ist einfach zum Fürchten!“
„Vielleicht hätte er dich wieder an deinem Pferdeschwanz
gezogen!“ Birgit nickte: „Dem wäre alles zuzutrauen, vielleicht hätte er uns auch entführt, denn Hille könnte uns jetzt nicht helfen!“ Christian setzte sich wieder auf die Treppe. Er sorgte sich nun sehr, dass niemand vorbei kommen würde. Aber Birgit munterte ihn bald wieder auf. Sie schlug ein Wettspringen von der Treppe vor. Nachdem sie dreimal von der dritten Stufe gehopst waren, fand Christian, dass dieses Spiel seinen Durst vergrößerte. Sie rüttelten noch einmal an allen Gitterstäben. Doch nur der Rost löste sich und hinterließ Spuren in ihren Händen. Birgit wischte sich die Finger sauber und sagte: „Von nun an nehme ich auf jeden Ausflug was zum Trinken mit. Dann können wir uns noch oft in der Mühle einsperren!“ Christian schüttelte heftig den Kopf: „Nein, danke, von alten Mühlen will ich nichts mehr wissen!“ Er starrte auf den dunklen Boden und murmelte: „Es ist alles meine Schuld. Ich wollte unbedingt hierher!“ Birgit stieß Christian mit dem Ellbogen an. „Lass den Kopf nicht hängen, Kris. Ich finde unser Abenteuer spannend. Du weißt doch, wie gern ich verstecken spiele! Bei dir Zuhause gibt es ja keine ollen Windmühlen. Wo würde ich da hingehen?“
„Zuerst in die Altstadt, zu den Bächle“, antwortete Christian wie aus der Pistole geschossen. Birgit wollte nicht glauben, dass mitten in der großen Stadt kleine Bäche flossen. Aber Christian erklärte: „Diese Bächle sind nur so breit, dass meine Oma bequem mit beiden Füßen darin stehen kann. Es gibt daneben auch kein Gras und keine Bäume. Das Ufer ist der Gehweg und die Straße. Besonders schön finde ich die Rathausuhr. Um die Mittagszeit erklingt von dort ein Glockenspiel, jeden Tag spielt es eine andere Melodie. Die Oma ist begeistert, wenn sie „Freut euch des Lebens“ hört, ich mag am liebsten: „Wenn alle Brünnlein fließen.“
Birgit lachte laut auf: „Kris, das heißt bei euch: „Wenn alle Bächlein fließen!“
Christian erzählte nun vom Freiburger Münster. „Das ist eine wunderschöne, riesengroße, alte Kirche. Der Münsterturm schaut über alle Häuser der Altstadt. Die Oma sagt, an manchen Tagen kitzelt er mit seiner Spitze die Wolken am Himmel.“ Christian lehnt sich zurück und erzählt nicht weiter. Er fühlte sich plötzlich sehr schlapp, gerade so, als wäre er eben die 329 Stufen im Münsterturm hinauf und wieder hinunter gelaufen.
„Wenn ich groß bin, besuche ich dich einmal“, versprach Birgit und hob lauschend den Kopf. Sie eilte zum Fenster und rief: „Hurra, wir sind gerettet!“ Christians Müdigkeit war wie weggewischt. Er stellte sich neben Birgit, wandte sich jedoch enttäuscht wieder ab: „Ich sehe nichts! Außer ein paar Sonnenstrahlen findet keiner den Weg in unser Gefängnis!“
„Hör doch mal genau hin“, bat Birgit. Christian lauschte so angestrengt, dass er beinahe den Atem vergaß. Doch dann holte er tief Luft, schnaufte erleichtert auf und lächelte zufrieden. In der Nähe weideten Schafe und ihr Blöken kam immer näher. Nun schrien die Kinder laut um Hilfe. Bald tauchte der Schäfer auf und eilte mit großen Schritten zu ihnen. Seine beiden Hunde begleiteten ihn. Birgit flüsterte: „Den kenne ich, das ist der Knesebäk!“
Der Schäfer öffnete die Tür und brummelte: „Na, ihr beiden, was sucht ihr denn in der Mühle?“ „Einen Ausgang! Wir haben uns hier selbst eingesperrt!“ erkläre Birgit.
„Es ist wohl leichter auf eine Herde Schafe aufzupassen, als auf euch Racker. Aber Ben und Tom helfen mir auch bei meiner Arbeit“, sagte Knesebäk und streichelte die Köpfe seiner Hunde. Die Schafe umringten Birgit und Christian. Während Birgit die Tiere sanft zu Seite schob und sich den Weg frei bahnte, blieb Christian hilflos in der Herde stehen und hielt die Hände hoch. Er hätte gerne ein Schaf gestreichelt, aber er fürchtete sich vor den Hörnern, und sie rochen alle nicht gut. Ein Pfiff vom Schäfer genügte, die Hunde trieben die Herde weiter und Christian stellte sich zu Birgit. Sie verabschiedeten sich rasch und liefen nach Hause.
*
*
*
Frau Schulze funkelte die Kinder zornig an und ihre Stimme klang wie ein lang anhaltendes Donnergrollen als sie sagte: „Birgit, du brauchst einen Denkzettel. Für den Rest des Tages gibt`s Hausarrest. Marsch, rein!“
Auch Christian zog den Kopf ein und eilte rasch weiter. Als er nach Hause kam, saß der Großvater auf dem Kutschbock. „Na, Krischan, heute ist wohl nicht dein pünktlicher Tag! Lauf schnell zu Frau Kruse. Vielleicht hat sie noch etwas zum Essen für dich!“ Christian versprach dem Großvater, abends von seinem Abenteuer in der Mühle zu erzählen. Der Großvater zwinkerte ihm zu, packt die Zügel fester und die Pferde zogen los. Frau Kruse schob ihn unsanft in die Gaststube: „Such dir einen Platz, die meisten Gäste haben schon gegessen!“ Sie brachte ihm eine Flasche Mineralwasser und einen Teller voll mit Eintopf.
„Ich habe nur noch Bohnen mit Schnitz. Wer nicht kommt zur rechten Zeit …“
„ Der muss essen was übrig bleibt!“ ergänzte Christian. Er trank das Wasser direkt aus der Flasche und es störte ihn auch nicht, dass es keine süße Limo war. Dann rührte er unlustig in seinem Teller. Ausgerechnet heute musste es diesen Eintopf geben. Da waren nicht nur grüne Bohnen und Birnenschnitze drin sondern auch Kartoffeln und Speck. Seine Oma kochte im Sommer oft Bohnen, Kartoffeln und Speck. Aber niemals schnitzelte sie noch süße Birnen dazu und warf alles zusammen in einen Topf. Christian schüttelte sich leicht. Doch als er Frau Kruses eisige Miene sah, begann er sofort zu essen. Er stellte fest, dass der Eintopf gar nicht so übel schmeckte. Danach trug er den Teller in die Küche und lungerte eine Weile im Hause herum, bis Frau Kruse ihn zum Spielen nach draußen schickte. Sie bat ihn noch, wenigstens zum Abendessen pünktlich zu sein. Er streifte durch die leeren Pferdeställe, besuchte Großvaters Hühner und schlenderte schließlich zum Bauernhof. Hille arbeitete im Gemüsegarten. „Magst du Unkraut jäten?“ fragte sie.
