pol shebbel
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(Über verschiedene Arten von Wasser. Und eine langersehnte Begegnung, die aber gründlich schiefgeht.)
Die langen dünnen Halme waren weder giftig noch fleischfressend, sie gaben sofort nach; und auch der Aufprall war nicht hart.
Aber feucht.
Der ganze Boden hier war durchtränkt mit Wasser! Mit Wasser? Mitten im Sommer?! Wasser gehörte in den Himmel oder aber in die Pflanzenstengel. Wasser, das frei herumlag, war teuflisch - wie das Meer der Verdammnis! Angeekelt zuckte Paril zusammen - im nächsten Augenblick war er bereits über eine Handbreit eingesunken. Was wie Erde aussah, hatte die Konsistenz von Mus!
Paril hatte keine Erfahrung mit Sümpfen. Er versuchte sich aufzurichten - und musste feststellen, dass es kein Stehen gab: in dem Masse, in dem er den Oberkörper aufrichtete, sanken seine Beine und seine Füsse tiefer in den grauen Schlamm... Er geriet in Panik und begann, unkontrolliert zu zucken und mit den Beinen auszuschlagen; doch jede Bewegung zog ihn ein Stück tiefer hinein...
Paril schrie. Schrie um Hilfe.
Niemand hörte ihn. Natürlich. Er war allein, allein mit diesem teuflischen, übelriechenden Schlamm! Es war klar, was sich die Banditen gedacht hatten. In wenigen Minuten würden er - und wahrscheinlich auch die anderen - völlig versunken sein; die Räuber würden sie los sein, ohne sich die Schwerter dreckig zu machen. Und ohne eine Spur zurückzulassen: Asîmchômsaia würde sie nicht finden. Das war die Rache der Räuber für das nicht gezahlte Lösegeld...
Diesmal galt es. Die Stunde war gekommen. Nimm es nicht so tragisch, Junge. Einmal kommt es sowieso, und schliesslich hast du es noch erstaunlich weit geschafft. Aber jetzt musst du die Totenverse aus dem Grünen Buch sprechen. Denk nach... Uh, es reicht schon bis zur Brust. Hoffentlich bleibt mir genügend Zeit... Ssukr, es ist doch eine grässliche Art zu sterben. Vielleicht sollte ich die Qual abkürzen, indem ich gleich ganz untertauche...
Da drang eine Stimme an sein Ohr. Er verstand nicht, was sie rief. Paril versuchte, den Kopf zu drehen - und erreichte, dass ihm der Schlamm bis zum Hals stieg.
"Nicht bewegen!" rief die Stimme. Na gut, dann eben nicht. "Ganz ruhig bleiben! Keine Panik!"
Es war Shnoiws Stimme.
Ruhig bleiben - leicht gesagt, wenn man bis zum Kinn im Sumpf steckt...
Die Stimme gab weiter Anweisungen. "Und jetzt breite die Arme aus, ganz langsam! Und streck dich ganz..."
Arme ausbreiten - wie sollte das denn gehen, wenn dieselben doch auf dem Rücken gefesselt waren? Aber strecken - na gut. Paril führte die Anweisungen der Stimme aus und fühlte alsdann, wie ihn eine Hand an der Schulter packte und zu ziehen versuchte. Vorerst ging nichts, der Sumpf hielt Paril fest. Die Hand suchte einen neuen Griffpunkt, zog stärker. Und jetzt begann Paril ganz langsam zu gleiten. Er drehte den Kopf - selten war ihm der Anblick eines Gesichtes willkommener gewesen. "Mensch, Shnoiw..." keuchte er. "Wo... wo kommst du her?"
"Nicht bewegen!!" bellte Shnoiw. "Bleib ausgestreckt! Und mach dich ganz schlaff..." Er hatte Paril jetzt mit beiden Armen im Griff und schob sich langsam rückwärts - Paril kam kaum dazu, sich zu fragen, wo Shnoiw sich eigentlich festhielt. Wie befohlen, liess er alles schlaff mit sich geschehen. Nach ein paar unendlich langen Minuten fühlte er festen Boden unter einer Schulter, und wieder eine Ewigkeit später kauerte der ganze Paril zitternd auf dem Weg.
