pol shebbel
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(Und die Geschichte eines abtrünnigen Priesters.)
Das Röhren eines Brüllaffen durchschnitt die Dunkelheit - der erste Vorbote eines neuen Morgens. Längst war der Mond untergegangen, im Osten begannen die Sterne zu verblassen. Und die verrückte Jagd, der Griff der Doppeleiche nach ein paar flüchtigen Kriegsgefangenen und einem Deserteur, war noch immer nicht zu Ende.
Nur für einen von ihnen. Der alte grauhaarige Workash Kal war inzwischen gestorben.
Andai hatte das Totengebet gesprochen, und Paril hatte einmal mehr gerätselt, woher der so viel aus dem Grünen Buch wusste. Mehr hatten sie nicht tun können, und seit ein paar Minuten waren sie wieder dabei, ihre Beine zur Bewegung in Richtung Osten zu zwingen. Um die Verfolgung schwieriger zu machen, hatten sie sich in zwei Gruppen geteilt; Paril fand sich zusammen mit Andai und Temon, dem verbrannten Gesicht. Falls sie durchkamen, würden sie sich an einem bestimmten Ort in der Nähe der Berge wieder treffen, den Temon und Shnoiw kannten.
Anfangs fühlte sich Paril mehr tot als lebendig - wie musste es erst den anderen gehen! - doch allmählich ging es etwas besser. Allerdings kamen sie schlecht vorwärts, denn die Vegetation war hier sehr dicht, und es waren kräftige Bäume, deren Wurzeln auf den Pyramidalstämmen verankert waren: Pinien, Lorbeerbäume, Wachsbuchen, Korkeichen; dies machte fast ständiges Klettern notwendig. Einmal stiessen sie auf einen Weg, widerstanden aber der Versuchung, auf ihm weiterzugehen. Man konnte auf Menschen treffen, und das war gefährlich.
Abgesehen von den notwendigen, kurzen Wortwechseln herrschte feindseliges Schweigen zwischen Paril und seinen erzwungenen Gefährten; Paril war wieder alleine mit seinen "schwarzen und entarteten" Gedanken, die sich grossenteils um eine quälende Frage drehten. Gab es für ihn noch einen Grund, hier mitzumachen, oder war dieser tot? Etwelche Gedanken, zahllose Alternativen zu seiner Zukunft kreisten in seinem Kopf, ohne je zu einem Ergebnis zu führen.
Nach einer Weile wurde das Unterholz plötzlich lichter, man kam freier zwischen den Pyramidalstämmen hindurch. Dies war kein Grund zum Aufatmen, denn es war offenkundig Menschenwerk. Und richtig stiessen sie wenig später auf Felder.
Sie hielten an. Temon spähte nach vorne, das Zwielicht zeichnete die rauhe Haut seines vernarbten Gesichtes wie die Oberfläche eines Felsen. "Ein Dorf", stellte er fest, "ob man da was zu Essen..."
"Auf keinen Fall!" unterbrach ihn Andai sofort. "Wir dürfen von niemandem gesehen werden. So weit weg von Menschen wie möglich..." Dann verstummte er plötzlich.
Und sie sahen, dass aus dem ihnen zugewandten Tor in der Dorfmauer eine Reihe bewaffneter Leute kam.
"Diskussion überflüssig", wollte Paril sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Die Meldeläufer der Doppeleiche waren schneller gewesen als sie; der Feind war, wie Paril in der Nacht schon gefürchtete hatte, wieder vor ihnen. Und sicher mit Flokaigrabs! Das hiess, die Jagd war bald zu Ende...
Minuten verstrichen, während denen sie reglos blieben. Die Dorfkrieger formierten sich zu einer Reihe und begannen, den Weg entlangzumarschieren - denselben Weg, auf den die Ausbrecher so schweren Herzens verzichtet hatten. In Kürze waren die Krieger zu Parils Linken im Wald verschwunden.
Die drei schauten sich an. Paril liess pfeifend die Luft ab. "Sie... sie wissen noch nicht, dass wir den Kreis durchbrochen haben..."
Andais rundes Gesicht verzog sich langsam zu dem bekannten breiten Grinsen. "Wahnsinn! Wir haben mehr Glück als Verstand. Los, weg hier!" Sie wandten sich nach rechts, vom Dorf weg, und stachen wieder in den Urwald.
Paril stand auf der anderen Seite und ruhte sich etwas aus, während er auf ihn wartete. "Ja ja, das ist schon möglich", antwortete er, ohne das Gesicht zu verziehen.
Andai blieb einen Moment auf dem Baumstamm sitzen und legte die Stirn in Falten. "Hmm... Paril ist dein Name, ja? Woher kenn ich dich bloss..." überlegte er und rieb sich das behaarte Kinn. Paril beobachtete ihn mit verschränkten Armen. "Dieser Name dürfte dir kaum geläufig sein", sagte er. "Aber vielleicht kennst du mich unter meinem zweiten Namen. Der lautet O'mîkal Shimrôm - Babygesicht."
"Babygesicht? Babygesicht..." Plötzlich erschien ein erkennendes Grinsen auf Andais Gesicht. "Aber ja! Mann... das war ganz am Anfang... Mann, ist das lange her! In diesem Kaff, wie hiess es noch... Hmm. So was, und jetzt treffen wir uns hier wieder... So 'n Zufall!" Er kam von Baumstamm herabgesprungen und war aufs höchste erfreut - und keineswegs gefasst auf die eiskalte Ruhe, mit der Paril ihn abrupt zum Stehen brachte.
"Du fandest das wohl alles sehr witzig, was?" Parils Stimme war leise, sein Gesicht reglos wie eine glatte Wasseroberfläche bei Windstille. "Du fandest es wohl sehr witzig, das blöde Zeug, was du geredet hast? Und du fandest es witzig, mich einen ganzen Tag lang von einem Scheissfliegenkopf mit Sadistenkomplex 'betreuen' zu lassen? Und dass nachher meine Eltern, meine Freunde, Hunderte von unschuldigen Menschen umgebracht wurden - immer noch werden - und noch mehr ihre Heimat verloren, das war wohl auch sehr witzig, was?"
"He - halt, Moment mal!" protestierte Andai nach einer kurzen Schrecksekunde. "Wir haben Krieg - da werden Menschen umgebracht, natürlich. Aber du kannst doch nicht mir die Schuld am Krieg geben! Geb ich dir vielleicht die Schuld für die Hunderte von Menschen, die eure Armee getötet hat? Und von wegen blödes Zeug reden: vielleicht erinnerst du dich, dass es Asîmchômsaia war, das mit den Hetzreden angefangen hat! So von wegen wir seien alle Frevler und so. So wie euer ehrwürdiger Meister! Wenn mein Gerede blöd war, wie findest du dann seins?"
