Christa Reuch
Mitglied
15. Dezember
Verschlafen blinzelte Sabrina, als der Wecker sie morgens aus dem Schlaf klingelte. Trotzdem sprang sie schnell aus dem Bett. Neugierig öffnete sie ein weiteres Türchen und hielt vor Überraschung kurz die Luft an. Ein Nikolaus! Das musste ein Irrtum sein. Nikolaustag war doch am sechsten Dezember. Sie schüttelte den Kopf. Nein, bisher geschah nichts ohne Sinn, also meinte der Kalender wahrscheinlich nicht den richtigen Nikolaus. Sie musste kichern. Der richtige Nikolaus, wie sich das anhörte! Die Nikoläuse, die so in der Stadt herumliefen, konnten getrost als unecht bezeichnet werden. Das lag schon an der großen Anzahl dieser rot gekleideten Gestalten, die man in der Vorweihnachtszeit überall sah. Wenn überhaupt, dann gab es ja nur einen Nikolaus. Sie konnte stolz auf sich sein. Naja, ein bisschen wenigstens, denn sie wusste ja trotzdem nicht, wer gemeint war. Wieder musste sie sich in Geduld üben, obwohl ihr das doch so schwer fiel. Sie beeilte sich, um möglichst noch vor der Schule mit Hanna reden zu können und ihr Hendriks Stammbaum zu zeigen.
Spontan hatte ihre Freundin auch keine zündende Idee, um welchen Nikolaus es sich handeln könnte. Sie betraten tuschelnd das Klassenzimmer. Als der Schulgong das Ende des heutigen Unterrichts bekannt gab, stürmten sie aus dem Schulhaus und flitzten zum Schreibwarenladen. Hendrik wartete bereits gespannt auf die beiden. Sie verzogen sich in Hendriks Zimmer und setzten sich.
»Weißt du jetzt, wie Klaras Mann hieß?«, wollte Hanna wissen. Hendrik schaute so betrübt, dass die Mädchen lachen mussten.
»Keine Bange, das finden wir schon noch heraus!« Sabrina war zuversichtlich. Plötzlich strahlte sie. »Vielleicht geht es gar nicht um den Namen, sondern um das Datum. Wäre doch möglich, dass irgendetwas am sechsten Dezember geschehen ist, oder?« Bewundernd schaute Hanna ihre Freundin an.
»Kluges Köpfchen«, lobte sie und meinte dann: »Lasst uns mal überlegen! Wer könnte uns weiterhelfen?«
Alle dachten eine Weile nach, bis Sabrina schließlich das Schweigen brach.
»Naja, so viele Möglichkeiten gibt es ja nicht. Hendriks Eltern, Herr Baltasar und Frau Kroll, ach und nicht zu vergessen die Familie Marberg.«
Erstaunt sah Hendrik Sabrina an.
»Was haben denn die Marbergs damit zu tun, außer dass denen der Laden hier bald gehört?«
»Eben! Es ist doch merkwürdig, dass sie gerade jetzt den Laden haben wollen. Wenn dieser Vertrag schon so lange verschwunden ist, er aber trotzdem immer in Familienbesitz blieb, muss doch etwas passiert sein, das erklärt, warum Herr Baltasar ausgerechnet jetzt ausziehen muss!«
»Hanna hat recht!«, warf Hendrik ein.
»Recht?«, wollte Sabrina verwirrt wissen, »Mit was denn?« Hendrik grinste sie freundlich an.
»Als sie kluges Köpfchen sagte!« Dann setzte er noch hinzu, »Kommt wir fragen mal, ob wir Onkel Kasimirs Computer benutzen dürfen!« Sie durften und Hendrik gab einfach ‚Marberg’ in die Suchmaschine ein. Sekunden später hatten sie tausende von Hinweisen. Sie stöhnten.
Hanna sprach aus, was alle dachten:
»Die können wir unmöglich alle lesen!«
»Stimmt und deswegen müssen wir die Suche eingrenzen. Wartet kurz, ich komme sofort wieder.« Hendrik lief aus dem Zimmer und kam wirklich gleich darauf zurück. »Er heißt Fritz mit Vornamen, Fritz Marberg. Jetzt versuchen wir es nochmals.« Er tippte also beide Namen und noch die Stadt ein und wieder erschienen Sekunden später viele Hinweise. Allerdings nicht ganz so viele wie zuvor. »Fangen wir einfach mit dem ersten an.«
Der erste Hinweis informierte über das Geschäftsimperium der Familie Marberg und brachte sie nicht weiter, außer dass ihnen klar wurde, dass hinter dieser Familie richtig viel Geld steckte.
»Die sind doch schon reich!«, rief Hanna empört, »Die brauchen den Laden deines Onkels überhaupt nicht!« Sabrina hatte inzwischen weitergelesen. Plötzlich deutete sie auf eine Stelle auf dem Bildschirm.
»Da! Klick das mal an!« Hendrik tat wie ihm geheißen, und es erschien ein Auszug aus dem Sterberegister der Stadt, den man auch im Schaukasten beim Rathaus nachlesen konnte.
»Vor zwei Wochen ist ein Doktor Fritz Marberg gestorben, geboren am zwanzigsten Dezember 1910. Bringt uns das weiter?« Er sah die Mädchen zweifelnd an.
Sabrina nickte. »Doch! Wenn der alte Marberg dafür gesorgt hat, dass dieses Haus hier im Besitz der Familie Baltasar auch ohne schriftlichen Vertrag bleibt, dann macht das Sinn.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich muss leider nach Hause. Meine Mutter kommt bald heim und ich habe keine Lust auf lange Erklärungen.«
»Geht mir genauso!«, nickte Hanna.
Sie verabschiedeten sich von Hendrik und verließen das Haus. Draußen schlug Sabrina sich vor die Stirn.
»Mist, ich wollte Hendrik und seinem Onkel doch eine Einladung für das Weihnachtskonzert heute Abend geben. Warte! Ich laufe schnell zurück. Bin gleich wieder da!« Schnell lief sie zurück und drückte Herrn Baltasar die Einladung in die Hand, dann gingen die beiden endgültig nach Hause.
16. Dezember
Als Sabrina heute aufwachte und auf den Wecker sah, freute sie sich. Sie konnte noch ein paar Minuten liegen bleiben, denn alle Mitwirkenden am gestrigen Weihnachtskonzert, welches nebenbei bemerkt, wirklich gut gelungen war, mussten erst zur zweiten Schulstunde erscheinen.
Hendrik und sein Onkel hatten die Einladung angenommen. Schwer beeindruckt betonte Herr Baltasar immer wieder, dass er gar nicht gewusst habe, wie viele musikalisch begabte Kinder diese Schule vorweisen konnte. Außerdem sei es erfreulich, wenn sich junge Leute noch für andere Dinge, außer Computerspiele und Handys interessierten. Genüsslich drehte sie sich im Bett um, zog die Decke bis unter das Kinn und döste vor sich hin.
Da fiel ihr der Adventskalender wieder ein. Also stand sie auf und öffnete das nächste Türchen. Enttäuscht betrachtete sie das Bildchen. Eine Zeitung! Sollte sie jetzt Zeitung lesen? Sie seufzte! Was hatte das denn nun zu bedeuten? Sie sah sich die winzige Zeitung noch einmal genauer an. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob sie selbst die Zeitung in der Hand hielt und sie läse. Als sie das Datum oben am Zeitungsrand entzifferte, wurde sie blass. Es handelte sich um die Ausgabe des Morgenblattes vom vierundzwanzigsten Dezember 1864. Gerade als sie die Artikel lesen wollte, kam ihre Mutter ins Kinderzimmer und erinnerte sie an die Schule. Sabrina starrte auf den Kalender in ihren Händen.
»Kannst du nicht anklopfen?«, blaffte sie wütend. Jetzt wurde auch ihre Mutter sauer.
»Dein Ton gefällt mir überhaupt nicht, junges Fräulein. Wenn du weiterhin so unverschämt bist, ist es wohl besser, du bleibst heute Nachmittag einmal zu Hause.« Sabrina erschrak. Das ging doch nicht. Sie setzte eine zerknirschte Miene auf.