„Heute nicht“, antwortete er und wanderte am Blumenbeet entlang. Als er wieder zu Hille kam, stütze sie ihren Kopf auf die Hacke und betrachtete ihn. „Junge, was ist los mit dir?“ fragte sie. Er berichtete kurz von der Mühle. Und nun war Birgit wegen ihm Zuhause noch einmal eingesperrt. Hille seufzte leise: „Da kannst du nichts ändern, sei froh, dass wenigstens du an der frischen Luft bist!“
Das war kein Trost für Christian, Birgit fehlte ihm sehr. Hille lehnte nun ihre Hacke an die Wand. Als sie ihre grell-gelben Gartenhandschuhe abstreifte, erinnerte sich Christian an den Fremden.
„Herje, Kris, was starrst du mich denn so an?“
Christian kratzte sich kurz am Kopf und erzählte Hille von dem unbekannten, den er am Morgen vor ihrer Haustür beobachtet hatte. Hille winkte nur ab: „Das war Herr Knittelbrink, den ihr vor kurzem am Bach getroffen habt. Er möchte hier in der Gegend Land kaufen und sich ein Haus bauen. Ich habe ihm erklärt, dass wir Äcker und Felder, aber keine Bauplätze haben. Dann ist er gleich weiter gefahren!“ „Mit dem Auto?“
„Ne“, lachte Hille, „er hatte einen Feuerstuhl unterm Hintern, eine fauchende Höllenmaschine, na, du weißt schon, was ich meine. Willst du mit mir Kaffee trinken?“
„Nein, danke, ich muss dringend zu Birgit, tschüß, Hille!“ rief Christian. Er verließ den Garten und eilte zum Haus seiner Freundin. Frau Schulze kam ihm mit einem Korb Wäsche entgegen.
„Was suchst du denn hier?“ fragte sie. Ihre Stirn war so faltig wie Großvaters Gesicht, aber das schreckte Christian nicht ab: „Ich muss Birgit was sagen!“
Frau Schulze schüttelte den Kopf: „Das hat Zeit bis morgen!“
„Dann will ich auch Hausarrest!“ antwortete er.
Sie riet ihm in seine Dachkammer zu gehen. Dort konnte er darüber nachdenken, wie leichtsinnig es war, in die alte Mühle einzudringen. „Wer weiß, was da alles hätte passieren können“, schloss sie und ging ins Haus. Christian setze sich auf die Treppe und betrachtete Frau Schulzes Blumengarten. Er begann, die Sonnenblumen zu zählen. „25“ sagte er laut und fuhr zusammen, als plötzlich Frau Schulze wieder vor ihm stand.
„Warum gehst du denn nicht nach Hause?“ fragte sie.
Christian reckte sein Kinn hoch und sagte: „Es ist doch egal, wo ich einsam bin!“
Das hätte deine Mutter auch gesagt“, murmelte Frau Schulze. „Also, meinetwegen, komm rein. Aber Kaffee und Kuchen gibt es bei Hausarrest nicht! Verstanden?“
„Klar, Frau Schulze, Wasser und Brot genügen auch!“
Christian huschte an der sprachlosen Frau vorbei, in Birgits Zimmer.
Birgit lächelte ihn strahlen an: „Ich hätte nicht geglaubt, dass Mama dich herein lässt, du bist ja ein Zauberer!“
Er setzte sich zu ihr auf den Fußboden und berichtete, was er von Hille über den Fremden erfahren hatte.
„Er fährt Motorrad und hat deshalb Handschuhe an, und er hat einen ganz fremdartigen Namen, Knüppel oder Kittel mit noch was hinten dran!“ sagte Christian zum Schluss. Birgit pfiff leise und meinte dann: „für mich bleibt er der Rotkopf. Dann beugte sie sich vor und drückte Christian einen Kuss auf die Wange. „Danke, dass du gekommen bist!“
Christian verschlug es die Sprache, erst wollte er seiner Freundin sagen, dass er keine Knutschkugel mehr war, doch dann grinste er, fand ihn gar nicht so übel, der Schmatz von Birgit. Sie sagte: Komm, wir spielen Halma!“
Christian verabschiedete sich frühzeitig von Birgit, damit er vor dem Abendessen in aller Ruhe noch die Hände waschen konnte. Als er den Heimweg entlang hüpfte, hörte er wieder das seltsame Knattern, das ihm schon in der Mühle aufgefallen war. Er versteckte sich hinter einer Eiche und schon brauste ein Motorradfahrer vorbei. „Vielleicht ist das der Rotkopf“, murmelte Christian und wartete, bis das Motorrad heulend um die Kurve bog. Dann trottete er weiter.
*
Frau Kruse hatte den Tisch im Büro gedeckt. Kaum war der Großvater im Zimmer, läutete das Telefon. Die Oma war am Apparat. Sie redete eine ganze Weile mit dem Großvater. Auf einmal veränderte sich seine Stimme. Müde und beinahe klanglos sagte er: „Frag ihn bitte selbst!“ und reichte Christian den Hörer. Die Oma erzählte, dass sie nun wieder Zuhause sei. Sie hatte noch immer einen Gipsverband und konnte nur mit Krücken gehen. Aber Tante Lioba nahm ihr alle nötigen Arbeiten ab. Dann fragte sie, ob er noch bis zum Ende der Schulferien beim Großvater bleiben würde. Tante Lioba hätte dann nicht so viel zu schaffen.
„Klar, Oma, ich freue mich, bis bald!“, rief er in die Muschel und legte auf.
Der Großvater saß zusammengesunken auf dem Stuhl. „Na, ja, alles geht einmal zu Ende“, murmelte er. Sein strenges Gesicht gefiel Christian gar nicht, und er kaute ratlos an seinen Fingern. Plötzlich fiel ihn ein, dass er den Großvater noch nicht gefragt hatte, ob er überhaupt bleiben durfte. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg und sein Gesicht heiß wurde. Tränen schossen ihm in die Augen.
„Willst du mich denn nicht mehr?“ stammelte Christian. Der Großvater hob den Kopf. „Heißt das, du möchtest hier bleiben?“ Christian nickte heftig. Er sprang von seinem Platz auf, stürzte sich in Großvaters Arme und schluchzte: „Bis die Ferien zu Ende sind, wenn ich darf.“
Dem Großvater schien ein Frosch im Hals zu stecken. Er krächzte heißer: „Na, klar! Ich dachte, du wolltest sofort nach Hause fahren!“ Christian schniefte kurz und sagte: „Und darüber bist du erschrocken, wie ich heute in der Mühle.“ Der Großvater gab ihm sein großes Taschentuch. Er goss Tee ein, verteilte Salat und saure Gurken. In der Zwischenzeit schnäuzte sich Christian kräftig die Nase und sagte dann: „Weißt Du, der Schreck in der Mühle war nicht so groß wie der, als die Oma plötzlich im Krankenhaus lag. Ich dachte, ich sei ganz allein, obwohl Tante Lioba bei mir war.“
„Ja“, sagte Großvater, „das kann ich verstehen. Als meine Frau starb, ging es mir ebenso. Doch sie war sehr krank und es tröstete mich, dass sie nun nicht mehr leiden musste. Aber als ich die Nachricht vom Tode meiner Tochter erhielt, war ich fassungslos. Ein guter und fröhlicher Mensch war sie und noch so jung. Plötzlich hat ihr Herz aufgehört zu schlagen. Warum? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, sie wird immer ein Geheimnis bleiben. Dennoch frage ich mich oft, warum sie uns wohl so früh verlassen musste. Ich bin doch schon alt und wäre gern für sie gestorben!“ Christian riss die Augen weit auf und sagte: „Aber Großvater, dann hätten wir uns nicht kennengelernt!“ „Ja“, sagte der Großvater, „das muss es wohl sein!“ und über sein Gesicht huschte das seltene kostbare, strahlende Lächeln, das Christian so sehr mochte. Der Großvater schob ihm die Platte mit den Broten: „Bedien dich, Krischan!“
Während dem Essen erzählte Christian ausführlich von seinem Mühlenerlebnis. „Na, was sagst du denn zu meinem Abenteuer?“ wollte er zum Schluss wissen.