"Du warst der Anführer!" knurrte Paril. "Du warst der Anführer, und du sagst, du bist nicht schuld? Überhaupt", das Volumen seines Baritons stieg um ein paar Grade, "was bist du eigentlich für ein Typ? Zitierst dauernd Verse aus dem Grünen Buch und stehst trotzdem auf der Seite der Ketzer? Du bist wohl ein entarteter Kalbell, ein abtrünniger Priester? Das ergibt nach dem Tode die doppelte Verdammnis, weisst du das?"
Andai war etwas zurückgewichen. "Verdammnis?" rief er in eigenartiger Stimmlage. "Du verteilst sehr schnell Erlösung und Verdammnis. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ich..." Er brach plötzlich ab, kniff eine Sekunde lang die Augen zu und holte tief Luft. "Jetzt hör mir mal gut zu", fuhr er in normalem Tonfall fort, "diese Art von Arroganz geht mir schon lange auf den Sack. Du bist nicht der einzige; die ganze Zeit, seit ich im Pyramidalwald bin, treff ich Leute, die sich einbilden, sie seien die Erwählten und hätten das Recht, wen sie wollen ins Meer der Verdammnis zu werfen. Ich werd dir jetzt was erzählen; ob du was daraus lernst, ist deine Sache.
Jawohl, ich war einmal ein Priester. Allerdings nicht aus dem Pyramidalwald; ich komme aus dem Süden, einem Ort etwa 20 Meilen östlich von Onnikerr Ewshtrôm. Wenn du willst, kannst du mich jetzt schon, nur weil ich Südländer bin, als minderwertigen, frevelhaften Menschen ansehen und mir gar nicht mehr zuhören, wie das so viele Leute hier ohnehin tun. Und ich muss gestehen, dass ich selber diese Meinung früher geteilt habe. Auch ich war einmal der festen Überzeugung, die Baummeditation sei eine wesentliche Erfahrung für eine gute menschliche Entwicklung. Vielleicht wirst du mir nicht glauben, aber ich habe immer seit meiner Kindheit dreimal täglich in einem Pyramidalbaum meditiert. Der Unterschied zu hier ist, dass ich einer der wenigen im Dorf war, die das tun konnten. Wir hatten nämlich nicht so viele Pyramidalbäume, dass jeder einen eigenen haben konnte; sie wachsen nicht so gut, weil es so kalt ist, und ihre Pflege ist weitaus schwieriger als hier. Dadurch wird jeder einzelne Pyramidalbaum unglaublich wichtig und erst richtig heilig. Der Tod eines Pyramidalbaums schmerzt mich mindestens so wie dich - obwohl du mir vielleicht auch das nicht glaubst. Aber kannst du dir vorstellen, was für jemanden wie mich der Pyramidalwald, ein Ort, der vollkommen aus heiligen Bäumen besteht, bedeuten musste? Als ich ein Kind war, stellte ich ihn mir als eine Art riesigen, wunderbaren Tempel vor, in dem es nur ganz fromme, weise Leute gibt..." Er lachte bitter auf. "Eigentlich zum Lachen - aber stell dir den Schock vor, den der kindische Jüngling erleidet, wenn er jenen wundersamen Ort, den zu sehen der Traum seines Lebens war, in Realität kennenlernt! Mag sein, dass mich dieser Schock wirklich entartet oder krank oder was immer gemacht hat. Aber es gibt kein Zurück, die Illusion ist unwiederbringlich zerstört. Was dich betrifft, Freund Babygesicht, so kannst du von mir aus so viele Illusionen behalten, wie du willst; nur diese Anmassung, andere Leute leichtfertig zu verdammen, das solltest du dir abgewöhnen..."
"Anmassung?!" polterte Paril entrüstet, "Illusion?! Was redest du da? Ich masse mir nichts an. Das steht doch alles im Grü..." Er verstummte. Hatte er wirklich keine Illusionen? "Ich weiss, dass der Pyramidalwald kein wunderbarer Tempel ist!" räumte er ärgerlich ein, "das ist doch klar. Und du hast selber zugegeben, dass du kindisch warst. Ich weiss nicht, was du willst..." Da fiel sein Blick auf das verschlossene Gesicht von Temon, der wartend etwas entfernt stand; und jäh kam ihm ihre Situation wieder ins Bewusstsein. "Wir sollten weiter", empfahl Andai, der es fast gleichzeitig bemerkt hatte. "Wir fliehen vor den frommen und weisen Menschen..." "Halt die Fresse", brummte Paril, dem wieder das Bild der Leibwächter Ssaiangs in den Kopf stieg.
Es war inzwischen heller Morgen. Wiewohl die Sonne hinter den dichten Baumkronen verborgen blieb, so spürte man doch förmlich, wie es ständig heisser wurde; Paril war unter seiner ledernen Kriegsbekleidung schon jetzt schweissnass. Er behielt sie trotzdem an, denn es waren gute Klamotten, die gegen kratzende Äste und stechende Dornen schützten. Die anderen beiden trugen nur ihre ehemals orangeroten und mittlerweile mehr und mehr zerfetzten Gefängniskittel; auch diese waren nass vor Schweiss.
Schliesslich mussten sie wieder Rast machen. Andai ging auf die Suche nach einem geeigneten Baum für das Wechax Wchabe; Temon liess sich ins Moos fallen und förderte eine Pfeife zutage. "Hast du was zum Feuermachen?" fragte er Paril.
Dieser starrte ihn ungläubig an. "Was willst du? RAUCHEN?! In dieser Jahreszeit?! Sag mal, willst du mich ärgern oder bist du bloss blöd?"
Temons vernarbtes Gesicht zeigte keine Regung. "Ich versteh nicht, was du meinst", sagte er, "aber ich schaff es nicht mehr ohne. Wenn ich jetzt keine rauchen kann, müsst ihr ohne mich weiter, tut mir leid."
Paril fasste ihn scharf ins Auge. Äusserlich war ihm keine Erschöpfung anzumerken; andererseits war das wenige, was er bisher gesagt hatte, immer auf eine Weise richtig gewesen. Und jetzt erinnerte sich Paril auch, dass sie in der letzten Zeit ständig auf ihn hatten warten müssen.
Aha - das verbrannte Gesicht war also ein Süchtiger. Jemand, der sich so weit hatte sinken lassen, dass er die Gebote der feuerlosen Zeit gar nicht mehr halten konnte. Eine weitere Eigenschaft eines Ketzers... Doch andererseits, wie war das mit der Klausel von der Notsituation... Ach, ins Meer geschmissen damit!! "Hmm... na gut", und widerstrebend rückte Paril sein Zunderkästchen heraus, "aber Ssukr, sei vorsichtig. Es gibt allzu viele trockene Dinge rund um uns, und ein Waldbrand..." Er verstummte plötzlich. Was ein Brand war, musste Temon mit seinem Gesicht wohl am besten wissen...