»Entschuldige bitte! Das ist mir so herausgerutscht. Ich wollte das eigentlich gar nicht laut sagen!« Ihre Mutter blickte sie mit diesem besonderen tadelnden Mutterblick an.
»Soll heißen, normalerweise denkst du dir solche Frechheiten nur?« Verlegen nickte Sabrina und starrte auf den Boden, bemerkte aber erfreut, dass ihre Mutter schon wieder lachen konnte.
»Gut, Entschuldigung angenommen! Du müsstest jetzt trotzdem in die Schule!« Sabrina nickte und als ihre Mutter das Zimmer verlassen hatte, zog sie sich rasch an.
Nach einem schnellen Frühstück eilte sie in die Schule. Erfreut stellte sie fest, dass es noch nicht gegongt hatte. Sie suchte Hanna und erzählte ihr sogleich von der seltsamen Zeitung.
Aufgeregt sagte Hanna:
»Jetzt wissen wir jedenfalls ganz sicher, dass irgendetwas am Heiligen Abend passiert ist. Und die genaue Jahreszahl kennen wir auch.«
In der Pause standen sie vor dem Eingang und unterhielten sich.
»Wartest du eigentlich auf jemanden?«, wollte Hanna wissen. »Ständig schaust du auf die Uhr und siehst so suchend herum!«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Nein, auf wen sollte ich denn warten? Und so eine Uhr ist nützlich, denn sie sagt einem, wie lange die Pause noch dauert.«
Hanna zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Bist du jetzt sauer?«
»Wer ist sauer«, fragte in diesem Augenblick jemand. Hinter ihnen stand Hendrik und grinste die Mädchen freundlich an.
»Was machst du denn hier?«, entfuhr es Hanna.
»Na, das ist aber eine freundliche Begrüßung«, lachte Hendrik und fügte hinzu: »Ich kam zufällig vorbei und ...! Ach Quatsch! Ich war neugierig und wollte wissen, was hinter dem nächsten Türchen ist.«
Hanna wollte gerade antworten, da sprudelte es auch schon aus Sabrina heraus. Gespannt sahen ihn beide Mädchen an und warteten auf einen Kommentar von Hendrik.
»Habt ihr heute Nachmittag schon etwas vor?«
»Um achtzehn Uhr muss ich ins Training, aber bis dahin habe ich Zeit und du Hanna?«
»Gut, dann treffen wir uns um vierzehn Uhr an der Bushaltestelle!« Jetzt waren die Mädchen natürlich neugierig.
»Wo willst du hin?«
Hendrik grinste schelmisch. »Das ist doch ganz logisch: Ins Archiv des Morgenblattes!“
Hanna sah ihn zweifelnd an. »Und da lassen die uns so einfach rein? Glaub’ ich nicht!«
»Wart`s ab! Also, was ist, kommt ihr?« Die Freundinnen sahen sich an und nickten dann eifrig.
»Natürlich!« In diesem Augenblick ertönte der Schulgong und verkündete das Ende der Pause. Die Mädchen verabschiedeten sich schnell und liefen in ihr Klassenzimmer.
Pünktlich um vierzehn Uhr warteten sie an der Bushaltestelle. Als Hendrik kam, wirkte er nachdenklich und gar nicht so lustig wie sonst. Sie stiegen in den Bus und suchten sich einen Sitzplatz. Irgendwann stupste Sabrina ihn an.
»He, nun red` schon. Was ist los mit dir?« Hendrik senkte die Stimme, so dass sie sich zu ihm hinüber beugen mussten, um ihn zu verstehen.
»Seht ihr den Typen dort drüben?« Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er zu einem jungen Mann, der gelangweilt aus dem Fenster sah.
»Ja, und?«
»Der stand heute schon vor dem Schreibwarenladen. Als ich euch in der Pause kurz besucht habe, war er zufällig vor der Schule. Und jetzt sitzt er zufällig im selben Bus? Das sind mir ein paar Zufälle zuviel!«
»Aber was will der von dir? Kennst du ihn?« Hendrik schüttelte den Kopf. »Auf alle Fälle müssen wir versuchen ihn loszuwerden. Ich weiß nur noch nicht wie.«
»Ganz einfach«, flüsterte Hanna und lächelte triumphierend: »Wir trennen uns! Er kann sich ja nicht teilen!« Bewundernd blickte Sabrina ihre Freundin an.
»Genial! Ich weiß auch schon wo. Wir fahren bis zum Marienplatz, also eine Station weiter als wir eigentlich müssten. Jeder geht in ein anderes Geschäft. Verfolgt der Typ dann immer noch einen von uns, gehen die beiden anderen zur Zeitung, während der Typ einen Stadtbummel machen darf.« Grinsend sah sie ihre Freunde an. Genauso machten sie es.
Der junge Mann hängte sich weiterhin an Hendrik, also trafen sich die Mädchen und eilten zur Zeitung. Hendriks Mutter arbeitete in Hamburg als Lektorin und Hendrik hatte einen Besucherausweis. Da dort nur H. Baltasar stand und niemand wusste, dass das ‚H’ für Hendrik und nicht für Hanna stand, kamen sie ohne Probleme hinein. Sie ließen sich die entsprechenden Artikel aus dem Archiv heraussuchen und kopierten sie. Dann verabschiedeten sie sich und stießen vor dem Rathauscafe wieder mit Hendrik zusammen.
»Ich lade euch zu einer Heißen Schokolade ein«, erklärte dieser großzügig.
»Aber«, begann Sabrina, als Hendrik sie unterbrach. »Mein Onkel hat mir Geld mitgegeben, falls ich unterwegs Hunger bekomme.«
»Gut, dann nehmen wir die Einladung an, oder?« Fragend sah sie zu Hanna. Diese nickte und sie gingen in das Cafe hinein. Ihr Verfolger stand derweil frierend in der Kälte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er ziemlich schlechte Laune. Als sie ausgetrunken und bezahlt hatten, bemerkte Hanna erschrocken, wie spät es schon war.
»Mist! Ich muss in zwanzig Minuten daheim sein. Das schaffe ich nie!«
Sie liefen zur Bushaltestelle. Verärgert stellten sie fest, dass der nächste Bus erst in fünfzehn Minuten halten würde. Ratlos standen sie in der Kälte, als ein Taxi neben ihnen hielt.
Die Kinder staunten, als sie bemerkten, dass darin niemand anderes als Frau Kroll saß.
»Ich hatte einen Termin in der Stadt«, erklärte sie, »und jetzt fahre ich heim. Wollt ihr eventuell mitfahren? Das Taxi muss ich sowieso bezahlen, ob ich nun alleine bin oder noch jemanden mitnehme.« Erfreut stiegen sie rasch ein und ließen sich nach Hause fahren. Hendrik drehte sich noch einmal um und stellte grinsend fest, dass ihr Verfolger ziemlich wütend an der Haltestelle stand.
Bevor sie einer nach dem anderen ausstiegen, bedankten sie sich bei Frau Kroll und verabredeten sich noch für den nächsten Tag. Zuletzt saß nur noch Frau Kroll in dem Taxi und ließ sich ebenfalls nach Hause bringen.
17. Dezember
Endlich Wochenende! Sabrina räkelte sich genüsslich im Bett, als ihr die Kopien einfielen, die sie noch gar nicht richtig durchgelesen hatten. Nein, das wäre unfair. Sie würde auf die beiden anderen warten. Aber das nächste Türchen konnte sie ja schon öffnen. Gespannt kletterte sie aus dem Bett und holte sich den Kalender. Als sie gerade das Türchen öffnen wollte, wurde sie zum Frühstück gerufen. Seufzend legte sie den Kalender beiseite, schlüpfte schnell in ihre Klamotten und stürmte die Treppe hinunter.
Nach dem Frühstück, eigentlich eher ein Brunch, denn es war schon elf Uhr, klingelten Hanna und Hendrik. Sabrina begrüßte ihre Freunde und sie zogen sich in Sabrinas Zimmer zurück. Neugierig begannen sie die kopierten Artikel zu lesen.