„Als Großvater muss ich dir sagen, dass du nicht in fremde Gebäude eindringen darfst! Alte, unbewohnte Bauwerke darf man aus Sicherheitsgründen nicht betreten. Ich hätte dir sagen müssen, dass du nicht in die Mühle hinein gehen darfst.“ Er schaute sich um, ob niemand lauschte. Dann beugte er sich über den Tisch, zwinkerte Christian zu und flüsterte: „Aber als ich noch ein Kind war, habe ich das auch gemacht!“ Sie räumten das Geschirr in die Küche. Danach gingen sie die Runde ums Haus. Großvater vergewisserte sich, dass im Geräteschuppen alles in Ordnung war, anschließend schloss Christian das große Tor und den Hintereingang zu. Im Sommer blieben Großvaters Tiere nachts auf der Weide, dennoch warf er einen Blick in die Pferdeboxen und verriegelte die Stalltür. Dann schauten sie nach, ob das Tor zur Pferdekoppel verschlossen war. Zum Schluss schritten sie einmal um den Hühnerhof und überprüften dabei den Maschenzaun. Großvater hatte Christian erklärt, dass Füchse sich ohne große Mühe unterm Zaun durchgraben konnten. Als Christian sich nun erkundigte, warum der Großvater jeden Abend den gleichen Rundgang machte, sage dieser: „Das war schon immer meine Aufgabe. Außerdem verlassen sich die Kruses darauf, dass ich abends nach dem Rechten sehe, und ich vertraue ihnen, dass sie ihre Arbeit gut erledigen!“ Großvater rieb sich vergnügt die Hände: „So Krischan, jetzt ist Feierabend!“
Sie setzten sich auf die Bank neben dem Eingang. Der Großvater stopfte sich seine Pfeife und lehnte sich zurück. Schmauchend erkundigte er sich, ob Christian noch Mühle oder Dame spielen wollte. Aber dazu kam es an diesem Abend nicht mehr. Ein Gast setzte sich zu ihnen und verwickelte den Großvater in ein Gespräch. Der Mann sprach schnell und plattdeutsch. Christian verstand kein Wort. „Ich gehe unter die Dusche“, rief er und eilte ins Haus.
Als der Großvater später ins Zimmer kam, saß Christian auf der Truhe. „Großvater, es ist zum zweiten Mal Vollmond, seit ich bei dir bin. Aber leider sehe ich kaum Sterne!“
Der Großvater knipste die Nachttischleuchte an und sagte: „Schau, dieses kleine Licht bemerkst du kaum, wenn die große Deckenlampe eingeschaltet ist. Du siehst es erst, wenn das große Licht nicht scheint. So ist es auch mit den Sternen. Du kannst sie am besten betrachten, wenn der Mond nicht zu sehen ist.“ „Und wann verschwindet er wieder?“ erkundigte sich Christian.
„Von nun an jeden Tag ein bisschen mehr, bis Neumond ist. Da kannst du ihn nicht mehr sehen.“ Christian sah den Großvater fragend an: „Ich verstehe den Mond nicht. Warum ist er mal dick, dann dünn und dann sieht man ihn nicht mehr?“
„Krischan, hüpf ins Bett, ich erkläre es dir dort!“ Christian wagte den Sprung ohne Großvaters Hilfe. Er setzte sich im Schneidersitz auf sein Bett und der Großvater zog wieder den Rechnungsblock hervor. Er malte drei verschieden große Kreise nebeneinander. „Das ist der Mond“, sagte er und schrieb in den kleinsten Kreis ein „M“. „Er wandert in 27 1/3 Tagen einmal um die Erde und dreht ihr immer die gleiche Seite zu, wir nennen sie Vorderseite. Der größte Kreis bedeutet die Sonne. Weißt du, der Mond leuchtet nicht selbst, er bekommt sein Licht, genau wie die Erde, von der Sonne. Bei seiner Reise um die Erde sehen wir nur den Teil, den die Sonne anstrahlt. Steht der Mond genau zwischen Sonne und Erde, fällt das Licht auf die Rückseite des Mondes. Die Vorderseite bleibt dunkel, das ist Neumond. Der Mond bewegt sich weiter auf seiner Umlaufbahn. Erst siehst du ihn als dünne Sichel, dann als Halbmond. Wenn die Erde zwischen Sonne und Mond steht, ist Vollmond, die Sonne beleuchtet wieder seine ganze Vorderseite.“ Großvater räusperte sich kurz und sagte: „Schaue ich zum Himmel, weiß ich gleich, ob der Mond ab oder zu nimmt. Wenn die runde Seite des Mondes so steht (, wie du ein A anfängst zu schreiben, nimmt er ab. Steht die runde Seite so), könntest du aus dem Bogen leicht ein Z schreiben, dann nimmt der Mond wieder zu.“ Der Großvater gab Christian den Zettel, mit den Mondzeichnungen.
„Beim nächsten Vollmond bist du schon wieder in Freiburg. Verstehst du das nun, Kris?“ fragt er. Christian nickte: „Fast, ganz bestimmt immer, wenn ich deine Zeichnung betrachte.“ „Dann ist ja gut“, sagte der Großvater. Er steckte den Rechnungsblock und den Stift wieder ein, lächelte ein wenig schief und meinte: „Wenn jetzt Neumond ist, sind deine Ferien zu Ende!“
Er lehnte sich ans Fußende, verschränkte die Arme und erkundigte sich, welche Geschichte er nun zu hören bekäme. Christian überlegte einen Augenblick. Dann sage er: „Wenn ich groß bin, möchte ich auf den Mond fliegen, ich will sehen, wie die Rückseite aussieht. Aber jetzt erzähle ich dir von Hänsel und Gretel. Die waren auch einmal eingesperrt, zwar nicht in einer Mühle, sondern in einem Hexenhaus und das war noch viel schlimmer.“
Dieses Märchen kannte Christian sehr gut und er begann flüssig mit der Erzählung. Großvater schloss zwischendurch immer wieder einmal die Augen. Gerade, als Christian den Spruch vom Knusperhäuschen aufsagte, fielen dem Großvater die Augen wieder zu. Sein Kopf sank auf die Brust und er kippte leicht zur Seite. Um den Großvater zu stützen, schob Christian sein Deckbett ans Fußende. Der Großvater schnarchte nun leise. Christan betrachtete den schlafenden Mann. In diesem Moment wünschte er sich, dass der Großvater ihm so vertraute, wie den Kruses. Er nahm sich vor, keine fremden Gebäude ohne Erlaubnis zu betreten und pünktlicher zu sein. Der Großvater sollte sich auf ihn verlassen können. Christian fuhr ihm sachte über das Runzelgesicht und sagte: „Aufwachen, Großvater, du musst schlafen gehen!“
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„Ich frühstücke um 8“, hatte er zu Christian gesagt, „wenn du später kommst, räumst du den Tisch ab, sonst wird Frau Kruse ungemütlich!“
Doch bisher war Christan noch nie zu spät gekommen. Wenn er morgens aufwachte, hatte er genügend Zeit, noch ein wenig im Bett zu bleiben. Er liebte es, vor sich hin zu träumen und sich auszudenken, was er am Tage mit Birgit unternehmen wollte. An einem dieser Ferientage jedoch wachte Christan erst kurz nach 8 Uhr auf. In aller Eile schlüpfte er in seine Kleider, vergaß sich zu waschen, vergaß auch die Strümpfe anzuziehen und hastete barfuß die Treppe hinunter. Der Großvater saß noch am Tisch. Christian rief ihm einen Gruß zu und schob sich auf seinen Stuhl.