Einmal mehr stellte er die erstaunliche Tatsache fest, dass er noch am Leben war.
Und als er den Kopf hob, stand das Ziel, für das er in den letzten Stunden gelebt hatte, unvermittelt direkt vor ihm! Der Schock der Erkenntnis traf Paril so völlig unvorbereitet, dass sich alle seine Muskeln verkrampften und er kein Wort herausbrachte.
Der angebliche frühere Hochmeister! Weniger denn je wie ein Hochmeister aussehend - zerlumpt und abgemagert und von oben bis unten mit grauem Schlamm beschmiert. War er das jetzt - die sagenumwobene lebende Gottheit des südlichen Pyramidalwalds? Dem Aussehen nach ein ganz normaler Mensch - natürlich. Ein mittelmässig grosser, etwas schmächtiger Mann in mittleren Jahren mit dunklem, dünn werdendem Haar, den Paril auf der Strasse vielleicht für einen Beamten oder Schreiber gehalten hätte. Er lächelte leicht und sagte etwas, aber Parils Ohren dröhnten so von innen, dass er nichts verstand. Er öffnete den Mund, aber kein Ton, nicht einmal ein Atemhauch kam hervor.
Verzweifelt kniff er die Augen zu und biss auf die Zähne. Was war mit ihm los? Die Priesterschaft von Asîmchômsaia war es gewesen, die mit ihrem Assing-Kult die menschlichen Züge Assings in Vergessenheit gebracht hatte. Es gab doch für Paril keinen Grund mehr, darauf hereinzufallen...
"Wor... Workash Kal", würgte er schliesslich hervor und öffnete die Augen wieder - da hatte sich der Workash Kal umgedreht und entfernte sich! Er hatte Paril für unwürdig befunden oder was? Workash Kal! wollte Paril schreien. Weise er mich nicht zurück! Ich will Ssai dienen! Lasse er mich als sein Knecht kämpfen gegen die Feinde Ssais, in Asîmchômsaia oder sonstwo... Halt, Stop! Quasselnder Quatschkopf! Wie der Räuberhauptmann sagen würde. Was für einen Blödsinn produzierte er da nur wieder... Diese Begegnung war gründlich schiefgegegangen - was natürlich so hatte kommen müssen, so überdreht, wie Parils Phantasie gespielt hatte. Zack, ins Meer geschmissen! Oder auch in den Sumpf...
In den Sumpf? Plötzlich durchfuhr es ihn siedendheiss. Andai und Temon! Die mussten auch hier irgendwo im Sumpf stecken. Höllenfeuer und Meer der Verdammnis - und er vergeudete hier seine Zeit! Er hätte sie ohne einen Gedanken sterben lassen, wenn es auf ihn angekommen wäre... Paril verspürte Lust, in den Sumpf zurückzuspringen. Wenn jetzt einer von ihnen umkam - dann würde Paril, verbrannt, verschimmelt und ersoffen, freiwillig in den Sumpf zurückspringen! Hastig rappelte er sich auf und lief dem Workash Kal nach.
Ein halbes Dutzend waren sie - abgezählt genau. Wieder fehlte einer.
"Shidai!" Temon zeigte zum erstenmal Zeichen von Erregung. "Was ist mit Shidai passiert?"
Shnoiw schaute düster. "Ja, Shidai... Der wird nicht mehr kommen. Gleich am Anfang ist er einer Orangenotter auf den Schwanz getreten - in seiner Ungeschicklichkeit, der Stadtmensch - und dann hat sie ihn gebissen..." Temon sagte nichts; aus seinem Gesicht wich jede Bewegung, so dass es mehr denn je wie ein Felsen aussah.
"Es ging alles sehr schnell", sagte der Workash Kal, "er war schon tot, als wir ihn verliessen. Man kann niemandem einen Vorwurf machen, am wenigsten Bêng Shnoiw; schliesslich hat er uns jetzt alle gerettet. Und das, obwohl wir ausdrücklich ausgemacht hatten, dass jeder für sich fliehen sollte!"
"Ich bin doch für mich geflohen!" widersprach Shnoiw. "Was glaubt ihr, wer ihr seid? Ich denke nicht daran, den Helden zu spielen. Ich habe den direkten Weg auf unseren Treffpunkt zu genommen; es war Zufall, dass die Lumpenbande euch gerade hierher gebracht hat..."