»Hört euch das an!«, rief Sabrina plötzlich aufgeregt, »Hier ist ein kleiner Artikel über einen Unfall. Am Mittag des vierundzwanzigsten Dezember kam die erst fünfjährige Tochter eines bekannten Mitgliedes des Stadtrates zu Tode. Das Mädchen stürzte über das Stiegengeländer. Der sofort herbei gerufene Medizinalrat konnte nur noch das traurige Ableben bestätigen. Die Familie befindet sich in Trauer und besitzt unser tief empfundenes Mitgefühl.«
Sabrina blickte Hanna und Hendrik an. »Jetzt wissen wir, dass das kleine Mädchen mit nur fünf Jahren gestorben ist.« Traurig fügte sie leise hinzu: »Sie tut mir so unendlich leid! Sie war doch noch so klein. Das ist nicht fair!« Dann richtete sie sich auf. »Wir müssen einfach herausfinden, was genau damals passiert ist!« Die beiden anderen nickten zustimmend und lasen dann weiter. Kurze Zeit später unterbrach Hendrik das Schweigen mit einem Pfiff durch die Zähne.
»Hier ist eine Todesanzeige von einer Emelie, geboren am 25. Mai 1865 und gestorben am 24. Dezember 1870. Dann steht noch darunter: In Liebe dein Vater und dein Bruder.« Sabrina und Hanna sahen sich lange an. Hendrik blickte aufmerksam von einer zu anderen.
»Was ist los? Habt ihr mich verstanden?« Die Mädchen nickten kaum merklich.
»Weißt du«, erklärte Hanna, „am fünfundzwanzigsten Mai ist Sabrinas Geburtstag! Das ist schon ein merkwürdiger Zufall!«
Ihr Blick fiel auf den Adventskalender, der immer noch auf dem Bett lag. »Was war eigentlich heute für ein Hinweis drin?«
»Oh, das habe ich ja ganz vergessen.« Sabrina nahm den Kalender und öffnete bedächtig die nächste Tür. Eine kleine Kirche, von einem Friedhof umgeben!
Sabrina starrte auf das Bildchen, als sich plötzlich das Kirchenportal öffnete und eine Gruppe von schwarz gekleideten Leuten langsam auf eine Grube zuging. In der Mitte trugen vier Männer einen kleinen Sarg. Direkt dahinter befanden sich der Pfarrer und ein großer, blonder Mann mit einem Baby auf dem Arm. Mit schwerem Schritt, so als ob es ihn Mühe kostete überhaupt zu gehen, begleitete er den Sarg. Sabrina befand sich mitten unter den Trauergästen und beobachtete alles. Als die Beerdigung vorbei war und Ruhe einkehrte, trat sie an das frische Grab und las die Worte auf den niedergelegten Kränzen. Plötzlich bemerkte sie, wie jemand sie am Arm rüttelte und ihren Namen rief. Erstaunt sah sie sich um und blickte in die angstvollen Gesichter von Hanna und Hendrik. Hanna hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, während Hendrik einfach nur ihre eiskalte Hand hielt.
»Was war los?«, flüsterte er, »Du hast uns erschreckt. Wo warst du?«
Sabrina schüttelte sich und erzählte langsam, was sie gesehen hatte. Angestrengt dachte sie nach.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Worte auf dem Kranz standen.«
»Das macht doch nichts!« Hanna wollte ihre Freundin trösten.
»Doch, macht es schon. Ich habe das Gefühl, als ob es sehr wichtig sei!« Unglücklich saß Sabrina auf dem Bett. Da stand Hendrik auf und zog sie hoch. Er hielt ihre Hand übrigens immer noch in der seinen, wie Hanna mit leichtem Missfallen bemerkte.
»Dann werden wir jetzt dem Friedhof einen Besuch abstatten und das Grab suchen.« Hanna sah ihn zweifelnd an.
»Du weißt doch nicht einmal auf welchem Friedhof wir suchen müssen.« Ein überlegenes Lächeln umspielte seine Lippen, als er antwortete:
»Das ist doch ganz einfach. Wir sind hier in Bayern. Da sind die meisten Leute katholisch. Also brauchen wir eine katholische Kirche mit einem Friedhof.«
»Angeber«, murmelte Hanna, musste ihm jedoch recht geben.
Die drei zogen sich an und stiefelten los.
Nach nur fünfzehn Minuten erreichten sie die kleine katholische Kirche. Natürlich gab es auch noch eine große, mit wesentlich mehr Platz, aber die war erst vierzig Jahre alt und hatte außerdem keinen Friedhof. Die Mädchen legten ein zügiges Tempo vor. Hendrik stöhnte.
»Müsst ihr so rennen?« Erstaunt sahen sich Sabrina und Hanna an.
»Ich war heute schon joggen. Alles im Sinne der guten Sache!«
Sabrina legte den Kopf schief. »Ich glaube, das musst du uns erklären.«
»Ihr erinnert euch an den Typ von gestern? Na, der gammelte heute schon wieder vor dem Laden herum. Da habe ich gedacht, ich ärgere ihn ein bisschen und bin zum Joggen gegangen. Er ist auch wirklich hinterher gelaufen, zumindest eine Zeit lang, dann hat er aufgegeben.« Hendrik grinste. »Deshalb«, fügte er kläglich hinzu, »habe ich jetzt einen furchtbaren Muskelkater und wäre dankbar, wenn ihr das Tempo etwas drosseln würdet.«
Jetzt grinsten die beiden Mädchen. Doch als Hendrik weiter redete, verging ihnen die gute Laune. »Ich habe übrigens meinen Onkel gefragt, ob ihm der junge Mann vor dem Laden bekannt vorkommt.«
»Und?«, riefen die Freundinnen wie aus einem Munde. Hendrik machte es spannend und wartete noch einen kurzen Augenblick mit der Antwort, bevor er herausplatzte: »Er meint, es könnte Marberg Junior sein!« Verblüfft blickten die Mädchen ihn an.
„Warum denn das?«, fragte Hanna, „Was will der denn?« Sabrina sah die beiden an und antwortete ernst:
»Na, ganz einfach! Den Vertrag! Er hofft, dass wir den Vertrag nicht finden. Sollten wir ihn jedoch wider Erwarten entdecken, so wäre sein Sohn zur Stelle, um ihn zu entwenden.«
Unbemerkt hatten sie den Friedhof erreicht und trennten sich, um effektiver suchen zu können. Schweigend wanderten sie zwischen den Gräbern umher, entzifferten fast verwitterte Grabinschriften und gingen enttäuscht weiter, wenn das gesuchte wieder nicht darunter war. Als sie die Suche schon fast aufgeben wollten, erblickte Sabrina das kleine Mädchen. Es stand nahe an der Friedhofsmauer, nicht weit entfernt von dem Tor, durch welches sie den Friedhof betreten hatten und winkte ihr zu. Hendrik und Hanna bemerkten den Geist ebenfalls und jeder steuerte aus einer anderen Richtung auf ihn zu. Hanna erreichte die Stelle zuerst und rief so laut ihre beiden Freunde, dass eine alte Frau missbilligend den Kopf schüttelte und irgendetwas vor sich hin schimpfte. Doch Hanna war zu aufgeregt um es zu bemerken.
»Hier, das muss es sein. Emelie Baltasar, die Daten stimmen.« Sabrina entzifferte nun auch die anderen Namen.
»Es ist ein Familiengrab. Da liegt noch eine Katharina Baltasar, gestorben am 6.Dezember 1870, ein Hendrik Baltasar, gestorben 1925 und ein Nikolaus Baltasar, geboren am 6. Dezember 1870 und gestorben 1930.« Sabrina faltete die Hände und sagte leise: »Das ist ja schrecklich, das heißt doch, dass die Mutter bei der Geburt ihres Sohnes gestorben ist. Wie traurig!« Vor lauter Mitgefühl stiegen ihr die Tränen in die Augen. Hendrik dachte laut nach.
»Das bedeutet weiter, dass das kleine Mädchen Emelie hieß. Ihren Geist haben wir ja gesehen. Und ihr Bruder hat dann Klara geheiratet, meine Ururgroßmutter. Wow!«
»Stellt sich nun noch die Frage: Wie ist Emelie gestorben und wo ist dieser blöde Vertrag?« Hendrik grinste Hanna frech an.
»Genau genommen sind das zwei Fragen, aber du hast recht.«
Während die drei Freunde noch weiter herumrätselten, ertönte eine Glocke. Erstaunt horchte Hendrik auf.