„Morgen, Krischan“, sagte der Großvater und schenkte ihm Milch ein.
„Ich bin so spät aufwachte“, sagte Christian und biss herzhaft in sein Brötchen. Der Großvater lehnte sich zurück und meinte: „Man sieht es!“
„Wieso denn?“ erkundigte sich Christian.
„Nun die Haare stehen dir noch zu Berge und du hast dein Hemd verkehrt herum an. Aber das kannst du alles erledigen, wenn wir hier fertig sind, das hat keine Eile. Du hast doch Ferien!“
Nach dem Frühstück trugen sie zusammen das Geschirr in die Küche. Der Großvater ging in sein Büro, um mit Henning die nächste Planwagenfahrt zu besprechen. Christian stieg in seine Dachkammer. Als er sich gewaschen und ordentlich angezogen hatte, machte er sein Bett, so wie Frau Kruse es ihm gezeigt hatte. Sie war gleich am ersten Tag in sein Zimmer gekommen und hatte gesagt: „Du bist doch schon ein großer Junge und kannst dein Bett selbst richten. Zuerst räumst du dein Bettzeug auf den Stuhl. Dann streichst du das Laken glatt, schüttelst Kopfkissen und Decke auf und legst alles ordentlich aufs Bett. Den Schlafanzug faltest du und verstaust ihn unterm Kissen. Das schaffst du doch!“ Christian hatte zustimmend genickt. Diese Arbeit bereitete ihm keine Mühe. Auch jetzt legte er sorgfältig die Decke über das Bett. Er fand, Frau Kruse hatte viel Ähnlichkeit mit Birgits Mutter und mit Tante Lioba. Er sah nicht ein, warum er den Schlafanzug so ordentlich falten sollte, knuddelte ihn einfach zusammen und schob ihn grinsend unters Kopfkissen. Danach kletterte er auf die Truhe und äugte mit seinem Fernrohr über Großvaters Hühnerhof.
Als er mit dem Rohr zu Hilles Haus schwenkte, beobachtete er erstaunt den fremden Mann, der vor der Haustür stand. Der Mann verdeckte mit seinem Körper beinahe die ganze Tür. Er drehte den Kopf nach links und nach rechts, doch sein Gesicht sah Christian nicht. Aber irgendetwas stimmte nicht. Christian setzte das Fernrohr ab und streckte den Arm aus dem Fenster. Die Luft war angenehm warm, ein leichter Wind strich über seine Haut. Es war keineswegs kalt und doch trug der Fremde schwarze Handschuhe, mitten im Sommer! Das musste er unbedingt Birgit erzählen, außerdem wollte er endlich einmal zur Mühle gehen. Beinahe jeden Tag bat Christian seine Freundin, ihn dorthin zu begleiten. Stets fragte sie verwundert, was er denn an dem ollen Haus so schön fand. Und Christian erklärte jedes Mal, dass er eben noch nie eine Windmühle besichtigt hätte. Doch bisher war immer etwas dazwischen gekommen. Neulich glaubte Birgit, es würde bald regnen und sie gingen zuerst auf Schatzsuche. Das letzte Mal, als sie sich auf den Weg zur Mühle machten, trafen sie unterwegs den Großvater mit seinem Planwagen. Er lud die Kinder ein, mitzufahren, und so landeten sie nicht bei der Mühle, sondern am Bahnhof.
Aber heute war Christian fest entschlossen, sich durch nichts aufhalten zu lassen. Notfalls würde er auch alleine zur alten Mühle laufen. Ohne anzuklopfen stürmte Birgit in die Dachkammer. „Hi“, rief sie, darf ich mal dein Fernrohr benutzen?“
„Nur, wenn du nachher mit zur Mühle gehst“, sagte Christian tapfer.
„Einverstanden.“ Birgit und streckte die Hand nach dem Fernrohr aus.
„Versprichst du mir das“, wollte Christian wissen.
„Ehrenwort“, erwiderte Birgit und streckte die Hand hoch. Christian reichte ihr das Fernrohr und Birgit schaute aus dem Fenster. Auf einmal stieß sie einen spitzen Schrei aus. Sie gab Christian das Rohr zurück und forderte ihn auf, Hilles Haustür zu beobachten. Die Tür stand offen, sonst war nichts Ungewöhnliches zu sehen. „Da stand eben noch ein Mann, ein Fremder“, flüsterte sie aufgeregt. Nun erzählte Christian der Freundin, was er schon gesehen hatte.
Birgit rief: „Das müssen wir sofort aufklären, komm, wir gehen zu Hille!“
„Nein, erst zur Mühle“, entgegnete Christian.
„Und wenn das nun ein Räuber oder ein Dieb oder ein Einbrecher ist?“
Christian tat, als hätte er Birgits Einwand nicht gehört: „Du hast es mir versprochen!“
„Meinetwegen“, gab Birgit nach, „aber wir erzählen Hille kurz von dem Fremden!“
„Wir sind bald zurück“ rief Christian Frau Kruse zu. Doch dieser Spaziergang dauerte sehr viel länger, als er ahnte. Christian hatte dem Großvater schon beim Frühstück vom geplanten Ausflug zur Mühle berichtet. Sie liefen zunächst zum Bauernhaus. Die Haustür war verschlossen, von Hille und ihren Eltern keine Spur und auch der Fremde schien wie vom Erdboden verschluckt. Birgit zuckte mit den Schultern: „Da kann man nichts machen und dabei hätte ich Hille so gern vor dem unheimlichen Kerl gewarnt!“
„Komm weiter“, drängte Christian und unaufhaltsam schritten sie der Mühle entgegen. „Ich verstehe wirklich nicht, was du an dem morschen Schuppen findest“, bemerkte Birgit noch einmal. Erst als sie vor der Mühle standen, erkannte Christian, wie beschädigt das alte Gemäuer war. Putz bröckelte von den Wänden, die Gitterstäbe vor den Fenstern sahen verrostet aus und die Windmühlenflügel waren zum Teil zerbrochen. Am schmalen Holzbalkon, der im ersten Stock rund um die Mühle führte, fehlten Bretter und das Geländer war abgebrochen. Vielleicht sah die Mühle innen besser aus. Birgit öffnete die schiefe Holztür, die mit lautem Quietschen zur Seite schwang. Die Mühle war leer bis auf den Staub, den der letzte Sturm herein geweht hatte. Eine schmale Holztreppe führte nach oben.