Der Pflanzensaft des von Andai angebohrten Baumes spendete nur ungenügend Kraft, und gross war die Versuchung, weiter sitzen zu bleiben - insbesondere, da sich die Verfolger seltsamerweise nicht zu beeilen schienen. "Banausen!" gluckste Andai. "Sie hätten uns längst kriegen können. Keine Ahnung vom Krieg!"
"Logisch", brummte Paril, "schliesslich hatten wir noch nie Krieg im Pyramidalwald..."
"Oder", erklang Temons Stimme aus einer Rauchwolke, "sie verfolgen uns nicht mehr. Weil ihr Interesse gar nicht uns gilt..."
"Ahh..." Paril fühlte, wie ihm der Zweifel von gestern nacht wieder den Rücken hochkroch. Jetzt waren sie also bei jenem Argument angelangt. Aber er hatte darüber ja schon nachgedacht... Gerade öffnete Paril den Mund zu einer Erwiderung, da hörte er Andai antworten: "Unsinn! Wie sollten sie merken, welche Spur von uns ist und welche vom Workash Kal?"
Parils Mund blieb offen stehen. Workash Kal! Ging es jetzt etwa um... Bevor er weiterdenken konnte, fuhr Andai fort: "Hmm... ausser sie haben jetzt ein Bush Eenkil aufgetrieben; die können die Spuren einzelner Menschen auseinanderhalten..."
Paril sprang auf. Jetzt oder nie wollte er Klarheit haben! "Wovon redet ihr?" Sein Zeigefinger zielte auf den erstaunten Andai. "Wieso sollen sie an uns kein Interesse haben?"
Andai zuckte die Schultern. "Na, bei dir weiss ich nicht, aber uns lohnt es sich bestimmt nicht mit grossem Aufwand zu jagen. Ich bin zwar Offizier, aber nur ein kleiner, und Temon nicht mal das. Ob wir im Heer mitkämpfen oder nicht, ist kein grosser Unterschied; mit Shnoiw und Shidai dasselbe. Die meisten wichtigen Leute, Workash Dwokal etwa, haben sie gestern schon erwischt, und General Woingang ist seit heute Nacht auch tot, den sollten sie inzwischen gefunden haben. Der einzige, der Asîmchômsaia jetzt noch schaden kann, etwa wenn er in Onnikerr Ewshtrôm öffentlich auftritt, ist Workash Assing."
"Assing!!" Jetzt war der Name heraus! "Du bleibst also dabei, ja? Das war kein Witz? Seine göttliche Hoheit, der ehrwürdige Hochmeister der ersten Stadt des Pyramidalwalds, soll ein Ketzer geworden sein? Also um solche perversen Ideen zu glauben, muss ich noch wesentlich tiefer in die Sünde sinken als ich schon bin!"
Einen Augenblick lang starrte ihn Andai verdattert an - dann verdrehte er die Augen. "Oh Mann! So was Verbohrtes wie dich hab ich aber selten getroffen. Die Welt ist kein wunderbarer Tempel, wann kapierst du das endlich?!"
"Die blöden Belehrungen kannst du dir sparen!" schnappte Paril scharf. "Die Wahrheit will ich hören - und zwar die genaue, verbrannt und ersoffen! Also was ist?"
"Die Wahrheit? Die erzähl ich doch die ganze Zeit!" gab Andai verärgert zurück. "Also wenn ich ganz genau sein soll, dann weiss ich natürlich nicht, ob Assing sein richtiger Name ist; aber jedenfalls hat er sich so genannt - der Mann, der jetzt mit Shnoiw, Shidai und Uemonni zusammen ist, um noch mal ganz genau zu sein. Und er hat auch gesagt, er sei der Hochmeister von Asîmchômsaia gewesen - obs wahr ist oder gelogen, kann ich, um zum drittenmal ganz genau zu sein, auch nicht sagen. Bei uns gelandet sei er aufgrund eines Komplotts, das nach einem Streit im Meisterrat über den Fortgang des Krieges geschmiedet wurde - so oder ähnlich hat er uns erzählt. Stimmts, Temon?" Der Angesprochene nahm die Pfeife aus dem Mund (jedoch ohne etwas zu sagen) und nickte knapp.
Paril starrte geradeaus, und eine Falte stand auf seiner Stirn, während sein Kopf versuchte, die neuen Daten zu verarbeiten. "Ich kann es nicht glauben", murmelte er. "Bei allen Wasserteufeln, ich kann es nicht glauben!"
Andai schüttelte gespielt belustigt den Kopf. "Er kann es nicht glauben, Temon! Was machen wir da? Dabei weiss man doch, dass sich weise und fromme Menschen so benehmen..."
"Ich sagte, du sollst mit den blöden Belehrungen aufhören!!" Drohend baute sich Paril vor Andai auf. Dieser hob abwehrend den Arm. "Gut, gut, du willst also verbohrt bleiben. Von mir aus! Ich habe zu dem Thema sowieso nichts mehr zu sagen; vielleicht fragst du den Workash Kal selbst. Falls wir ihn wieder treffen. Ach - und apropos treffen..." Er schickte sich an, aufzustehen. "Wir sollten doch machen, dass wir weiterkommen. Ich trau dem Frieden nicht. Weisst du noch, Temon, wie unerwartet sie das letztemal über uns waren? Babygesicht tauchte plötzlich aus dem Nichts auf..."
Sie warteten, bis Temon in seine Pfeife gespuckt und diese ausgekratzt hatte, danach begannen sie erneut, sich über die dicken Baumstämme hinwegzuschleppen. Es wurde immer heisser, und die Vegetation blieb immer gleich; es war schwer festzustellen, ob sie vorwärtskamen. Sie achteten zunehmend angestrengt auf Anzeichen für Verfolger, und ein paarmal meinte Paril tatsächlich entsprechende Geräusche zu hören. Sie wandten wieder Spurenverwischungstricks an, zerbrachen Parils letzten Stinkholzzweig, liefen mehrmals auf ihrer Spur zurück und dann zur Seite weg. Sie hielten auch nach Rishwa Lai Ausschau, aber es gab keine.
In Parils Kopf wälzten sich die Gedanken schwerer und schwärzer denn je. Er bekam und bekam keine Klarheit! Was hatte er jetzt davon, den Rundgesichtigen zur Rede gestellt zu haben? Er wusste nun, dass es unter den Ausbrechern einen Kerl gab, der behauptete, Workash Assing zu sein. Aber ob er das auch wirklich war - wie bei allen vier Urgewalten sollte Paril das herausfinden? Er hatte den Hochmeister schliesslich erst ein einziges Mal gesehen, nämlich am Mittsommerfest, und da war er sehr weit weg und ausserdem prachtvoll angezogen gewesen. Paril würde ihn kaum mit Gewissheit identifizieren können, wenn er ihm in Sträflingskleidung entgegentrat. Falls derjenige, der das Mittsommer-Ritual geleitet hatte, überhaupt Assing gewesen war... All diese Gedanken waren wenig dazu geeignet, Parils Energie zu stärken, und er fühlte sich noch elender als zuvor (wenn das überhaupt möglich war) - aber trotzdem zog es ihn weiter nach Osten, mit einem trotzigen kleinen Rest von Hoffnung, eine Antwort auf seine Frage zu finden.