»Was ist denn das für ein Gebimmel?«
Sabrina zog eine Augenbraue hoch. »Du warst noch nicht oft auf einem Friedhof, oder? Die Glocke teilt den Besuchern mit, dass in einer Viertelstunde die Tore geschlossen werden. Aber wir sollten uns sowieso auf den Rückweg machen.« Sie verließen den Friedhof und gingen heim.
18. Dezember
Vierter Advent! Sabrina lag im Bett und starrte an die Decke. Es war zum Verrücktwerden! Sobald sie ein Rätsel gelöst hatten, stellte sich eine neue Frage. Und sie hatten immer noch keinen blassen Schimmer, wo sie den Vertrag suchen sollten. Vielleicht versteckte sich ja heute der entscheidende Hinweis im Kalender. Sie holte den Adventskalender und öffnete ein weiteres Türchen. Ein Stern! Waren das in der Mitte nicht irgendwelche Punkte? Sie konnte es nicht genau erkennen. Sie stöhnte - noch ein Rätsel! Na im Bett würde sie es auf keinen Fall lösen. Also stand sie auf, zog sich eine Leggings und ein T-Shirt an und hüpfte, wie immer viel zu schnell, die Treppe in Richtung Küche hinunter.
Ihre Eltern saßen gerade beim Frühstück.
»Heute um siebzehn Uhr findet in der Kirche ein Adventssingen statt. Deine Cousine Susanna singt im Kirchenchor, und wir werden hingehen und es uns anhören. Gehst du mit?«, fragte ihre Mutter. Sabrina überlegte. Eigentlich wollte sie sich ja mit Hendrik und Hanna treffen, andererseits mochte sie ihre Cousine und das Adventssingen in der Kirche gefiel ihr meistens ganz gut. Sie nickte. Vielleicht würden ihre Freunde ja mitkommen.
»Ich treffe mich nachher mit Hanna und mit noch jemandem. Hättet ihr etwas dagegen, wenn sie auch mitkämen?« Ihre Eltern wunderten sich zwar, hatten aber selbstverständlich nichts dagegen. Sabrina lieh sich von ihrem Vater eine Lupe und betrachtete den Stern erneut. Doch leider konnte sie noch immer nichts Genaues erkennen.
Dann würde sie jetzt eben bei Hanna und Hendrik anrufen. Hanna war zwar daheim, hatte jedoch keine Zeit, versprach aber zum Adventssingen in die Kirche zu kommen. Anschließend versuchte sie es bei Hendrik, doch nur der Anrufbeantworter meldete sich. Sie mochte diese Dinger überhaupt nicht, sprach aber trotzdem darauf.
Als sie es sich nachmittags gerade bei Plätzchen und Punsch mit ihren Eltern im Wohnzimmer gemütlich machte, klingelte es an der Haustüre. Sabrina sprang auf und sah nach. Draußen stand Hendrik.
»Ich habe den Anrufbeantworter abgehört und gedacht, ich schaue mal vorbei. Wenn es dir recht ist, würde ich auch gerne zum Adventssingen mitgehen. Meine Eltern sind immer so viel unterwegs, dass dafür keine Zeit bleibt“, erklärte er verlegen.
»Eine Sekunde«, bat Sabrina, lehnte die Türe an und sauste ins Wohnzimmer.
»Hendrik würde nachher auch gerne mitkommen, ist aber jetzt schon da. Was dagegen, wenn er jetzt schon dableibt?«
Sabrinas Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte ihn sowieso schon einmal kennenlernen. Er kann mit uns Plätzchen essen, wenn er möchte«, fügte sie hinzu.
Sabrina eilte zurück und bat ihn herein. Er zog seine Schuhe und die Jacke aus und betrat etwas schüchtern, zusammen mit Sabrina das Zimmer. Sabrina übernahm die Vorstellung und dann aßen sie Plätzchen und tranken Kinderpunsch. Anschließend spielten sie noch alle gemeinsam ein Wissensspiel und machten sich dann um halb fünf fertig für das Adventssingen.
In der Kirche trafen sie auch Hanna und deren Familie. Sie setzten sich in eine der vorderen Reihen und lauschten dem Gesang des Chores und der schönen, tiefen Stimme des Chorleiters, der zwischendurch eine Geschichte vorlas. Sabrina betrachtete die Decke des Kirchenschiffes. Zum ersten Mal fielen ihr dort die Verzierungen, in Form von kleinen Sternen, auf. Als sie eine Weile hochblickte, war es ihr, als ob einer dieser Sterne zu blinken begann. Verwundert stupste sie Hendrik an, der neben ihr saß.
»Schau mal nach oben!«, flüsterte sie aufgeregt. Hendrik tat wie ihm geheißen und wusste sofort, was Sabrina meinte. Doch nun blinkte auch noch ein zweiter und ein dritter! Es wurden immer mehr Sterne. Sechs Sterne leuchteten nun insgesamt.
»Warum gerade sechs?«, wisperte sie Hendrik zu. Der zuckte nur mit den Schultern.
»Das weiß ich auch nicht!«
»Psst!« Sabrinas Mutter blickte sie streng an. Zwei gemeinsame Weihnachtslieder, alle durften mitsingen, beendeten das diesjährige Adventssingen.
Sabrina und Hendrik blieben zunächst sitzen, um auf Hanna zu warten, als Susanna auf sie zukam.
»Hallo Cousinchen!«, rief Susanna und betrachtete Hendrik neugierig. »Oh, du hast Besuch dabei!«
»Das ist Hendrik. Er verbringt einen Teil seiner Ferien bei seinem Onkel«, erklärte Sabrina.
»Hat es euch gefallen?«
Sabrina und Hendrik nickten. »Auch wenn so mancher falscher Ton dabei war«, grinste Sabrina ihre Cousine frech an. Susanna drohte lachend mit dem Finger.
»Nur noch sechs Tage bis Weihnachten! Bist du dir sicher, dass das Christkind nicht vorbeifliegt? Na dann tschüss, bis zum Heiligen Abend! Da sehen wir uns bestimmt noch einmal in der Kirche?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab und rauschte davon. Grinsend drehte sich Hendrik zu Sabrina.
»Wow! Ist die immer so?«
»Meistens! Ah, schau. Da ist Hanna. Komm lass uns gehen!« Sie gingen auf Hanna zu und erzählten von den blinkenden Sternen. Enttäuschung zeigte sich auf Hannas Gesicht, weil sie dies nicht bemerkt hatte. Sabrina runzelte nachdenklich die Stirn.
»Was überlegst du«, wollte ihre Freundin wissen.
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Susanna hat gerade irgendetwas gesagt, was wichtig sein könnte. Aber es fällt mir nicht ein.«
Die drei verließen die Kirche und traten gemeinsam den Heimweg an. Ihre Familien gingen voraus und sie ließen sich Zeit. Sie trödelten langsam hinterher, um sich möglichst lange unterhalten zu können, und bald gerieten die anderen außer Sichtweite. Eigentlich war es für Hendrik ein Umweg, aber er bestand darauf, die Mädchen nach Hause zu begleiten. Als erstes gelangten sie zu Hannas Haus und Sabrina verabredete sich wie immer vor dem Unterricht mit ihr.
»Du kannst ruhig zurückgehen«, meinte Sabrina, „Ich schaffe das kurze Stück auch alleine.«
»Kann schon sein«, brummte Hendrik, »ich gehe aber trotzdem mit!« Wenn sie ehrlich sein sollte, war sie ganz froh, dass sie Begleitung hatte, aber das würde sie natürlich nie zugeben. Sie bogen gerade in Sabrinas Straße ein, als es ihr plötzlich einfiel.
»Jetzt weiß ich es wieder«, stieß sie aufgeregt hervor. Verwirrt sah Hendrik sie an. »Die Sterne! Es waren sechs Sterne die blinkten und Susanna sagte, dass es noch sechs Tage bis Weihnachten seien. Das bedeutet bestimmt, dass uns nur noch so lange Zeit bleibt, um hinter das Geheimnis des Adventskalenders zu kommen“, erläuterte Sabrina ungeduldig. Hendrik dachte kurz darüber nach und stimmte ihr dann zu.
»Gut möglich! Dann müssen wir uns wohl ein bisschen anstrengen. Also, dann bis morgen!« Er stapfte davon, drehte sich jedoch noch einmal kurz um und winkte ihr zu.