„Wie das hier muffig riecht!“ bestätigte Christian. Die Kinder öffneten die Fenster und als das dritte auf war, knallte die alte Holztür zu. „Das kommt vom Durchzug“, meinte Birgit und wollte die Tür wieder öffnen. Doch innen fehlte der Griff, sie waren eingesperrt.
Birgit fand das zum Lachen, aber Christian hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Er rüttelte an den Gitterstäben, doch sie saßen noch alle fest in der Wand. „So ein Pech“, murmelte er. Im ersten Stock sind keine Gitter vor den Fenstern, vielleicht können wir da hinaus klettern“, sagte Birgit und stieg die knarrenden Stufen hinauf. Sie kehrte bald wieder um. „ Die Tür nach oben ist abgesperrt“, erklärte sie, „jetzt spielen wir verstecken.“
„Und wer sucht uns?“ fragte Christian.
„Ach, hier wandern viele Leute vorbei und irgend jemand wird uns schon die Tür aufmachen“, sagte Birgit. Ihre Ruhe und Gelassenheit wirkten ansteckend und so setzte sich auch Christian sorglos neben Birgit auf die Bodentreppe. Zuerst spielten sie Birgits liebstes Ratespiel und sie begann: „Ich wünsch mir was!“ Nun sollte Christian herausfinden, was sie sich wünschte. Er fragte: „Ein Mensch?“
„Nein!“
„Ein Tier?“
„Ja!“
„Ein Pferd!“ rief Christian und hatte damit ihren Wunsch erraten.
„Ich möchte so gerne einmal reiten, aber die Mama will das nicht“, sagte sie.
„Ich mache mir nichts aus Pferden, sie sind so stark und groß. Jetzt bin ich dran: „Ich wünsche mir was!“ sagte Christian.
„Eine Sache?“
„Nein!“
„Ein Tier?“
„Nein!“
„Ein Mensch also!“
„Ja!“
„Na klar“, sagte Birgit, „du wünschst dir eine neue Mutter!“
„Falsch, ich wünsche mir den Großvater her, der würde uns befreien!“
„Keine Mutter?“
„Nein“, sagte Christian, „ich habe doch meine Oma!“
„Aber wenn dein Vater wieder heiratet, bekommst du eine neue Mutter!“
Nun erzählte Christian seiner Freundin, was die Oma und der Vater beschlossen hatten. Als der Vater wieder einmal nach einer langen Reise nach Hause kam, brachte er für ein paar Tage seine Freundin Maria mit. Kaum war die Dame abgereist, sagte die Oma zu Vater, dass sie ein für alle Mal etwas zu klären hätte. Sie zitierte den Vater und Christian in die gute Stube und sagte: „ Ich habe gehört, du möchtest heiraten und mit deiner Frau auch weiterhin in der Weltgeschichte herum ziehen. Der Bub aber bleibt, solange ich lebe, bei mir. Ich dulde nicht, dass der kleine Kerl mit dir und deiner zukünftigen Frau von Baustelle zu Baustelle reist. Ich bin zwar nur die Oma, aber ich werde für ihn immer wie eine Mutter sein. Nur, wenn mir etwas zustößt, kümmerst du dich voll und ganz um den Bub!“
Und der Vater hatte gesagt: „Mutter, das mit der Heirat steht noch in den Sternen. Aber ich danke dir sehr, auch ich möchte nicht, dass mein Kind als Vagabund aufwächst!“
Am nächsten Tag gingen alle zusammen aufs Jugendamt, und die Oma hat die gleiche Geschichte noch einmal einem sehr freundlichen Mann erzählt. Der Vater und die Oma mussten einen Vertrag unterschreiben, der Christian versprach, dass er für immer bei der Oma bleiben durfte. Zuhause hatte die Oma Vaters und Christians Lieblingsessen gekocht: Spätzle und Sauce, und sie feierten den ganzen Tag mit Kuchen essen und Karten spielen.
Birgit hörte die ganze Zeit zu, ohne Christian zu unterbrechen. Jetzt aber sagt sie: „Wau, das ist ja eine starke Geschichte. Weiß dein Großvater davon?“
„Na, klar, er findet das sogar sehr vernünftig. Meine Oma ist noch nicht so uralt wie der Großvater.“
Birgit schaute auf ihre Armbanduhr. Sie saßen nun schon über eine Stunde in der Mühle. Weit in der Ferne hörten sie die Mittagsglocken läuten. Christian klagte laut über seinen Durst. „Denk nicht daran“, riet Birgit und leckte sich ihre trockenen Lippen. Sie fragte: „was willst du später einmal werden?“
„Hm, nichts, wo ich ständig auf Reisen sein muss wie mein Papa. Ich werde Fischer und Lehrer. Dann habe ich große Ferien und kann mir Fische fangen. Und du?“
„Ich werde Bäuerin, wie Hille, und habe dann auch eigene Pferde.“
Nun spielten sie Städteraten, übten Kopfrechnen und schnellsprechen. Gerade, als Birgit „Sieben-Zwetschgen-Wasser-Flaschen“ nachsagen sollte, hörte sie draußen ein seltsames Knattern. Die Kinder stürzten zu den Fenstern.