Paril war die ganze Zeit äusserlich unbeteiligt daneben gestanden, während in seinem Inneren ein vollständig anderer Diskurs ablief; nun legte er entschlossen die Handflächen zusammen. Wenn er jetzt wie ein Quatschkopf wirkte, war das nicht zu vermeiden - denn er brauchte endlich Klarheit, die endgültige Klarheit! Immer, seit Beginn dieser Höllenreise, war sie ihm ausgewichen - oder er ihr. Mit dem einen wie dem anderen war jetzt Schluss! "Workash Kal... Workash Kal..." Die Aufregung liess ihn stottern. "Ich muss es wissen.... Ist Er... War Er der Hochmeister Assing?"
Das Gesicht des Workash Kal verfinsterte sich - worauf Paril sofort vor Angst zu zittern begann. Was hatte er denn schon wieder falsch gemacht?!
"Hochmeister?" Missmutig trat der Workash Kal von einem Bein auf das andere. "Den Hochmeister Assing gibt es nicht mehr. Und es wird ihn nie mehr geben. Es gibt nur noch Assing - und bald wohl auch den nicht mehr..."
Paril hatte schon einige seelische Erschütterungen hinter sich - und dennoch traf ihn wieder ein Schock. Es stimmte - es stimmte also doch?! Er war es - Paril sprach mit einer lebenden Gottheit... Was soll ich sagen - was soll ich tun?! Wieder brachte er kein Wort hervor und vermochte nichts als sein Gegenüber unverwandt anzustarren.
Assing machte ein Gesicht, als ob er vor Paril Angst hätte, und begann, schrittweise zurückzuweichen, in Richtung der anderen. Er verstiess Paril zum zweitenmal?! Gerade als dieser Gedanke sich in Parils Kopf formen wollte, fiel dessen Blick auf das runde Gesicht von Andai - auf welchem jenes ihm so unliebsam bekannte breite, feixende, ironische Grinsen zu sehen war. Dieser Scheissfliegenkopf - wie nach einem kalten Regenguss war Paril plötzlich nüchtern. Vor dem da würde er sich nicht mehr blossstellen...
Die anderen waren dabei, das weitere Vorgehen zu besprechen. Es herrschte Einigkeit darüber, dass es, so entkräftet und matt sie auch waren, von hier möglichst zu verschwinden galt. Die Armee von Asîmchômsaia war ja offenbar an der Verfolgung der Räuber, und das hiess vor allem: sie war immer noch da - auch wenn Paril zweifelte, dass sie sich hierher wagen würden, wo das Wasser der Verdammnis herumlag. Aber auch was den Räubern noch einfallen mochte, konnte man nicht wissen. Und nun gab es offenbar hier in der Nähe einen Unterschlupf - jenen Ort, der ihr Treffpunkt gewesen wäre: eine kleine Höhle, die als Lagerstätte für Wanderer angelegt worden war. Dort würden sie sich endlich wieder einmal verpflegen können. Anschliessend, empfahl Shnoiw, sollten sie in die Berge weiterfliehen; irgendwo im näheren Umkreis gab es angeblich ein Dorf, wo Verwandte von ihm lebten.
Paril fuhr fort, unbeteiligt daneben zu stehen, während hinter seiner Stirn die Gedanken unaufhörlich weiter rumorten. Er hatte jetzt Klarheit - so viel, wie überhaupt möglich war. Und nun stellte sich unausweichlich die Frage: wie weiter? Sollte er mit ihnen weiterfliehen und ein Ketzer werden? Oder eher ein Jünger des heiligen Assing? Sollte er in den Wald zurück und die Wahrheit verkünden - und wahrscheinlich geschnappt und hingerichtet werden? Oder sollte er etwa hierbleiben und ein Räuber werden? (Ha ha, was für ein Schwachsinn...) Die ganzen Überlegungen, die er auf dem Weg hierher gemacht hatte, waren jetzt eigentlich wiederaufzunehmen... Indes gab es ein Gedankenbild, welches alle anderen Argumente immer deutlicher überlagerte: er war am Rande der Erschöpfung, und es bestand endlich eine unmittelbare Aussicht auf Ausruhen und Nahrung... Es war vollkommen klar, dass Paril im Augenblick gar keine andere Wahl hatte, als weiterhin mit den Ausbrechern mitzulaufen.