Er versuchte, sich die Person des angeblichen Hochmeisters in Erinnerung zu rufen. Es wollte ihm nicht recht gelingen, sei es, dass der Mann sehr unauffällig gewesen war oder dass Paril geistig nicht ganz auf der Höhe war. Fest stand bloss, dass er sich den Hochmeister nicht so vorgestellt hatte. Aber was zählten schon seine Vorstellungen? Eine der Konstanten der letzten 24 Stunden war, dass ständig vorgefasste Vorstellungen von Paril in Stücke fielen...
Der Durst quälte. Trotzdem schoben sie ein weiteres Wechax Wchabe immer wieder auf, da sie sich vor dem Anhalten fürchteten. Einmal hatten sie Glück: einen Vorhang von herunterhängenden Luftblumenzweigen zerteilend, fanden sie sich plötzlich Auge in Auge mit einer Horde Breitkopfaffen. Reflexartig riss Paril seine Armbrust hoch und schoss; eine Sekunde später waren alle Tiere verschwunden bis auf einen Affen, der tatsächlich getroffen war.
Über Temons verwüstete Gesichtszüge huschte ein Lächeln. "Guter Schuss", sagte er. Andai brummte etwas von "schlecht, wegen Spuren", aber dabei beliess er es.
Leider konnten sie mit ihrer Jagdbeute nicht viel anfangen, da sie weder Feuer machen konnten (Temons Pfeife war wirklich eine absolute Ausnahme gewesen) noch Konservierungsstoffe zur Verfügung hatten. So mussten sie sich an Ort und Stelle mit rohem Affenfleisch verpflegen, so viel sie vermochten (Paril, der nicht am Verhungern war, nicht sehr viel), und den Rest liegenlassen, da er ohne Konservierungsbehandlung schnell verderben würde.
Nach diesem Ereignis, welches ihre Körper kurze Zeit stärkte, passierte wieder lange nichts Besonderes - nur Hitze, Durst, Angst und kratzende Äste. In Paril regte sich gelegentlich die Frage, ob sie wirklich, wie Temon behauptet hatte, in zwei Tagen die Berge erreichen würden. Sehen tat man jedenfalls nichts von ihnen, und auch für ein etwaiges Ende des Pyramidalwaldes gab es nicht die geringsten Anzeichen. Nicht dass Paril besonders scharf darauf war, den Wald zu verlassen; wie die meisten Waldbewohner hatte er ein tiefsitzendes Misstrauen vor weitem, zu offenem Gelände. Mit der Zeit aber wurde ihm das alles immer egaler. Es gab zwar keine Rishwa Lai, dafür drohte sie jetzt die Hitze zu betäuben...
Es kam notwendigerweise der Zeitpunkt, wo sie wieder Rast machen mussten. Mühselig stocherte Paril mit seinem Messer an einem Pyramidalstamm herum. Ein Loch zu machen gestaltete sich mittlerweile schwierig, da die Rinde des Baumes gegen die Mittagszeit immer härter wurde. Weil der Baum nicht mit Paril einverstanden war?! Hartnäckig nagte der Gedanke in seinem Kopf. Ist es nicht unrecht, den Baum einfach zu verletzen? Gut, wir sind in einer Notsituation, aber das Anbohren in der Sommerhitze versetzt auch den Baum in eine Notsituation! Du hättest ihn doch richtig, in Meditation, um Erlaubnis fragen sollen. Das Aufsagen des Spruches geht inzwischen so schnell und gedankenlos, das ist ja ein Witz. Wie soll das eine Wirkung auf den Baum haben? Im Grünen Buch steht schon der grösste Schrott... Ha, ha, wahrhaft ketzerisch gesprochen... Derart befand sich sein Hirn in träger, zähflüssiger Bewegung, und er tat, was er schon früher getan hatte: er liess es laufen, ohne zu steuern. Nur wenig mehr beschäftigten ihn die unvermeidlichen anderen Gedanken, die er auch schon früher gehabt hatte: wozu er sich eigentlich abmühte, wenn die Wirkung sowieso nur eine Verlängerung der Qual vor dem unvermeidlichen Ende sein würde...
Und just als er bei diesem Gedanken angelangt war, knackte in nicht allzu grosser Entfernung ein Ast.
Alle drei fuhren gleichzeitig auf. War das Ende schon näher als erwartet? "Da hast du's: genau wie das letzte Mal!" flüsterte Andai. "Man hört und sieht nichts, und plötzlich sind sie da!" Sein Gesicht war plötzlich panikverzerrt.
"Das Geräusch kam aus Osten", äusserte sich Temon in derselben Lautstärke. "Wie haben sie es bloss geschafft, wieder vor uns zu sein?"
Paril spähte mit langsamen Bewegungen umher. "Es ist nichts zu sehen", stellte er schliesslich fest. "Ich glaube, wir sind zu nervös. Vielleicht war es gar kein..." Er verstummte. Dicht neben seinem Kopf hatte er ein kleines Geräusch gehört. Er drehte sich um - und starrte entsetzt auf einen in der Rinde steckenden Armbrustpfeil...
Und ohne jede Verzögerung warfen sie sich alle gleichzeitig flach auf den Boden. Im selben Moment jedoch erhob sich ein vielstimmiges unzivilisiertes Gebrüll, begleitet von ebenso unzivilisiertem Prasseln und Knacken.
Das war nicht die Art der hochmeisterlichen Krieger. Doch in der Wildnis gibt es ja bekanntlich auch andere Gefahren.
Das Röhren eines Brüllaffen durchschnitt die Dunkelheit - der erste Vorbote eines neuen Morgens. Längst war der Mond untergegangen, im Osten begannen die Sterne zu verblassen. Und die verrückte Jagd, der Griff der Doppeleiche nach ein paar flüchtigen Kriegsgefangenen und einem Deserteur, war noch immer nicht zu Ende.
Nur für einen von ihnen. Der alte grauhaarige Workash Kal war inzwischen gestorben.
Andai hatte das Totengebet gesprochen, und Paril hatte einmal mehr gerätselt, woher der so viel aus dem Grünen Buch wusste. Mehr hatten sie nicht tun können, und seit ein paar Minuten waren sie wieder dabei, ihre Beine zur Bewegung in Richtung Osten zu zwingen. Um die Verfolgung schwieriger zu machen, hatten sie sich in zwei Gruppen geteilt; Paril fand sich zusammen mit Andai und Temon, dem verbrannten Gesicht. Falls sie durchkamen, würden sie sich an einem bestimmten Ort in der Nähe der Berge wieder treffen, den Temon und Shnoiw kannten.