Verschlafen blinzelte Sabrina, als der Wecker sie morgens aus dem Schlaf klingelte. Trotzdem sprang sie schnell aus dem Bett. Neugierig öffnete sie ein weiteres Türchen und hielt vor Überraschung kurz die Luft an. Ein Nikolaus! Das musste ein Irrtum sein. Nikolaustag war doch am sechsten Dezember. Sie schüttelte den Kopf. Nein, bisher geschah nichts ohne Sinn, also meinte der Kalender wahrscheinlich nicht den richtigen Nikolaus. Sie musste kichern. Der richtige Nikolaus, wie sich das anhörte! Die Nikoläuse, die so in der Stadt herumliefen, konnten getrost als unecht bezeichnet werden. Das lag schon an der großen Anzahl dieser rot gekleideten Gestalten, die man in der Vorweihnachtszeit überall sah. Wenn überhaupt, dann gab es ja nur einen Nikolaus. Sie konnte stolz auf sich sein. Naja, ein bisschen wenigstens, denn sie wusste ja trotzdem nicht, wer gemeint war. Wieder musste sie sich in Geduld üben, obwohl ihr das doch so schwer fiel. Sie beeilte sich, um möglichst noch vor der Schule mit Hanna reden zu können und ihr Hendriks Stammbaum zu zeigen.
Spontan hatte ihre Freundin auch keine zündende Idee, um welchen Nikolaus es sich handeln könnte. Sie betraten tuschelnd das Klassenzimmer. Als der Schulgong das Ende des heutigen Unterrichts bekannt gab, stürmten sie aus dem Schulhaus und flitzten zum Schreibwarenladen. Hendrik wartete bereits gespannt auf die beiden. Sie verzogen sich in Hendriks Zimmer und setzten sich.
»Weißt du jetzt, wie Klaras Mann hieß?«, wollte Hanna wissen. Hendrik schaute so betrübt, dass die Mädchen lachen mussten.
»Keine Bange, das finden wir schon noch heraus!« Sabrina war zuversichtlich. Plötzlich strahlte sie. »Vielleicht geht es gar nicht um den Namen, sondern um das Datum. Wäre doch möglich, dass irgendetwas am sechsten Dezember geschehen ist, oder?« Bewundernd schaute Hanna ihre Freundin an.
»Kluges Köpfchen«, lobte sie und meinte dann: »Lasst uns mal überlegen! Wer könnte uns weiterhelfen?«
Alle dachten eine Weile nach, bis Sabrina schließlich das Schweigen brach.
»Naja, so viele Möglichkeiten gibt es ja nicht. Hendriks Eltern, Herr Baltasar und Frau Kroll, ach und nicht zu vergessen die Familie Marberg.«
Erstaunt sah Hendrik Sabrina an.
»Was haben denn die Marbergs damit zu tun, außer dass denen der Laden hier bald gehört?«
»Eben! Es ist doch merkwürdig, dass sie gerade jetzt den Laden haben wollen. Wenn dieser Vertrag schon so lange verschwunden ist, er aber trotzdem immer in Familienbesitz blieb, muss doch etwas passiert sein, das erklärt, warum Herr Baltasar ausgerechnet jetzt ausziehen muss!«
»Hanna hat recht!«, warf Hendrik ein.
»Recht?«, wollte Sabrina verwirrt wissen, »Mit was denn?« Hendrik grinste sie freundlich an.
»Als sie kluges Köpfchen sagte!« Dann setzte er noch hinzu, »Kommt wir fragen mal, ob wir Onkel Kasimirs Computer benutzen dürfen!« Sie durften und Hendrik gab einfach ‚Marberg’ in die Suchmaschine ein. Sekunden später hatten sie tausende von Hinweisen. Sie stöhnten.
Hanna sprach aus, was alle dachten:
»Die können wir unmöglich alle lesen!«
»Stimmt und deswegen müssen wir die Suche eingrenzen. Wartet kurz, ich komme sofort wieder.« Hendrik lief aus dem Zimmer und kam wirklich gleich darauf zurück. »Er heißt Fritz mit Vornamen, Fritz Marberg. Jetzt versuchen wir es nochmals.« Er tippte also beide Namen und noch die Stadt ein und wieder erschienen Sekunden später viele Hinweise. Allerdings nicht ganz so viele wie zuvor. »Fangen wir einfach mit dem ersten an.«
Der erste Hinweis informierte über das Geschäftsimperium der Familie Marberg und brachte sie nicht weiter, außer dass ihnen klar wurde, dass hinter dieser Familie richtig viel Geld steckte.
»Die sind doch schon reich!«, rief Hanna empört, »Die brauchen den Laden deines Onkels überhaupt nicht!« Sabrina hatte inzwischen weitergelesen. Plötzlich deutete sie auf eine Stelle auf dem Bildschirm.
»Da! Klick das mal an!« Hendrik tat wie ihm geheißen, und es erschien ein Auszug aus dem Sterberegister der Stadt, den man auch im Schaukasten beim Rathaus nachlesen konnte.
»Vor zwei Wochen ist ein Doktor Fritz Marberg gestorben, geboren am zwanzigsten Dezember 1910. Bringt uns das weiter?« Er sah die Mädchen zweifelnd an.
Sabrina nickte. »Doch! Wenn der alte Marberg dafür gesorgt hat, dass dieses Haus hier im Besitz der Familie Baltasar auch ohne schriftlichen Vertrag bleibt, dann macht das Sinn.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich muss leider nach Hause. Meine Mutter kommt bald heim und ich habe keine Lust auf lange Erklärungen.«
»Geht mir genauso!«, nickte Hanna.
Sie verabschiedeten sich von Hendrik und verließen das Haus. Draußen schlug Sabrina sich vor die Stirn.
»Mist, ich wollte Hendrik und seinem Onkel doch eine Einladung für das Weihnachtskonzert heute Abend geben. Warte! Ich laufe schnell zurück. Bin gleich wieder da!« Schnell lief sie zurück und drückte Herrn Baltasar die Einladung in die Hand, dann gingen die beiden endgültig nach Hause.
16. Dezember
Als Sabrina heute aufwachte und auf den Wecker sah, freute sie sich. Sie konnte noch ein paar Minuten liegen bleiben, denn alle Mitwirkenden am gestrigen Weihnachtskonzert, welches nebenbei bemerkt, wirklich gut gelungen war, mussten erst zur zweiten Schulstunde erscheinen.
Hendrik und sein Onkel hatten die Einladung angenommen. Schwer beeindruckt betonte Herr Baltasar immer wieder, dass er gar nicht gewusst habe, wie viele musikalisch begabte Kinder diese Schule vorweisen konnte. Außerdem sei es erfreulich, wenn sich junge Leute noch für andere Dinge, außer Computerspiele und Handys interessierten. Genüsslich drehte sie sich im Bett um, zog die Decke bis unter das Kinn und döste vor sich hin.
Da fiel ihr der Adventskalender wieder ein. Also stand sie auf und öffnete das nächste Türchen. Enttäuscht betrachtete sie das Bildchen. Eine Zeitung! Sollte sie jetzt Zeitung lesen? Sie seufzte! Was hatte das denn nun zu bedeuten? Sie sah sich die winzige Zeitung noch einmal genauer an. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob sie selbst die Zeitung in der Hand hielt und sie läse. Als sie das Datum oben am Zeitungsrand entzifferte, wurde sie blass. Es handelte sich um die Ausgabe des Morgenblattes vom vierundzwanzigsten Dezember 1864. Gerade als sie die Artikel lesen wollte, kam ihre Mutter ins Kinderzimmer und erinnerte sie an die Schule. Sabrina starrte auf den Kalender in ihren Händen.
»Kannst du nicht anklopfen?«, blaffte sie wütend. Jetzt wurde auch ihre Mutter sauer.
»Dein Ton gefällt mir überhaupt nicht, junges Fräulein. Wenn du weiterhin so unverschämt bist, ist es wohl besser, du bleibst heute Nachmittag einmal zu Hause.« Sabrina erschrak. Das ging doch nicht. Sie setzte eine zerknirschte Miene auf.
»Entschuldige bitte! Das ist mir so herausgerutscht. Ich wollte das eigentlich gar nicht laut sagen!« Ihre Mutter blickte sie mit diesem besonderen tadelnden Mutterblick an.