Die Schwüle irritierte ihn besonders - die Schwüle und diese Wolken, die in seinen Augenwinkeln auftauchten, wenn er es doch einmal wagte, schnell hoch zu linsen. Und da - diesmal hatte er es ganz genau gehört: ein Donnergrollen! Alles, was seine Sinne auffingen, deutete darauf hin - und inzwischen wunderte sich Paril nicht einmal mehr darüber - dass es in der Nähe ein Gewitter gab!
Uemonni blieb abrupt stehen. "Steinhagel verschimmelter!" entfuhr es ihm. "Die Front da vorne sieht aber gar nicht gut aus..."
Shnoiw war fast gleichzeitig stehengeblieben und starrte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Berge. "Ja..." murmelte er. "Wir sollten uns ein bisschen beeilen, damit wir oben sind, bevor es dort runterkommt..."
"Hmm - was?" schrak Paril auf. "Herunterkommt? Was kommt runter?"
Shnoiw mass ihn kurz von der Seite. "Ach so, der Bürger von Ssai kennt das nicht. Na, siehst du die Wolken? Es hat gewittert da oben. Und das Wasser fliesst nach unten, durch die Täler. Und wenn es hier ankommt, ist es ein reissender Fluss, in dem alle ersaufen. Und zwar richtig ersaufen, im reinsten Sinne des Wortes!"
Paril starrte ihn schockiert an. Er begriff nicht sofort; zunächst hörte er nur "Ersaufen" - ein Wort, dass sofort eine Masse scheusslicher Vorstellungen produzierte, der schlimmste Tod, den er sich vorstellen konnte. Dann begann er langsam, den Rest des Satzes zu fassen - und jegliche Horrorvorstellung von vorhin wurde in den Schatten gestellt. "Das... das ist pervers!!" Das Mass war endgültig voll; nun brach der ganze angestaute Frust aus Paril heraus. "Was soll das hier, dies grässliche Land, von unten wirds von Kerr heimgesucht und von oben auch noch - hier liegt ein Fluch, das sieht doch jeder, wie kann ein Mensch mit ein bisschen Verstand bloss hierherkommen..."
"Na, als Baumbesitzer ist es wohl klar..." Andai liess ein verächtliches Lachen hören. "Aber frag doch mal einen eurer Sklaven, ob er nicht lieber ein freier Mann sein möchte..."
"Kein Schnorren!" unterbrach ihn Uemonni heftig. "Gehn wir!"
Das Tempo, das die abgezehrten Gestalten plötzlich anschlugen, war erstaunlich; Paril hatte anfänglich gar Mühe. mitzuhalten. Die grimmig angestrengten Gesichter von Uemonni, Shnoiw und Temon überzeugten ihn freilich rasch genug von der Dringlichkeit der Situation; beim Versuch aber, sich das vorzustellen, was angeblich drohte, war er auf seine Horrorphantasien angewiesen. Sterben an sich war normal - aber, sagte er sich wieder und wieder, nicht ersaufen! Und mit zusammengebissenen Zähnen suchte er in seinem Gedächtnis nach Passagen des Grünen Buches, die vom stehenden Wasser als Inbegriff des Bösen handelten:
"Die Seligen im Himmelsmeere wohnen,
Hoch, wo das Feuer ist des Wassers Freund.
Des Sünders Seele aber tauchet unter
Im untern Meer, dem irdischen, dem dunklen.
Oh Mensch, welch ein beklagenswertes Los!
Todfeinde sind das Feuer und das Wasser
In Sicht von Ssai. Drum wird des Menschen Feuer
Wenn er ins Meer hineintaucht, ausgelöscht;
Geistlos wird nun er durch die Wasser treiben..."