Anfangs fühlte sich Paril mehr tot als lebendig - wie musste es erst den anderen gehen! - doch allmählich ging es etwas besser. Allerdings kamen sie schlecht vorwärts, denn die Vegetation war hier sehr dicht, und es waren kräftige Bäume, deren Wurzeln auf den Pyramidalstämmen verankert waren: Pinien, Lorbeerbäume, Wachsbuchen, Korkeichen; dies machte fast ständiges Klettern notwendig. Einmal stiessen sie auf einen Weg, widerstanden aber der Versuchung, auf ihm weiterzugehen. Man konnte auf Menschen treffen, und das war gefährlich.
Abgesehen von den notwendigen, kurzen Wortwechseln herrschte feindseliges Schweigen zwischen Paril und seinen erzwungenen Gefährten; Paril war wieder alleine mit seinen "schwarzen und entarteten" Gedanken, die sich grossenteils um eine quälende Frage drehten. Gab es für ihn noch einen Grund, hier mitzumachen, oder war dieser tot? Etwelche Gedanken, zahllose Alternativen zu seiner Zukunft kreisten in seinem Kopf, ohne je zu einem Ergebnis zu führen.
Nach einer Weile wurde das Unterholz plötzlich lichter, man kam freier zwischen den Pyramidalstämmen hindurch. Dies war kein Grund zum Aufatmen, denn es war offenkundig Menschenwerk. Und richtig stiessen sie wenig später auf Felder.
Sie hielten an. Temon spähte nach vorne, das Zwielicht zeichnete die rauhe Haut seines vernarbten Gesichtes wie die Oberfläche eines Felsen. "Ein Dorf", stellte er fest, "ob man da was zu Essen..."
"Auf keinen Fall!" unterbrach ihn Andai sofort. "Wir dürfen von niemandem gesehen werden. So weit weg von Menschen wie möglich..." Dann verstummte er plötzlich.
Und sie sahen, dass aus dem ihnen zugewandten Tor in der Dorfmauer eine Reihe bewaffneter Leute kam.
"Diskussion überflüssig", wollte Paril sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Die Meldeläufer der Doppeleiche waren schneller gewesen als sie; der Feind war, wie Paril in der Nacht schon gefürchtete hatte, wieder vor ihnen. Und sicher mit Flokaigrabs! Das hiess, die Jagd war bald zu Ende...
Minuten verstrichen, während denen sie reglos blieben. Die Dorfkrieger formierten sich zu einer Reihe und begannen, den Weg entlangzumarschieren - denselben Weg, auf den die Ausbrecher so schweren Herzens verzichtet hatten. In Kürze waren die Krieger zu Parils Linken im Wald verschwunden.
Die drei schauten sich an. Paril liess pfeifend die Luft ab. "Sie... sie wissen noch nicht, dass wir den Kreis durchbrochen haben..."
Andais rundes Gesicht verzog sich langsam zu dem bekannten breiten Grinsen. "Wahnsinn! Wir haben mehr Glück als Verstand. Los, weg hier!" Sie wandten sich nach rechts, vom Dorf weg, und stachen wieder in den Urwald.
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"Du, sag mal", sagte Andai wenig später, während er über einen gestürzten Baumstamm stieg, plötzlich zu Paril, "ich habe das Gefühl, ich kenne dich von irgendwo. Ist das möglich?"Paril stand auf der anderen Seite und ruhte sich etwas aus, während er auf ihn wartete. "Ja ja, das ist schon möglich", antwortete er, ohne das Gesicht zu verziehen.
Andai blieb einen Moment auf dem Baumstamm sitzen und legte die Stirn in Falten. "Hmm... Paril ist dein Name, ja? Woher kenn ich dich bloss..." überlegte er und rieb sich das behaarte Kinn. Paril beobachtete ihn mit verschränkten Armen. "Dieser Name dürfte dir kaum geläufig sein", sagte er. "Aber vielleicht kennst du mich unter meinem zweiten Namen. Der lautet O'mîkal Shimrôm - Babygesicht."
"Babygesicht? Babygesicht..." Plötzlich erschien ein erkennendes Grinsen auf Andais Gesicht. "Aber ja! Mann... das war ganz am Anfang... Mann, ist das lange her! In diesem Kaff, wie hiess es noch... Hmm. So was, und jetzt treffen wir uns hier wieder... So 'n Zufall!" Er kam von Baumstamm herabgesprungen und war aufs höchste erfreut - und keineswegs gefasst auf die eiskalte Ruhe, mit der Paril ihn abrupt zum Stehen brachte.
"Du fandest das wohl alles sehr witzig, was?" Parils Stimme war leise, sein Gesicht reglos wie eine glatte Wasseroberfläche bei Windstille. "Du fandest es wohl sehr witzig, das blöde Zeug, was du geredet hast? Und du fandest es witzig, mich einen ganzen Tag lang von einem Scheissfliegenkopf mit Sadistenkomplex 'betreuen' zu lassen? Und dass nachher meine Eltern, meine Freunde, Hunderte von unschuldigen Menschen umgebracht wurden - immer noch werden - und noch mehr ihre Heimat verloren, das war wohl auch sehr witzig, was?"
"He - halt, Moment mal!" protestierte Andai nach einer kurzen Schrecksekunde. "Wir haben Krieg - da werden Menschen umgebracht, natürlich. Aber du kannst doch nicht mir die Schuld am Krieg geben! Geb ich dir vielleicht die Schuld für die Hunderte von Menschen, die eure Armee getötet hat? Und von wegen blödes Zeug reden: vielleicht erinnerst du dich, dass es Asîmchômsaia war, das mit den Hetzreden angefangen hat! So von wegen wir seien alle Frevler und so. So wie euer ehrwürdiger Meister! Wenn mein Gerede blöd war, wie findest du dann seins?"
"Du warst der Anführer!" knurrte Paril. "Du warst der Anführer, und du sagst, du bist nicht schuld? Überhaupt", das Volumen seines Baritons stieg um ein paar Grade, "was bist du eigentlich für ein Typ? Zitierst dauernd Verse aus dem Grünen Buch und stehst trotzdem auf der Seite der Ketzer? Du bist wohl ein entarteter Kalbell, ein abtrünniger Priester? Das ergibt nach dem Tode die doppelte Verdammnis, weisst du das?"
Andai war etwas zurückgewichen. "Verdammnis?" rief er in eigenartiger Stimmlage. "Du verteilst sehr schnell Erlösung und Verdammnis. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ich..." Er brach plötzlich ab, kniff eine Sekunde lang die Augen zu und holte tief Luft. "Jetzt hör mir mal gut zu", fuhr er in normalem Tonfall fort, "diese Art von Arroganz geht mir schon lange auf den Sack. Du bist nicht der einzige; die ganze Zeit, seit ich im Pyramidalwald bin, treff ich Leute, die sich einbilden, sie seien die Erwählten und hätten das Recht, wen sie wollen ins Meer der Verdammnis zu werfen. Ich werd dir jetzt was erzählen; ob du was daraus lernst, ist deine Sache.