»Soll heißen, normalerweise denkst du dir solche Frechheiten nur?« Verlegen nickte Sabrina und starrte auf den Boden, bemerkte aber erfreut, dass ihre Mutter schon wieder lachen konnte.
»Gut, Entschuldigung angenommen! Du müsstest jetzt trotzdem in die Schule!« Sabrina nickte und als ihre Mutter das Zimmer verlassen hatte, zog sie sich rasch an.
Nach einem schnellen Frühstück eilte sie in die Schule. Erfreut stellte sie fest, dass es noch nicht gegongt hatte. Sie suchte Hanna und erzählte ihr sogleich von der seltsamen Zeitung.
Aufgeregt sagte Hanna:
»Jetzt wissen wir jedenfalls ganz sicher, dass irgendetwas am Heiligen Abend passiert ist. Und die genaue Jahreszahl kennen wir auch.«
In der Pause standen sie vor dem Eingang und unterhielten sich.
»Wartest du eigentlich auf jemanden?«, wollte Hanna wissen. »Ständig schaust du auf die Uhr und siehst so suchend herum!«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Nein, auf wen sollte ich denn warten? Und so eine Uhr ist nützlich, denn sie sagt einem, wie lange die Pause noch dauert.«
Hanna zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Bist du jetzt sauer?«
»Wer ist sauer«, fragte in diesem Augenblick jemand. Hinter ihnen stand Hendrik und grinste die Mädchen freundlich an.
»Was machst du denn hier?«, entfuhr es Hanna.
»Na, das ist aber eine freundliche Begrüßung«, lachte Hendrik und fügte hinzu: »Ich kam zufällig vorbei und ...! Ach Quatsch! Ich war neugierig und wollte wissen, was hinter dem nächsten Türchen ist.«
Hanna wollte gerade antworten, da sprudelte es auch schon aus Sabrina heraus. Gespannt sahen ihn beide Mädchen an und warteten auf einen Kommentar von Hendrik.
»Habt ihr heute Nachmittag schon etwas vor?«
»Um achtzehn Uhr muss ich ins Training, aber bis dahin habe ich Zeit und du Hanna?«
»Gut, dann treffen wir uns um vierzehn Uhr an der Bushaltestelle!« Jetzt waren die Mädchen natürlich neugierig.
»Wo willst du hin?«
Hendrik grinste schelmisch. »Das ist doch ganz logisch: Ins Archiv des Morgenblattes!“
Hanna sah ihn zweifelnd an. »Und da lassen die uns so einfach rein? Glaub’ ich nicht!«
»Wart`s ab! Also, was ist, kommt ihr?« Die Freundinnen sahen sich an und nickten dann eifrig.
»Natürlich!« In diesem Augenblick ertönte der Schulgong und verkündete das Ende der Pause. Die Mädchen verabschiedeten sich schnell und liefen in ihr Klassenzimmer.
Pünktlich um vierzehn Uhr warteten sie an der Bushaltestelle. Als Hendrik kam, wirkte er nachdenklich und gar nicht so lustig wie sonst. Sie stiegen in den Bus und suchten sich einen Sitzplatz. Irgendwann stupste Sabrina ihn an.
»He, nun red` schon. Was ist los mit dir?« Hendrik senkte die Stimme, so dass sie sich zu ihm hinüber beugen mussten, um ihn zu verstehen.
»Seht ihr den Typen dort drüben?« Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er zu einem jungen Mann, der gelangweilt aus dem Fenster sah.
»Ja, und?«
»Der stand heute schon vor dem Schreibwarenladen. Als ich euch in der Pause kurz besucht habe, war er zufällig vor der Schule. Und jetzt sitzt er zufällig im selben Bus? Das sind mir ein paar Zufälle zuviel!«
»Aber was will der von dir? Kennst du ihn?« Hendrik schüttelte den Kopf. »Auf alle Fälle müssen wir versuchen ihn loszuwerden. Ich weiß nur noch nicht wie.«
»Ganz einfach«, flüsterte Hanna und lächelte triumphierend: »Wir trennen uns! Er kann sich ja nicht teilen!« Bewundernd blickte Sabrina ihre Freundin an.
»Genial! Ich weiß auch schon wo. Wir fahren bis zum Marienplatz, also eine Station weiter als wir eigentlich müssten. Jeder geht in ein anderes Geschäft. Verfolgt der Typ dann immer noch einen von uns, gehen die beiden anderen zur Zeitung, während der Typ einen Stadtbummel machen darf.« Grinsend sah sie ihre Freunde an. Genauso machten sie es.
Der junge Mann hängte sich weiterhin an Hendrik, also trafen sich die Mädchen und eilten zur Zeitung. Hendriks Mutter arbeitete in Hamburg als Lektorin und Hendrik hatte einen Besucherausweis. Da dort nur H. Baltasar stand und niemand wusste, dass das ‚H’ für Hendrik und nicht für Hanna stand, kamen sie ohne Probleme hinein. Sie ließen sich die entsprechenden Artikel aus dem Archiv heraussuchen und kopierten sie. Dann verabschiedeten sie sich und stießen vor dem Rathauscafe wieder mit Hendrik zusammen.
»Ich lade euch zu einer Heißen Schokolade ein«, erklärte dieser großzügig.
»Aber«, begann Sabrina, als Hendrik sie unterbrach. »Mein Onkel hat mir Geld mitgegeben, falls ich unterwegs Hunger bekomme.«
»Gut, dann nehmen wir die Einladung an, oder?« Fragend sah sie zu Hanna. Diese nickte und sie gingen in das Cafe hinein. Ihr Verfolger stand derweil frierend in der Kälte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er ziemlich schlechte Laune. Als sie ausgetrunken und bezahlt hatten, bemerkte Hanna erschrocken, wie spät es schon war.
»Mist! Ich muss in zwanzig Minuten daheim sein. Das schaffe ich nie!«
Sie liefen zur Bushaltestelle. Verärgert stellten sie fest, dass der nächste Bus erst in fünfzehn Minuten halten würde. Ratlos standen sie in der Kälte, als ein Taxi neben ihnen hielt.
Die Kinder staunten, als sie bemerkten, dass darin niemand anderes als Frau Kroll saß.
»Ich hatte einen Termin in der Stadt«, erklärte sie, »und jetzt fahre ich heim. Wollt ihr eventuell mitfahren? Das Taxi muss ich sowieso bezahlen, ob ich nun alleine bin oder noch jemanden mitnehme.« Erfreut stiegen sie rasch ein und ließen sich nach Hause fahren. Hendrik drehte sich noch einmal um und stellte grinsend fest, dass ihr Verfolger ziemlich wütend an der Haltestelle stand.
Bevor sie einer nach dem anderen ausstiegen, bedankten sie sich bei Frau Kroll und verabredeten sich noch für den nächsten Tag. Zuletzt saß nur noch Frau Kroll in dem Taxi und ließ sich ebenfalls nach Hause bringen.
17. Dezember
Endlich Wochenende! Sabrina räkelte sich genüsslich im Bett, als ihr die Kopien einfielen, die sie noch gar nicht richtig durchgelesen hatten. Nein, das wäre unfair. Sie würde auf die beiden anderen warten. Aber das nächste Türchen konnte sie ja schon öffnen. Gespannt kletterte sie aus dem Bett und holte sich den Kalender. Als sie gerade das Türchen öffnen wollte, wurde sie zum Frühstück gerufen. Seufzend legte sie den Kalender beiseite, schlüpfte schnell in ihre Klamotten und stürmte die Treppe hinunter.
Nach dem Frühstück, eigentlich eher ein Brunch, denn es war schon elf Uhr, klingelten Hanna und Hendrik. Sabrina begrüßte ihre Freunde und sie zogen sich in Sabrinas Zimmer zurück. Neugierig begannen sie die kopierten Artikel zu lesen.