„In Deckung“, zischte Birgit und das brauchte sie Christian nicht zweimal zu sagen. Ganz in der Nähe stand der Fremde mit den schwarzen Handschuhen. Birgit kniete sich vors Fenster. Sie hielt sich am Sims fest und schaute über den Rand. Der Fremde kam geradewegs auf sie zu. Kurz entschlossen floh Birgit unter die Holztreppe und Christian eilte hinterher. „Birgit keuchte: „Der Fremde, das ist der Rotkopf!“
„Der vom Bach?“ hauchte Christian entsetzt. Birgit nickte nur und legte den Finger auf den Mund. Der Fremde schaute durch alle Fenster, ging langsam um die Mühle herum und öffnete für einen Augenblick die Tür. Christian biss sich auf die Lippen und hielt die Hand vor die Augen. Birgit aber beobachtete den Mann. Ohne die Kinder zu entdecken, zog er die Tür wieder zu. Die Kinder verharrten eine Weile in ihrem Versteck. Dann eilten sie zum Fenster und guckten vorsichtig hinaus. Sie sahen den Fremden kaum noch. Beinahe lautlos hatte er sich auf dem feinen Sandweg entfernt. Birgit wandte sich an Christian:
„Also dieser Rotkopf ist einfach zum Fürchten!“
„Vielleicht hätte er dich wieder an deinem Pferdeschwanz
gezogen!“ Birgit nickte: „Dem wäre alles zuzutrauen, vielleicht hätte er uns auch entführt, denn Hille könnte uns jetzt nicht helfen!“ Christian setzte sich wieder auf die Treppe. Er sorgte sich nun sehr, dass niemand vorbei kommen würde. Aber Birgit munterte ihn bald wieder auf. Sie schlug ein Wettspringen von der Treppe vor. Nachdem sie dreimal von der dritten Stufe gehopst waren, fand Christian, dass dieses Spiel seinen Durst vergrößerte. Sie rüttelten noch einmal an allen Gitterstäben. Doch nur der Rost löste sich und hinterließ Spuren in ihren Händen. Birgit wischte sich die Finger sauber und sagte: „Von nun an nehme ich auf jeden Ausflug was zum Trinken mit. Dann können wir uns noch oft in der Mühle einsperren!“ Christian schüttelte heftig den Kopf: „Nein, danke, von alten Mühlen will ich nichts mehr wissen!“ Er starrte auf den dunklen Boden und murmelte: „Es ist alles meine Schuld. Ich wollte unbedingt hierher!“ Birgit stieß Christian mit dem Ellbogen an. „Lass den Kopf nicht hängen, Kris. Ich finde unser Abenteuer spannend. Du weißt doch, wie gern ich verstecken spiele! Bei dir Zuhause gibt es ja keine ollen Windmühlen. Wo würde ich da hingehen?“
„Zuerst in die Altstadt, zu den Bächle“, antwortete Christian wie aus der Pistole geschossen. Birgit wollte nicht glauben, dass mitten in der großen Stadt kleine Bäche flossen. Aber Christian erklärte: „Diese Bächle sind nur so breit, dass meine Oma bequem mit beiden Füßen darin stehen kann. Es gibt daneben auch kein Gras und keine Bäume. Das Ufer ist der Gehweg und die Straße. Besonders schön finde ich die Rathausuhr. Um die Mittagszeit erklingt von dort ein Glockenspiel, jeden Tag spielt es eine andere Melodie. Die Oma ist begeistert, wenn sie „Freut euch des Lebens“ hört, ich mag am liebsten: „Wenn alle Brünnlein fließen.“
Birgit lachte laut auf: „Kris, das heißt bei euch: „Wenn alle Bächlein fließen!“
Christian erzählte nun vom Freiburger Münster. „Das ist eine wunderschöne, riesengroße, alte Kirche. Der Münsterturm schaut über alle Häuser der Altstadt. Die Oma sagt, an manchen Tagen kitzelt er mit seiner Spitze die Wolken am Himmel.“ Christian lehnt sich zurück und erzählt nicht weiter. Er fühlte sich plötzlich sehr schlapp, gerade so, als wäre er eben die 329 Stufen im Münsterturm hinauf und wieder hinunter gelaufen.
„Wenn ich groß bin, besuche ich dich einmal“, versprach Birgit und hob lauschend den Kopf. Sie eilte zum Fenster und rief: „Hurra, wir sind gerettet!“ Christians Müdigkeit war wie weggewischt. Er stellte sich neben Birgit, wandte sich jedoch enttäuscht wieder ab: „Ich sehe nichts! Außer ein paar Sonnenstrahlen findet keiner den Weg in unser Gefängnis!“
„Hör doch mal genau hin“, bat Birgit. Christian lauschte so angestrengt, dass er beinahe den Atem vergaß. Doch dann holte er tief Luft, schnaufte erleichtert auf und lächelte zufrieden. In der Nähe weideten Schafe und ihr Blöken kam immer näher. Nun schrien die Kinder laut um Hilfe. Bald tauchte der Schäfer auf und eilte mit großen Schritten zu ihnen. Seine beiden Hunde begleiteten ihn. Birgit flüsterte: „Den kenne ich, das ist der Knesebäk!“
Der Schäfer öffnete die Tür und brummelte: „Na, ihr beiden, was sucht ihr denn in der Mühle?“ „Einen Ausgang! Wir haben uns hier selbst eingesperrt!“ erkläre Birgit.
„Es ist wohl leichter auf eine Herde Schafe aufzupassen, als auf euch Racker. Aber Ben und Tom helfen mir auch bei meiner Arbeit“, sagte Knesebäk und streichelte die Köpfe seiner Hunde. Die Schafe umringten Birgit und Christian. Während Birgit die Tiere sanft zu Seite schob und sich den Weg frei bahnte, blieb Christian hilflos in der Herde stehen und hielt die Hände hoch. Er hätte gerne ein Schaf gestreichelt, aber er fürchtete sich vor den Hörnern, und sie rochen alle nicht gut. Ein Pfiff vom Schäfer genügte, die Hunde trieben die Herde weiter und Christian stellte sich zu Birgit. Sie verabschiedeten sich rasch und liefen nach Hause.
*
*
*
Frau Schulze funkelte die Kinder zornig an und ihre Stimme klang wie ein lang anhaltendes Donnergrollen als sie sagte: „Birgit, du brauchst einen Denkzettel. Für den Rest des Tages gibt`s Hausarrest. Marsch, rein!“
Auch Christian zog den Kopf ein und eilte rasch weiter. Als er nach Hause kam, saß der Großvater auf dem Kutschbock. „Na, Krischan, heute ist wohl nicht dein pünktlicher Tag! Lauf schnell zu Frau Kruse. Vielleicht hat sie noch etwas zum Essen für dich!“ Christian versprach dem Großvater, abends von seinem Abenteuer in der Mühle zu erzählen. Der Großvater zwinkerte ihm zu, packt die Zügel fester und die Pferde zogen los. Frau Kruse schob ihn unsanft in die Gaststube: „Such dir einen Platz, die meisten Gäste haben schon gegessen!“ Sie brachte ihm eine Flasche Mineralwasser und einen Teller voll mit Eintopf.
„Ich habe nur noch Bohnen mit Schnitz. Wer nicht kommt zur rechten Zeit …“
„ Der muss essen was übrig bleibt!“ ergänzte Christian. Er trank das Wasser direkt aus der Flasche und es störte ihn auch nicht, dass es keine süße Limo war. Dann rührte er unlustig in seinem Teller. Ausgerechnet heute musste es diesen Eintopf geben. Da waren nicht nur grüne Bohnen und Birnenschnitze drin sondern auch Kartoffeln und Speck. Seine Oma kochte im Sommer oft Bohnen, Kartoffeln und Speck. Aber niemals schnitzelte sie noch süße Birnen dazu und warf alles zusammen in einen Topf. Christian schüttelte sich leicht. Doch als er Frau Kruses eisige Miene sah, begann er sofort zu essen. Er stellte fest, dass der Eintopf gar nicht so übel schmeckte. Danach trug er den Teller in die Küche und lungerte eine Weile im Hause herum, bis Frau Kruse ihn zum Spielen nach draußen schickte. Sie bat ihn noch, wenigstens zum Abendessen pünktlich zu sein. Er streifte durch die leeren Pferdeställe, besuchte Großvaters Hühner und schlenderte schließlich zum Bauernhof. Hille arbeitete im Gemüsegarten. „Magst du Unkraut jäten?“ fragte sie.
„Heute nicht“, antwortete er und wanderte am Blumenbeet entlang. Als er wieder zu Hille kam, stütze sie ihren Kopf auf die Hacke und betrachtete ihn. „Junge, was ist los mit dir?“ fragte sie. Er berichtete kurz von der Mühle. Und nun war Birgit wegen ihm Zuhause noch einmal eingesperrt. Hille seufzte leise: „Da kannst du nichts ändern, sei froh, dass wenigstens du an der frischen Luft bist!“
Das war kein Trost für Christian, Birgit fehlte ihm sehr. Hille lehnte nun ihre Hacke an die Wand. Als sie ihre grell-gelben Gartenhandschuhe abstreifte, erinnerte sich Christian an den Fremden.