Jawohl, ich war einmal ein Priester. Allerdings nicht aus dem Pyramidalwald; ich komme aus dem Süden, einem Ort etwa 20 Meilen östlich von Onnikerr Ewshtrôm. Wenn du willst, kannst du mich jetzt schon, nur weil ich Südländer bin, als minderwertigen, frevelhaften Menschen ansehen und mir gar nicht mehr zuhören, wie das so viele Leute hier ohnehin tun. Und ich muss gestehen, dass ich selber diese Meinung früher geteilt habe. Auch ich war einmal der festen Überzeugung, die Baummeditation sei eine wesentliche Erfahrung für eine gute menschliche Entwicklung. Vielleicht wirst du mir nicht glauben, aber ich habe immer seit meiner Kindheit dreimal täglich in einem Pyramidalbaum meditiert. Der Unterschied zu hier ist, dass ich einer der wenigen im Dorf war, die das tun konnten. Wir hatten nämlich nicht so viele Pyramidalbäume, dass jeder einen eigenen haben konnte; sie wachsen nicht so gut, weil es so kalt ist, und ihre Pflege ist weitaus schwieriger als hier. Dadurch wird jeder einzelne Pyramidalbaum unglaublich wichtig und erst richtig heilig. Der Tod eines Pyramidalbaums schmerzt mich mindestens so wie dich - obwohl du mir vielleicht auch das nicht glaubst. Aber kannst du dir vorstellen, was für jemanden wie mich der Pyramidalwald, ein Ort, der vollkommen aus heiligen Bäumen besteht, bedeuten musste? Als ich ein Kind war, stellte ich ihn mir als eine Art riesigen, wunderbaren Tempel vor, in dem es nur ganz fromme, weise Leute gibt..." Er lachte bitter auf. "Eigentlich zum Lachen - aber stell dir den Schock vor, den der kindische Jüngling erleidet, wenn er jenen wundersamen Ort, den zu sehen der Traum seines Lebens war, in Realität kennenlernt! Mag sein, dass mich dieser Schock wirklich entartet oder krank oder was immer gemacht hat. Aber es gibt kein Zurück, die Illusion ist unwiederbringlich zerstört. Was dich betrifft, Freund Babygesicht, so kannst du von mir aus so viele Illusionen behalten, wie du willst; nur diese Anmassung, andere Leute leichtfertig zu verdammen, das solltest du dir abgewöhnen..."
"Anmassung?!" polterte Paril entrüstet, "Illusion?! Was redest du da? Ich masse mir nichts an. Das steht doch alles im Grü..." Er verstummte. Hatte er wirklich keine Illusionen? "Ich weiss, dass der Pyramidalwald kein wunderbarer Tempel ist!" räumte er ärgerlich ein, "das ist doch klar. Und du hast selber zugegeben, dass du kindisch warst. Ich weiss nicht, was du willst..." Da fiel sein Blick auf das verschlossene Gesicht von Temon, der wartend etwas entfernt stand; und jäh kam ihm ihre Situation wieder ins Bewusstsein. "Wir sollten weiter", empfahl Andai, der es fast gleichzeitig bemerkt hatte. "Wir fliehen vor den frommen und weisen Menschen..." "Halt die Fresse", brummte Paril, dem wieder das Bild der Leibwächter Ssaiangs in den Kopf stieg.
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Sie flohen weiter. Wütend kämpfte Paril gegen die widerspenstige Wildnis, entsprechend der Heftigkeit der Gedanken, die in ihm kochten. Am unmittelbarsten ärgerte ihn das Bewusstsein, auf der ganzen Linie verloren zu haben und dazu auch noch zustimmen zu müssen; seine Wut, sein Durst nach Rache für Familie und Heimat waren unverändert vorhanden, doch ihres Ziels beraubt; mit dem besten - oder bösesten - Willen konnte er die Schuld nicht mehr bei Andai, Shnoiw oder selbst Shidai sehen. Einmal mehr musste er zähneknirschend zur Kenntnis nehmen, wie ihm "ketzerische" Argumente zunehmends einzuleuchten begannen. In der Tat, wie musste sich die herrschende Gesellschaftsordnung jemandem im Süden darbieten, der keine Chance zur täglichen Baummeditation hatte? Ein System, das festlegt, wer "gut" ist, ohne dass diese "Güte" klar ersichtlich wäre (schon wieder erschienen die Gesichter der Leibwächter des Hauptmanns - dann der Meister von O'kir - die meditierten ja wohl alle täglich?), und das darauf hinausläuft, dass nur, wer reich ist, auch "gut" sein kann... Aber so ist es nicht! schrie es in Paril. Ich kenne die wohltätige Wirkung der Baummeditation schliesslich aus eigener Erfahrung; die Galbladi im Süden mögen bedauernswert sein, doch es bleibt dabei, dass ihnen etwas Wesentliches fehlt. Wenn es im Süden zu wenig Pyramidalbäume gibt, hätte man ihn eben nie besiedeln dürfen... Und Paril ärgerte sich aufs neue, dass ihm nun umgekehrt diese alten Argumente immer weniger einleuchten wollten. Wie sollte er über die Verhältnisse im Süden urteilen, wenn er nie dort gewesen war?Es war inzwischen heller Morgen. Wiewohl die Sonne hinter den dichten Baumkronen verborgen blieb, so spürte man doch förmlich, wie es ständig heisser wurde; Paril war unter seiner ledernen Kriegsbekleidung schon jetzt schweissnass. Er behielt sie trotzdem an, denn es waren gute Klamotten, die gegen kratzende Äste und stechende Dornen schützten. Die anderen beiden trugen nur ihre ehemals orangeroten und mittlerweile mehr und mehr zerfetzten Gefängniskittel; auch diese waren nass vor Schweiss.
Schliesslich mussten sie wieder Rast machen. Andai ging auf die Suche nach einem geeigneten Baum für das Wechax Wchabe; Temon liess sich ins Moos fallen und förderte eine Pfeife zutage. "Hast du was zum Feuermachen?" fragte er Paril.
Dieser starrte ihn ungläubig an. "Was willst du? RAUCHEN?! In dieser Jahreszeit?! Sag mal, willst du mich ärgern oder bist du bloss blöd?"
Temons vernarbtes Gesicht zeigte keine Regung. "Ich versteh nicht, was du meinst", sagte er, "aber ich schaff es nicht mehr ohne. Wenn ich jetzt keine rauchen kann, müsst ihr ohne mich weiter, tut mir leid."