»Hört euch das an!«, rief Sabrina plötzlich aufgeregt, »Hier ist ein kleiner Artikel über einen Unfall. Am Mittag des vierundzwanzigsten Dezember kam die erst fünfjährige Tochter eines bekannten Mitgliedes des Stadtrates zu Tode. Das Mädchen stürzte über das Stiegengeländer. Der sofort herbei gerufene Medizinalrat konnte nur noch das traurige Ableben bestätigen. Die Familie befindet sich in Trauer und besitzt unser tief empfundenes Mitgefühl.«
Sabrina blickte Hanna und Hendrik an. »Jetzt wissen wir, dass das kleine Mädchen mit nur fünf Jahren gestorben ist.« Traurig fügte sie leise hinzu: »Sie tut mir so unendlich leid! Sie war doch noch so klein. Das ist nicht fair!« Dann richtete sie sich auf. »Wir müssen einfach herausfinden, was genau damals passiert ist!« Die beiden anderen nickten zustimmend und lasen dann weiter. Kurze Zeit später unterbrach Hendrik das Schweigen mit einem Pfiff durch die Zähne.
»Hier ist eine Todesanzeige von einer Emelie, geboren am 25. Mai 1865 und gestorben am 24. Dezember 1870. Dann steht noch darunter: In Liebe dein Vater und dein Bruder.« Sabrina und Hanna sahen sich lange an. Hendrik blickte aufmerksam von einer zu anderen.
»Was ist los? Habt ihr mich verstanden?« Die Mädchen nickten kaum merklich.
»Weißt du«, erklärte Hanna, „am fünfundzwanzigsten Mai ist Sabrinas Geburtstag! Das ist schon ein merkwürdiger Zufall!«
Ihr Blick fiel auf den Adventskalender, der immer noch auf dem Bett lag. »Was war eigentlich heute für ein Hinweis drin?«
»Oh, das habe ich ja ganz vergessen.« Sabrina nahm den Kalender und öffnete bedächtig die nächste Tür. Eine kleine Kirche, von einem Friedhof umgeben!
Sabrina starrte auf das Bildchen, als sich plötzlich das Kirchenportal öffnete und eine Gruppe von schwarz gekleideten Leuten langsam auf eine Grube zuging. In der Mitte trugen vier Männer einen kleinen Sarg. Direkt dahinter befanden sich der Pfarrer und ein großer, blonder Mann mit einem Baby auf dem Arm. Mit schwerem Schritt, so als ob es ihn Mühe kostete überhaupt zu gehen, begleitete er den Sarg. Sabrina befand sich mitten unter den Trauergästen und beobachtete alles. Als die Beerdigung vorbei war und Ruhe einkehrte, trat sie an das frische Grab und las die Worte auf den niedergelegten Kränzen. Plötzlich bemerkte sie, wie jemand sie am Arm rüttelte und ihren Namen rief. Erstaunt sah sie sich um und blickte in die angstvollen Gesichter von Hanna und Hendrik. Hanna hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, während Hendrik einfach nur ihre eiskalte Hand hielt.
»Was war los?«, flüsterte er, »Du hast uns erschreckt. Wo warst du?«
Sabrina schüttelte sich und erzählte langsam, was sie gesehen hatte. Angestrengt dachte sie nach.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Worte auf dem Kranz standen.«
»Das macht doch nichts!« Hanna wollte ihre Freundin trösten.
»Doch, macht es schon. Ich habe das Gefühl, als ob es sehr wichtig sei!« Unglücklich saß Sabrina auf dem Bett. Da stand Hendrik auf und zog sie hoch. Er hielt ihre Hand übrigens immer noch in der seinen, wie Hanna mit leichtem Missfallen bemerkte.
»Dann werden wir jetzt dem Friedhof einen Besuch abstatten und das Grab suchen.« Hanna sah ihn zweifelnd an.
»Du weißt doch nicht einmal auf welchem Friedhof wir suchen müssen.« Ein überlegenes Lächeln umspielte seine Lippen, als er antwortete:
»Das ist doch ganz einfach. Wir sind hier in Bayern. Da sind die meisten Leute katholisch. Also brauchen wir eine katholische Kirche mit einem Friedhof.«
»Angeber«, murmelte Hanna, musste ihm jedoch recht geben.
Die drei zogen sich an und stiefelten los.
Nach nur fünfzehn Minuten erreichten sie die kleine katholische Kirche. Natürlich gab es auch noch eine große, mit wesentlich mehr Platz, aber die war erst vierzig Jahre alt und hatte außerdem keinen Friedhof. Die Mädchen legten ein zügiges Tempo vor. Hendrik stöhnte.
»Müsst ihr so rennen?« Erstaunt sahen sich Sabrina und Hanna an.
»Ich war heute schon joggen. Alles im Sinne der guten Sache!«
Sabrina legte den Kopf schief. »Ich glaube, das musst du uns erklären.«
»Ihr erinnert euch an den Typ von gestern? Na, der gammelte heute schon wieder vor dem Laden herum. Da habe ich gedacht, ich ärgere ihn ein bisschen und bin zum Joggen gegangen. Er ist auch wirklich hinterher gelaufen, zumindest eine Zeit lang, dann hat er aufgegeben.« Hendrik grinste. »Deshalb«, fügte er kläglich hinzu, »habe ich jetzt einen furchtbaren Muskelkater und wäre dankbar, wenn ihr das Tempo etwas drosseln würdet.«
Jetzt grinsten die beiden Mädchen. Doch als Hendrik weiter redete, verging ihnen die gute Laune. »Ich habe übrigens meinen Onkel gefragt, ob ihm der junge Mann vor dem Laden bekannt vorkommt.«
»Und?«, riefen die Freundinnen wie aus einem Munde. Hendrik machte es spannend und wartete noch einen kurzen Augenblick mit der Antwort, bevor er herausplatzte: »Er meint, es könnte Marberg Junior sein!« Verblüfft blickten die Mädchen ihn an.
„Warum denn das?«, fragte Hanna, „Was will der denn?« Sabrina sah die beiden an und antwortete ernst:
»Na, ganz einfach! Den Vertrag! Er hofft, dass wir den Vertrag nicht finden. Sollten wir ihn jedoch wider Erwarten entdecken, so wäre sein Sohn zur Stelle, um ihn zu entwenden.«
Unbemerkt hatten sie den Friedhof erreicht und trennten sich, um effektiver suchen zu können. Schweigend wanderten sie zwischen den Gräbern umher, entzifferten fast verwitterte Grabinschriften und gingen enttäuscht weiter, wenn das gesuchte wieder nicht darunter war. Als sie die Suche schon fast aufgeben wollten, erblickte Sabrina das kleine Mädchen. Es stand nahe an der Friedhofsmauer, nicht weit entfernt von dem Tor, durch welches sie den Friedhof betreten hatten und winkte ihr zu. Hendrik und Hanna bemerkten den Geist ebenfalls und jeder steuerte aus einer anderen Richtung auf ihn zu. Hanna erreichte die Stelle zuerst und rief so laut ihre beiden Freunde, dass eine alte Frau missbilligend den Kopf schüttelte und irgendetwas vor sich hin schimpfte. Doch Hanna war zu aufgeregt um es zu bemerken.
»Hier, das muss es sein. Emelie Baltasar, die Daten stimmen.« Sabrina entzifferte nun auch die anderen Namen.
»Es ist ein Familiengrab. Da liegt noch eine Katharina Baltasar, gestorben am 6.Dezember 1870, ein Hendrik Baltasar, gestorben 1925 und ein Nikolaus Baltasar, geboren am 6. Dezember 1870 und gestorben 1930.« Sabrina faltete die Hände und sagte leise: »Das ist ja schrecklich, das heißt doch, dass die Mutter bei der Geburt ihres Sohnes gestorben ist. Wie traurig!« Vor lauter Mitgefühl stiegen ihr die Tränen in die Augen. Hendrik dachte laut nach.
»Das bedeutet weiter, dass das kleine Mädchen Emelie hieß. Ihren Geist haben wir ja gesehen. Und ihr Bruder hat dann Klara geheiratet, meine Ururgroßmutter. Wow!«
»Stellt sich nun noch die Frage: Wie ist Emelie gestorben und wo ist dieser blöde Vertrag?« Hendrik grinste Hanna frech an.
»Genau genommen sind das zwei Fragen, aber du hast recht.«
Während die drei Freunde noch weiter herumrätselten, ertönte eine Glocke. Erstaunt horchte Hendrik auf.