Manchmal warf er mit Schauder einen Blick nach vorne auf die monströsen Berge. Dort war inzwischen der Eingang einer tiefen Schlucht zu sehen, die steil in die Berge hinaufführte; von dort also, aus jenem gähnenden Schlund, sollte sich die alles verschlingende Wasserflut ergiessen? Und war da nicht eine Vibration, ein entferntes Dröhnen in der Luft zu spüren? Oder war das schon wieder ein Produkt von Parils Einbildung und der schwülen, drückenden Hitze?
Den Ort, der ihnen Schutz vor dem Wasser geben sollte, konnte man schon sehen: eine Art schmale Terrasse auf halber Höhe eines links vom Schluchteneingang vorspringenden Ausläufers der Metallberge, eines kleinen Hügels im Vergleich zum Hauptgebirge. Es schien ganz nah und leicht zu erreichen - doch der Weg dahin zog sich unglaublich in die Länge. Um sie herum dehnte sich weiterhin in alle Richtungen diese unheimliche Sumpflandschaft mit den mannshohen, weisslichen, dünnen Halmen, die rauschten, wenn plötzlich ein paar plumpe Vögel mit flappendem Flügelschlag das Weite suchten. Und zu ihrem grossem Ärger und Parils noch grösserer Panik konnten sie nicht einfach geradeaus marschieren, sondern wurden ständig zu Richtungsänderungen, ja manchmal sogar zum Umkehren gezwungen, weil es allenthalben plötzlich keinen festen Boden mehr gab. Glücklicherweise verlor Shnoiw nie die Orientierung, und ihr Ziel kam auch ständig näher - gleichzeitig jedoch wuchs der vermeintlich kleine Hügel unversehens zu ungeahnter Höhe an. So wurde die Aussicht, aus dem Sumpf herauszukommen, mehr und mehr getrübt durch die Angst, dort hinaufzumüssen.
Und als dies dann tatsächlich geschah - als sie auf einem endlich wieder harten Pfad standen, der zwischen roten Felsblöcken, graugrünen Flechten und krummen Nadelbäumen schräg aufwärts führte - da wurden Parils kühnste Befürchtungen noch übertroffen. Stetiges Aufwärtssteigen, noch dazu im Zustand kurz vor dem Kollaps, erwies sich für ihn, den Flachländer, als ganz besondere Folter. Doch es trieb ihn weiter - denn es war jetzt unüberhörbar: ein Dröhnen in der Ferne! Irgend etwas unsagbar Grosses, unsagbar Unheimliches war da in Bewegung - und so quälte sich Paril denn den schmalen Pfad entlang: ein Stück geradeaus, dann eine enge Kurve, dann ein Stück in die Gegenrichtung - und immer aufwärts.
Jeder Blick nach oben erzeugte sofort einen Stich in der Magengrube, weil die Terrasse überhaupt nicht näherzukommen schien; deswegen unterliess er diese Blicke mit der Zeit. Lediglich in die Schlucht warf er dann und wann einen zaghaften Blick; man sah mittlerweile ziemlich tief hinein, aber das Bild vor seinen Augen blieb auch hier gleich: steile, grün mit krummstehenden Bäumen bewaldete Hänge, auf dem Grund dagegen Mengen von Geröll, Sand, umgestürzten Felsblöcken und allen Arten von Unkraut. Alles wabernd in der Hitze - oder vielmehr zitternd unter den zunehmenden Vibrationen des Bodens?
Paril benötigte keine Horrorphantasien mehr; ungeahnte Kraftreserven wurden mobilisiert, und er schien fast zu fliegen - stolpernd, keuchend und hustend. Kleine Lawinen von Steinen kollerten in regelmässigen Abständen den steilen Hang hinunter, wenn sein Fuss den schmalen Pfad zu verfehlen drohte. Paril wankte, verlor das Gleichgewicht, riss sich mit dem Gedanken ERSAUFEN wieder hoch, hetzte weiter...
Ersaufen! Ersaufen! Hypnotisch stand das Wort in seinen Gedanken - oder vielmehr stand es da anstatt Gedanken, so brennend wie die weissglühende Sonnenscheibe...
Die Welt um Paril begann sich zu drehen - er trat einmal mehr daneben, löste eine weitere Steinlawine aus, schwankte und fiel...