Paril fasste ihn scharf ins Auge. Äusserlich war ihm keine Erschöpfung anzumerken; andererseits war das wenige, was er bisher gesagt hatte, immer auf eine Weise richtig gewesen. Und jetzt erinnerte sich Paril auch, dass sie in der letzten Zeit ständig auf ihn hatten warten müssen.
Aha - das verbrannte Gesicht war also ein Süchtiger. Jemand, der sich so weit hatte sinken lassen, dass er die Gebote der feuerlosen Zeit gar nicht mehr halten konnte. Eine weitere Eigenschaft eines Ketzers... Doch andererseits, wie war das mit der Klausel von der Notsituation... Ach, ins Meer geschmissen damit!! "Hmm... na gut", und widerstrebend rückte Paril sein Zunderkästchen heraus, "aber Ssukr, sei vorsichtig. Es gibt allzu viele trockene Dinge rund um uns, und ein Waldbrand..." Er verstummte plötzlich. Was ein Brand war, musste Temon mit seinem Gesicht wohl am besten wissen...
Der Pflanzensaft des von Andai angebohrten Baumes spendete nur ungenügend Kraft, und gross war die Versuchung, weiter sitzen zu bleiben - insbesondere, da sich die Verfolger seltsamerweise nicht zu beeilen schienen. "Banausen!" gluckste Andai. "Sie hätten uns längst kriegen können. Keine Ahnung vom Krieg!"
"Logisch", brummte Paril, "schliesslich hatten wir noch nie Krieg im Pyramidalwald..."
"Oder", erklang Temons Stimme aus einer Rauchwolke, "sie verfolgen uns nicht mehr. Weil ihr Interesse gar nicht uns gilt..."
"Ahh..." Paril fühlte, wie ihm der Zweifel von gestern nacht wieder den Rücken hochkroch. Jetzt waren sie also bei jenem Argument angelangt. Aber er hatte darüber ja schon nachgedacht... Gerade öffnete Paril den Mund zu einer Erwiderung, da hörte er Andai antworten: "Unsinn! Wie sollten sie merken, welche Spur von uns ist und welche vom Workash Kal?"
Parils Mund blieb offen stehen. Workash Kal! Ging es jetzt etwa um... Bevor er weiterdenken konnte, fuhr Andai fort: "Hmm... ausser sie haben jetzt ein Bush Eenkil aufgetrieben; die können die Spuren einzelner Menschen auseinanderhalten..."
Paril sprang auf. Jetzt oder nie wollte er Klarheit haben! "Wovon redet ihr?" Sein Zeigefinger zielte auf den erstaunten Andai. "Wieso sollen sie an uns kein Interesse haben?"
Andai zuckte die Schultern. "Na, bei dir weiss ich nicht, aber uns lohnt es sich bestimmt nicht mit grossem Aufwand zu jagen. Ich bin zwar Offizier, aber nur ein kleiner, und Temon nicht mal das. Ob wir im Heer mitkämpfen oder nicht, ist kein grosser Unterschied; mit Shnoiw und Shidai dasselbe. Die meisten wichtigen Leute, Workash Dwokal etwa, haben sie gestern schon erwischt, und General Woingang ist seit heute Nacht auch tot, den sollten sie inzwischen gefunden haben. Der einzige, der Asîmchômsaia jetzt noch schaden kann, etwa wenn er in Onnikerr Ewshtrôm öffentlich auftritt, ist Workash Assing."
"Assing!!" Jetzt war der Name heraus! "Du bleibst also dabei, ja? Das war kein Witz? Seine göttliche Hoheit, der ehrwürdige Hochmeister der ersten Stadt des Pyramidalwalds, soll ein Ketzer geworden sein? Also um solche perversen Ideen zu glauben, muss ich noch wesentlich tiefer in die Sünde sinken als ich schon bin!"
Einen Augenblick lang starrte ihn Andai verdattert an - dann verdrehte er die Augen. "Oh Mann! So was Verbohrtes wie dich hab ich aber selten getroffen. Die Welt ist kein wunderbarer Tempel, wann kapierst du das endlich?!"
"Die blöden Belehrungen kannst du dir sparen!" schnappte Paril scharf. "Die Wahrheit will ich hören - und zwar die genaue, verbrannt und ersoffen! Also was ist?"
"Die Wahrheit? Die erzähl ich doch die ganze Zeit!" gab Andai verärgert zurück. "Also wenn ich ganz genau sein soll, dann weiss ich natürlich nicht, ob Assing sein richtiger Name ist; aber jedenfalls hat er sich so genannt - der Mann, der jetzt mit Shnoiw, Shidai und Uemonni zusammen ist, um noch mal ganz genau zu sein. Und er hat auch gesagt, er sei der Hochmeister von Asîmchômsaia gewesen - obs wahr ist oder gelogen, kann ich, um zum drittenmal ganz genau zu sein, auch nicht sagen. Bei uns gelandet sei er aufgrund eines Komplotts, das nach einem Streit im Meisterrat über den Fortgang des Krieges geschmiedet wurde - so oder ähnlich hat er uns erzählt. Stimmts, Temon?" Der Angesprochene nahm die Pfeife aus dem Mund (jedoch ohne etwas zu sagen) und nickte knapp.
Paril starrte geradeaus, und eine Falte stand auf seiner Stirn, während sein Kopf versuchte, die neuen Daten zu verarbeiten. "Ich kann es nicht glauben", murmelte er. "Bei allen Wasserteufeln, ich kann es nicht glauben!"
Andai schüttelte gespielt belustigt den Kopf. "Er kann es nicht glauben, Temon! Was machen wir da? Dabei weiss man doch, dass sich weise und fromme Menschen so benehmen..."
"Ich sagte, du sollst mit den blöden Belehrungen aufhören!!" Drohend baute sich Paril vor Andai auf. Dieser hob abwehrend den Arm. "Gut, gut, du willst also verbohrt bleiben. Von mir aus! Ich habe zu dem Thema sowieso nichts mehr zu sagen; vielleicht fragst du den Workash Kal selbst. Falls wir ihn wieder treffen. Ach - und apropos treffen..." Er schickte sich an, aufzustehen. "Wir sollten doch machen, dass wir weiterkommen. Ich trau dem Frieden nicht. Weisst du noch, Temon, wie unerwartet sie das letztemal über uns waren? Babygesicht tauchte plötzlich aus dem Nichts auf..."
Sie warteten, bis Temon in seine Pfeife gespuckt und diese ausgekratzt hatte, danach begannen sie erneut, sich über die dicken Baumstämme hinwegzuschleppen. Es wurde immer heisser, und die Vegetation blieb immer gleich; es war schwer festzustellen, ob sie vorwärtskamen. Sie achteten zunehmend angestrengt auf Anzeichen für Verfolger, und ein paarmal meinte Paril tatsächlich entsprechende Geräusche zu hören. Sie wandten wieder Spurenverwischungstricks an, zerbrachen Parils letzten Stinkholzzweig, liefen mehrmals auf ihrer Spur zurück und dann zur Seite weg. Sie hielten auch nach Rishwa Lai Ausschau, aber es gab keine.