»Was ist denn das für ein Gebimmel?«
Sabrina zog eine Augenbraue hoch. »Du warst noch nicht oft auf einem Friedhof, oder? Die Glocke teilt den Besuchern mit, dass in einer Viertelstunde die Tore geschlossen werden. Aber wir sollten uns sowieso auf den Rückweg machen.« Sie verließen den Friedhof und gingen heim.
18. Dezember
Vierter Advent! Sabrina lag im Bett und starrte an die Decke. Es war zum Verrücktwerden! Sobald sie ein Rätsel gelöst hatten, stellte sich eine neue Frage. Und sie hatten immer noch keinen blassen Schimmer, wo sie den Vertrag suchen sollten. Vielleicht versteckte sich ja heute der entscheidende Hinweis im Kalender. Sie holte den Adventskalender und öffnete ein weiteres Türchen. Ein Stern! Waren das in der Mitte nicht irgendwelche Punkte? Sie konnte es nicht genau erkennen. Sie stöhnte - noch ein Rätsel! Na im Bett würde sie es auf keinen Fall lösen. Also stand sie auf, zog sich eine Leggings und ein T-Shirt an und hüpfte, wie immer viel zu schnell, die Treppe in Richtung Küche hinunter.
Ihre Eltern saßen gerade beim Frühstück.
»Heute um siebzehn Uhr findet in der Kirche ein Adventssingen statt. Deine Cousine Susanna singt im Kirchenchor, und wir werden hingehen und es uns anhören. Gehst du mit?«, fragte ihre Mutter. Sabrina überlegte. Eigentlich wollte sie sich ja mit Hendrik und Hanna treffen, andererseits mochte sie ihre Cousine und das Adventssingen in der Kirche gefiel ihr meistens ganz gut. Sie nickte. Vielleicht würden ihre Freunde ja mitkommen.
»Ich treffe mich nachher mit Hanna und mit noch jemandem. Hättet ihr etwas dagegen, wenn sie auch mitkämen?« Ihre Eltern wunderten sich zwar, hatten aber selbstverständlich nichts dagegen. Sabrina lieh sich von ihrem Vater eine Lupe und betrachtete den Stern erneut. Doch leider konnte sie noch immer nichts Genaues erkennen.
Dann würde sie jetzt eben bei Hanna und Hendrik anrufen. Hanna war zwar daheim, hatte jedoch keine Zeit, versprach aber zum Adventssingen in die Kirche zu kommen. Anschließend versuchte sie es bei Hendrik, doch nur der Anrufbeantworter meldete sich. Sie mochte diese Dinger überhaupt nicht, sprach aber trotzdem darauf.
Als sie es sich nachmittags gerade bei Plätzchen und Punsch mit ihren Eltern im Wohnzimmer gemütlich machte, klingelte es an der Haustüre. Sabrina sprang auf und sah nach. Draußen stand Hendrik.
»Ich habe den Anrufbeantworter abgehört und gedacht, ich schaue mal vorbei. Wenn es dir recht ist, würde ich auch gerne zum Adventssingen mitgehen. Meine Eltern sind immer so viel unterwegs, dass dafür keine Zeit bleibt“, erklärte er verlegen.
»Eine Sekunde«, bat Sabrina, lehnte die Türe an und sauste ins Wohnzimmer.
»Hendrik würde nachher auch gerne mitkommen, ist aber jetzt schon da. Was dagegen, wenn er jetzt schon dableibt?«
Sabrinas Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte ihn sowieso schon einmal kennenlernen. Er kann mit uns Plätzchen essen, wenn er möchte«, fügte sie hinzu.
Sabrina eilte zurück und bat ihn herein. Er zog seine Schuhe und die Jacke aus und betrat etwas schüchtern, zusammen mit Sabrina das Zimmer. Sabrina übernahm die Vorstellung und dann aßen sie Plätzchen und tranken Kinderpunsch. Anschließend spielten sie noch alle gemeinsam ein Wissensspiel und machten sich dann um halb fünf fertig für das Adventssingen.
In der Kirche trafen sie auch Hanna und deren Familie. Sie setzten sich in eine der vorderen Reihen und lauschten dem Gesang des Chores und der schönen, tiefen Stimme des Chorleiters, der zwischendurch eine Geschichte vorlas. Sabrina betrachtete die Decke des Kirchenschiffes. Zum ersten Mal fielen ihr dort die Verzierungen, in Form von kleinen Sternen, auf. Als sie eine Weile hochblickte, war es ihr, als ob einer dieser Sterne zu blinken begann. Verwundert stupste sie Hendrik an, der neben ihr saß.
»Schau mal nach oben!«, flüsterte sie aufgeregt. Hendrik tat wie ihm geheißen und wusste sofort, was Sabrina meinte. Doch nun blinkte auch noch ein zweiter und ein dritter! Es wurden immer mehr Sterne. Sechs Sterne leuchteten nun insgesamt.
»Warum gerade sechs?«, wisperte sie Hendrik zu. Der zuckte nur mit den Schultern.
»Das weiß ich auch nicht!«
»Psst!« Sabrinas Mutter blickte sie streng an. Zwei gemeinsame Weihnachtslieder, alle durften mitsingen, beendeten das diesjährige Adventssingen.
Sabrina und Hendrik blieben zunächst sitzen, um auf Hanna zu warten, als Susanna auf sie zukam.
»Hallo Cousinchen!«, rief Susanna und betrachtete Hendrik neugierig. »Oh, du hast Besuch dabei!«
»Das ist Hendrik. Er verbringt einen Teil seiner Ferien bei seinem Onkel«, erklärte Sabrina.
»Hat es euch gefallen?«
Sabrina und Hendrik nickten. »Auch wenn so mancher falscher Ton dabei war«, grinste Sabrina ihre Cousine frech an. Susanna drohte lachend mit dem Finger.
»Nur noch sechs Tage bis Weihnachten! Bist du dir sicher, dass das Christkind nicht vorbeifliegt? Na dann tschüss, bis zum Heiligen Abend! Da sehen wir uns bestimmt noch einmal in der Kirche?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab und rauschte davon. Grinsend drehte sich Hendrik zu Sabrina.
»Wow! Ist die immer so?«
»Meistens! Ah, schau. Da ist Hanna. Komm lass uns gehen!« Sie gingen auf Hanna zu und erzählten von den blinkenden Sternen. Enttäuschung zeigte sich auf Hannas Gesicht, weil sie dies nicht bemerkt hatte. Sabrina runzelte nachdenklich die Stirn.
»Was überlegst du«, wollte ihre Freundin wissen.
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Susanna hat gerade irgendetwas gesagt, was wichtig sein könnte. Aber es fällt mir nicht ein.«
Die drei verließen die Kirche und traten gemeinsam den Heimweg an. Ihre Familien gingen voraus und sie ließen sich Zeit. Sie trödelten langsam hinterher, um sich möglichst lange unterhalten zu können, und bald gerieten die anderen außer Sichtweite. Eigentlich war es für Hendrik ein Umweg, aber er bestand darauf, die Mädchen nach Hause zu begleiten. Als erstes gelangten sie zu Hannas Haus und Sabrina verabredete sich wie immer vor dem Unterricht mit ihr.
»Du kannst ruhig zurückgehen«, meinte Sabrina, „Ich schaffe das kurze Stück auch alleine.«
»Kann schon sein«, brummte Hendrik, »ich gehe aber trotzdem mit!« Wenn sie ehrlich sein sollte, war sie ganz froh, dass sie Begleitung hatte, aber das würde sie natürlich nie zugeben. Sie bogen gerade in Sabrinas Straße ein, als es ihr plötzlich einfiel.
»Jetzt weiß ich es wieder«, stieß sie aufgeregt hervor. Verwirrt sah Hendrik sie an. »Die Sterne! Es waren sechs Sterne die blinkten und Susanna sagte, dass es noch sechs Tage bis Weihnachten seien. Das bedeutet bestimmt, dass uns nur noch so lange Zeit bleibt, um hinter das Geheimnis des Adventskalenders zu kommen“, erläuterte Sabrina ungeduldig. Hendrik dachte kurz darüber nach und stimmte ihr dann zu.
»Gut möglich! Dann müssen wir uns wohl ein bisschen anstrengen. Also, dann bis morgen!« Er stapfte davon, drehte sich jedoch noch einmal kurz um und winkte ihr zu.