„Herje, Kris, was starrst du mich denn so an?“
Christian kratzte sich kurz am Kopf und erzählte Hille von dem unbekannten, den er am Morgen vor ihrer Haustür beobachtet hatte. Hille winkte nur ab: „Das war Herr Knittelbrink, den ihr vor kurzem am Bach getroffen habt. Er möchte hier in der Gegend Land kaufen und sich ein Haus bauen. Ich habe ihm erklärt, dass wir Äcker und Felder, aber keine Bauplätze haben. Dann ist er gleich weiter gefahren!“ „Mit dem Auto?“
„Ne“, lachte Hille, „er hatte einen Feuerstuhl unterm Hintern, eine fauchende Höllenmaschine, na, du weißt schon, was ich meine. Willst du mit mir Kaffee trinken?“
„Nein, danke, ich muss dringend zu Birgit, tschüß, Hille!“ rief Christian. Er verließ den Garten und eilte zum Haus seiner Freundin. Frau Schulze kam ihm mit einem Korb Wäsche entgegen.
„Was suchst du denn hier?“ fragte sie. Ihre Stirn war so faltig wie Großvaters Gesicht, aber das schreckte Christian nicht ab: „Ich muss Birgit was sagen!“
Frau Schulze schüttelte den Kopf: „Das hat Zeit bis morgen!“
„Dann will ich auch Hausarrest!“ antwortete er.
Sie riet ihm in seine Dachkammer zu gehen. Dort konnte er darüber nachdenken, wie leichtsinnig es war, in die alte Mühle einzudringen. „Wer weiß, was da alles hätte passieren können“, schloss sie und ging ins Haus. Christian setze sich auf die Treppe und betrachtete Frau Schulzes Blumengarten. Er begann, die Sonnenblumen zu zählen. „25“ sagte er laut und fuhr zusammen, als plötzlich Frau Schulze wieder vor ihm stand.
„Warum gehst du denn nicht nach Hause?“ fragte sie.
Christian reckte sein Kinn hoch und sagte: „Es ist doch egal, wo ich einsam bin!“
Das hätte deine Mutter auch gesagt“, murmelte Frau Schulze. „Also, meinetwegen, komm rein. Aber Kaffee und Kuchen gibt es bei Hausarrest nicht! Verstanden?“
„Klar, Frau Schulze, Wasser und Brot genügen auch!“
Christian huschte an der sprachlosen Frau vorbei, in Birgits Zimmer.
Birgit lächelte ihn strahlen an: „Ich hätte nicht geglaubt, dass Mama dich herein lässt, du bist ja ein Zauberer!“
Er setzte sich zu ihr auf den Fußboden und berichtete, was er von Hille über den Fremden erfahren hatte.
„Er fährt Motorrad und hat deshalb Handschuhe an, und er hat einen ganz fremdartigen Namen, Knüppel oder Kittel mit noch was hinten dran!“ sagte Christian zum Schluss. Birgit pfiff leise und meinte dann: „für mich bleibt er der Rotkopf. Dann beugte sie sich vor und drückte Christian einen Kuss auf die Wange. „Danke, dass du gekommen bist!“
Christian verschlug es die Sprache, erst wollte er seiner Freundin sagen, dass er keine Knutschkugel mehr war, doch dann grinste er, fand ihn gar nicht so übel, der Schmatz von Birgit. Sie sagte: Komm, wir spielen Halma!“
Christian verabschiedete sich frühzeitig von Birgit, damit er vor dem Abendessen in aller Ruhe noch die Hände waschen konnte. Als er den Heimweg entlang hüpfte, hörte er wieder das seltsame Knattern, das ihm schon in der Mühle aufgefallen war. Er versteckte sich hinter einer Eiche und schon brauste ein Motorradfahrer vorbei. „Vielleicht ist das der Rotkopf“, murmelte Christian und wartete, bis das Motorrad heulend um die Kurve bog. Dann trottete er weiter.
*
Frau Kruse hatte den Tisch im Büro gedeckt. Kaum war der Großvater im Zimmer, läutete das Telefon. Die Oma war am Apparat. Sie redete eine ganze Weile mit dem Großvater. Auf einmal veränderte sich seine Stimme. Müde und beinahe klanglos sagte er: „Frag ihn bitte selbst!“ und reichte Christian den Hörer. Die Oma erzählte, dass sie nun wieder Zuhause sei. Sie hatte noch immer einen Gipsverband und konnte nur mit Krücken gehen. Aber Tante Lioba nahm ihr alle nötigen Arbeiten ab. Dann fragte sie, ob er noch bis zum Ende der Schulferien beim Großvater bleiben würde. Tante Lioba hätte dann nicht so viel zu schaffen.
„Klar, Oma, ich freue mich, bis bald!“, rief er in die Muschel und legte auf.
Der Großvater saß zusammengesunken auf dem Stuhl. „Na, ja, alles geht einmal zu Ende“, murmelte er. Sein strenges Gesicht gefiel Christian gar nicht, und er kaute ratlos an seinen Fingern. Plötzlich fiel ihn ein, dass er den Großvater noch nicht gefragt hatte, ob er überhaupt bleiben durfte. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg und sein Gesicht heiß wurde. Tränen schossen ihm in die Augen.
„Willst du mich denn nicht mehr?“ stammelte Christian. Der Großvater hob den Kopf. „Heißt das, du möchtest hier bleiben?“ Christian nickte heftig. Er sprang von seinem Platz auf, stürzte sich in Großvaters Arme und schluchzte: „Bis die Ferien zu Ende sind, wenn ich darf.“
Dem Großvater schien ein Frosch im Hals zu stecken. Er krächzte heißer: „Na, klar! Ich dachte, du wolltest sofort nach Hause fahren!“ Christian schniefte kurz und sagte: „Und darüber bist du erschrocken, wie ich heute in der Mühle.“ Der Großvater gab ihm sein großes Taschentuch. Er goss Tee ein, verteilte Salat und saure Gurken. In der Zwischenzeit schnäuzte sich Christian kräftig die Nase und sagte dann: „Weißt Du, der Schreck in der Mühle war nicht so groß wie der, als die Oma plötzlich im Krankenhaus lag. Ich dachte, ich sei ganz allein, obwohl Tante Lioba bei mir war.“
„Ja“, sagte Großvater, „das kann ich verstehen. Als meine Frau starb, ging es mir ebenso. Doch sie war sehr krank und es tröstete mich, dass sie nun nicht mehr leiden musste. Aber als ich die Nachricht vom Tode meiner Tochter erhielt, war ich fassungslos. Ein guter und fröhlicher Mensch war sie und noch so jung. Plötzlich hat ihr Herz aufgehört zu schlagen. Warum? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, sie wird immer ein Geheimnis bleiben. Dennoch frage ich mich oft, warum sie uns wohl so früh verlassen musste. Ich bin doch schon alt und wäre gern für sie gestorben!“ Christian riss die Augen weit auf und sagte: „Aber Großvater, dann hätten wir uns nicht kennengelernt!“ „Ja“, sagte der Großvater, „das muss es wohl sein!“ und über sein Gesicht huschte das seltene kostbare, strahlende Lächeln, das Christian so sehr mochte. Der Großvater schob ihm die Platte mit den Broten: „Bedien dich, Krischan!“
Während dem Essen erzählte Christian ausführlich von seinem Mühlenerlebnis. „Na, was sagst du denn zu meinem Abenteuer?“ wollte er zum Schluss wissen.