In Parils Kopf wälzten sich die Gedanken schwerer und schwärzer denn je. Er bekam und bekam keine Klarheit! Was hatte er jetzt davon, den Rundgesichtigen zur Rede gestellt zu haben? Er wusste nun, dass es unter den Ausbrechern einen Kerl gab, der behauptete, Workash Assing zu sein. Aber ob er das auch wirklich war - wie bei allen vier Urgewalten sollte Paril das herausfinden? Er hatte den Hochmeister schliesslich erst ein einziges Mal gesehen, nämlich am Mittsommerfest, und da war er sehr weit weg und ausserdem prachtvoll angezogen gewesen. Paril würde ihn kaum mit Gewissheit identifizieren können, wenn er ihm in Sträflingskleidung entgegentrat. Falls derjenige, der das Mittsommer-Ritual geleitet hatte, überhaupt Assing gewesen war... All diese Gedanken waren wenig dazu geeignet, Parils Energie zu stärken, und er fühlte sich noch elender als zuvor (wenn das überhaupt möglich war) - aber trotzdem zog es ihn weiter nach Osten, mit einem trotzigen kleinen Rest von Hoffnung, eine Antwort auf seine Frage zu finden.
Er versuchte, sich die Person des angeblichen Hochmeisters in Erinnerung zu rufen. Es wollte ihm nicht recht gelingen, sei es, dass der Mann sehr unauffällig gewesen war oder dass Paril geistig nicht ganz auf der Höhe war. Fest stand bloss, dass er sich den Hochmeister nicht so vorgestellt hatte. Aber was zählten schon seine Vorstellungen? Eine der Konstanten der letzten 24 Stunden war, dass ständig vorgefasste Vorstellungen von Paril in Stücke fielen...
Der Durst quälte. Trotzdem schoben sie ein weiteres Wechax Wchabe immer wieder auf, da sie sich vor dem Anhalten fürchteten. Einmal hatten sie Glück: einen Vorhang von herunterhängenden Luftblumenzweigen zerteilend, fanden sie sich plötzlich Auge in Auge mit einer Horde Breitkopfaffen. Reflexartig riss Paril seine Armbrust hoch und schoss; eine Sekunde später waren alle Tiere verschwunden bis auf einen Affen, der tatsächlich getroffen war.
Über Temons verwüstete Gesichtszüge huschte ein Lächeln. "Guter Schuss", sagte er. Andai brummte etwas von "schlecht, wegen Spuren", aber dabei beliess er es.
Leider konnten sie mit ihrer Jagdbeute nicht viel anfangen, da sie weder Feuer machen konnten (Temons Pfeife war wirklich eine absolute Ausnahme gewesen) noch Konservierungsstoffe zur Verfügung hatten. So mussten sie sich an Ort und Stelle mit rohem Affenfleisch verpflegen, so viel sie vermochten (Paril, der nicht am Verhungern war, nicht sehr viel), und den Rest liegenlassen, da er ohne Konservierungsbehandlung schnell verderben würde.
Nach diesem Ereignis, welches ihre Körper kurze Zeit stärkte, passierte wieder lange nichts Besonderes - nur Hitze, Durst, Angst und kratzende Äste. In Paril regte sich gelegentlich die Frage, ob sie wirklich, wie Temon behauptet hatte, in zwei Tagen die Berge erreichen würden. Sehen tat man jedenfalls nichts von ihnen, und auch für ein etwaiges Ende des Pyramidalwaldes gab es nicht die geringsten Anzeichen. Nicht dass Paril besonders scharf darauf war, den Wald zu verlassen; wie die meisten Waldbewohner hatte er ein tiefsitzendes Misstrauen vor weitem, zu offenem Gelände. Mit der Zeit aber wurde ihm das alles immer egaler. Es gab zwar keine Rishwa Lai, dafür drohte sie jetzt die Hitze zu betäuben...
Es kam notwendigerweise der Zeitpunkt, wo sie wieder Rast machen mussten. Mühselig stocherte Paril mit seinem Messer an einem Pyramidalstamm herum. Ein Loch zu machen gestaltete sich mittlerweile schwierig, da die Rinde des Baumes gegen die Mittagszeit immer härter wurde. Weil der Baum nicht mit Paril einverstanden war?! Hartnäckig nagte der Gedanke in seinem Kopf. Ist es nicht unrecht, den Baum einfach zu verletzen? Gut, wir sind in einer Notsituation, aber das Anbohren in der Sommerhitze versetzt auch den Baum in eine Notsituation! Du hättest ihn doch richtig, in Meditation, um Erlaubnis fragen sollen. Das Aufsagen des Spruches geht inzwischen so schnell und gedankenlos, das ist ja ein Witz. Wie soll das eine Wirkung auf den Baum haben? Im Grünen Buch steht schon der grösste Schrott... Ha, ha, wahrhaft ketzerisch gesprochen... Derart befand sich sein Hirn in träger, zähflüssiger Bewegung, und er tat, was er schon früher getan hatte: er liess es laufen, ohne zu steuern. Nur wenig mehr beschäftigten ihn die unvermeidlichen anderen Gedanken, die er auch schon früher gehabt hatte: wozu er sich eigentlich abmühte, wenn die Wirkung sowieso nur eine Verlängerung der Qual vor dem unvermeidlichen Ende sein würde...
Und just als er bei diesem Gedanken angelangt war, knackte in nicht allzu grosser Entfernung ein Ast.
Alle drei fuhren gleichzeitig auf. War das Ende schon näher als erwartet? "Da hast du's: genau wie das letzte Mal!" flüsterte Andai. "Man hört und sieht nichts, und plötzlich sind sie da!" Sein Gesicht war plötzlich panikverzerrt.
"Das Geräusch kam aus Osten", äusserte sich Temon in derselben Lautstärke. "Wie haben sie es bloss geschafft, wieder vor uns zu sein?"
Paril spähte mit langsamen Bewegungen umher. "Es ist nichts zu sehen", stellte er schliesslich fest. "Ich glaube, wir sind zu nervös. Vielleicht war es gar kein..." Er verstummte. Dicht neben seinem Kopf hatte er ein kleines Geräusch gehört. Er drehte sich um - und starrte entsetzt auf einen in der Rinde steckenden Armbrustpfeil...
Und ohne jede Verzögerung warfen sie sich alle gleichzeitig flach auf den Boden. Im selben Moment jedoch erhob sich ein vielstimmiges unzivilisiertes Gebrüll, begleitet von ebenso unzivilisiertem Prasseln und Knacken.
Das war nicht die Art der hochmeisterlichen Krieger. Doch in der Wildnis gibt es ja bekanntlich auch andere Gefahren.