„Als Großvater muss ich dir sagen, dass du nicht in fremde Gebäude eindringen darfst! Alte, unbewohnte Bauwerke darf man aus Sicherheitsgründen nicht betreten. Ich hätte dir sagen müssen, dass du nicht in die Mühle hinein gehen darfst.“ Er schaute sich um, ob niemand lauschte. Dann beugte er sich über den Tisch, zwinkerte Christian zu und flüsterte: „Aber als ich noch ein Kind war, habe ich das auch gemacht!“ Sie räumten das Geschirr in die Küche. Danach gingen sie die Runde ums Haus. Großvater vergewisserte sich, dass im Geräteschuppen alles in Ordnung war, anschließend schloss Christian das große Tor und den Hintereingang zu. Im Sommer blieben Großvaters Tiere nachts auf der Weide, dennoch warf er einen Blick in die Pferdeboxen und verriegelte die Stalltür. Dann schauten sie nach, ob das Tor zur Pferdekoppel verschlossen war. Zum Schluss schritten sie einmal um den Hühnerhof und überprüften dabei den Maschenzaun. Großvater hatte Christian erklärt, dass Füchse sich ohne große Mühe unterm Zaun durchgraben konnten. Als Christian sich nun erkundigte, warum der Großvater jeden Abend den gleichen Rundgang machte, sage dieser: „Das war schon immer meine Aufgabe. Außerdem verlassen sich die Kruses darauf, dass ich abends nach dem Rechten sehe, und ich vertraue ihnen, dass sie ihre Arbeit gut erledigen!“ Großvater rieb sich vergnügt die Hände: „So Krischan, jetzt ist Feierabend!“
Sie setzten sich auf die Bank neben dem Eingang. Der Großvater stopfte sich seine Pfeife und lehnte sich zurück. Schmauchend erkundigte er sich, ob Christian noch Mühle oder Dame spielen wollte. Aber dazu kam es an diesem Abend nicht mehr. Ein Gast setzte sich zu ihnen und verwickelte den Großvater in ein Gespräch. Der Mann sprach schnell und plattdeutsch. Christian verstand kein Wort. „Ich gehe unter die Dusche“, rief er und eilte ins Haus.
Als der Großvater später ins Zimmer kam, saß Christian auf der Truhe. „Großvater, es ist zum zweiten Mal Vollmond, seit ich bei dir bin. Aber leider sehe ich kaum Sterne!“
Der Großvater knipste die Nachttischleuchte an und sagte: „Schau, dieses kleine Licht bemerkst du kaum, wenn die große Deckenlampe eingeschaltet ist. Du siehst es erst, wenn das große Licht nicht scheint. So ist es auch mit den Sternen. Du kannst sie am besten betrachten, wenn der Mond nicht zu sehen ist.“ „Und wann verschwindet er wieder?“ erkundigte sich Christian.
„Von nun an jeden Tag ein bisschen mehr, bis Neumond ist. Da kannst du ihn nicht mehr sehen.“ Christian sah den Großvater fragend an: „Ich verstehe den Mond nicht. Warum ist er mal dick, dann dünn und dann sieht man ihn nicht mehr?“
„Krischan, hüpf ins Bett, ich erkläre es dir dort!“ Christian wagte den Sprung ohne Großvaters Hilfe. Er setzte sich im Schneidersitz auf sein Bett und der Großvater zog wieder den Rechnungsblock hervor. Er malte drei verschieden große Kreise nebeneinander. „Das ist der Mond“, sagte er und schrieb in den kleinsten Kreis ein „M“. „Er wandert in 27 1/3 Tagen einmal um die Erde und dreht ihr immer die gleiche Seite zu, wir nennen sie Vorderseite. Der größte Kreis bedeutet die Sonne. Weißt du, der Mond leuchtet nicht selbst, er bekommt sein Licht, genau wie die Erde, von der Sonne. Bei seiner Reise um die Erde sehen wir nur den Teil, den die Sonne anstrahlt. Steht der Mond genau zwischen Sonne und Erde, fällt das Licht auf die Rückseite des Mondes. Die Vorderseite bleibt dunkel, das ist Neumond. Der Mond bewegt sich weiter auf seiner Umlaufbahn. Erst siehst du ihn als dünne Sichel, dann als Halbmond. Wenn die Erde zwischen Sonne und Mond steht, ist Vollmond, die Sonne beleuchtet wieder seine ganze Vorderseite.“ Großvater räusperte sich kurz und sagte: „Schaue ich zum Himmel, weiß ich gleich, ob der Mond ab oder zu nimmt. Wenn die runde Seite des Mondes so steht (, wie du ein A anfängst zu schreiben, nimmt er ab. Steht die runde Seite so), könntest du aus dem Bogen leicht ein Z schreiben, dann nimmt der Mond wieder zu.“ Der Großvater gab Christian den Zettel, mit den Mondzeichnungen.
„Beim nächsten Vollmond bist du schon wieder in Freiburg. Verstehst du das nun, Kris?“ fragt er. Christian nickte: „Fast, ganz bestimmt immer, wenn ich deine Zeichnung betrachte.“ „Dann ist ja gut“, sagte der Großvater. Er steckte den Rechnungsblock und den Stift wieder ein, lächelte ein wenig schief und meinte: „Wenn jetzt Neumond ist, sind deine Ferien zu Ende!“
Er lehnte sich ans Fußende, verschränkte die Arme und erkundigte sich, welche Geschichte er nun zu hören bekäme. Christian überlegte einen Augenblick. Dann sage er: „Wenn ich groß bin, möchte ich auf den Mond fliegen, ich will sehen, wie die Rückseite aussieht. Aber jetzt erzähle ich dir von Hänsel und Gretel. Die waren auch einmal eingesperrt, zwar nicht in einer Mühle, sondern in einem Hexenhaus und das war noch viel schlimmer.“
Dieses Märchen kannte Christian sehr gut und er begann flüssig mit der Erzählung. Großvater schloss zwischendurch immer wieder einmal die Augen. Gerade, als Christian den Spruch vom Knusperhäuschen aufsagte, fielen dem Großvater die Augen wieder zu. Sein Kopf sank auf die Brust und er kippte leicht zur Seite. Um den Großvater zu stützen, schob Christian sein Deckbett ans Fußende. Der Großvater schnarchte nun leise. Christan betrachtete den schlafenden Mann. In diesem Moment wünschte er sich, dass der Großvater ihm so vertraute, wie den Kruses. Er nahm sich vor, keine fremden Gebäude ohne Erlaubnis zu betreten und pünktlicher zu sein. Der Großvater sollte sich auf ihn verlassen können. Christian fuhr ihm sachte über das Runzelgesicht und sagte: „Aufwachen, Großvater, du musst schlafen gehen!“
*