Sofort nahm er die Umsetzung dieses Gedankens in Angrff - doch aus unerfindlichen Gründen wollten ihm plötzlich seine Glieder nicht mehr gehorchen - sie weigerten sich, Teil eines grösseren Ganzen zu sein. KETZER! blitzte es auf in Parils Kopf - an die Adresse seiner Beine. HINAUFKRIECHEN SAG ICH!
Doch in welche Richtung ging es überhaupt hinauf? Er konnte nichts erkennen; selbst wenn er die Augen aufriss wie besessen, konnte er die Schemen, Schatten und Formen, die er wahrnahm, nicht verstehen; ausserdem drehte sich weiterhin alles um ihn. Auch seine Augen weigerten sich, Teil eines Ganzen zu sein... Die Teile gehören nicht mehr zusammen - DAS IST DER TOD! schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Es gab keine Zweifel - dies war genau das, was das Grüne Buch als Tod definierte. Na denn, im Namen der vier Urgewalten. Tod ist Tod, ob Ersaufen oder nicht...
Und der Typ dort, Temon war es, der sollte alleine weitersteigen und Paril bloss in Ruhe lassen... Aber Paril versuchte nicht einmal, ihm das zuzurufen, denn auch seine Stimme gehorchte ihm jetzt wohl nicht mehr. Und selbst wenn, so hätte wahrscheinlich ein solcher Ruf auf Temon gar nicht gewirkt, der da mit zusammengebissenen Zähnen und stierem Blick herabgeklettert kam. Jetzt versuchte er, Paril hochzuzerren, was ihm aber trotz anscheinend grösster Anstrengung nicht gelang. Paril schaute in sein Gesicht, das zu einer schmerzhaften Fratze verzerrt war. "Hör doch auf! Gib dir keine Mühe!" wollte Paril sagen.
Da erschien weiter oben eine zweite Gestalt - Shnoiw. Auch ihr Gesicht war verzerrt und in heftiger Bewegung, als ob sie etwas brüllte. Kurze Zeit funktionierten Parils Ohren wieder, und da klang es wie "Hinlegen! Flach hinlegen!!" Dann plötzlich schwankte die Gestalt und begann, auf sie zuzukollern.
Und im nächsten Moment fegte ein jäher Windstoss über sie hinweg; Temon verlor das Gleichgewicht und fiel. Sie rutschten in die Tiefe, der eine den anderen mitziehend - und beide geschoben von dem orkanartigen Wind, der sich plötzlich erhoben hatte. Das Dröhnen wurde plötzlich laut, wurde zum Brüllen. Paril schlug sich die Knie, die Hüften, den Rücken, die Schultern an; eine Woge von Schmerzen überrollte ihn, während er immer tiefer kollerte. Jetzt gibts Ersaufen! Ersaufen! ERSAUFEN! Noch einmal, brennender als je, stand dieses Wort in seinem Gehirn, bevor er sich auch den Kopf anschlug und seine Gedanken sich in sprühende Sterne auflösten.
He, was soll das?! Wer haut mir da auf die Backen? Hör auf, du Wildschwein! Ach, das ist ja schon wieder Temon. Bist du jetzt auch ersoffen?
Der antwortet nicht. Was für ein komisches Gesicht er macht... Jetzt ballt er die Faust und boxt in die Luft... Und jetzt...
"YEEEAAHAOUWW!!"
Ein trommelfellzerreissender Schrei liess Paril zusammenfahren. Sofort begann er wieder zu rutschen - um wenig später durch einen derben Zusammenprall mit einem Baumstamm wieder zum Halten zu kommen.
Er lag immer noch an diesem blöden Abhang! Aber soviel stand fest: anstrengen würde er sich jetzt nicht mehr.
Aber was war mit Temon los? Der machte ein ganz furchterregendes Gesicht: quer über beide Backen und alle Narben hinweg spannte sich ein so gewaltig breites Grinsen, dass Paril meinte, sein Gesicht müsse zerreissen. Dabei schaute er abwechselnd Paril an und an ihm vorbei in die Tiefe.
Reflexartig schaute Paril auch hinunter - und der Atem stockte ihm.
Das an sich war ihm ja in letzter Zeit schon mehrmals passiert - aber das, was sich nun seinen Augen bot, war die Krönung, die absolute Kumulation, in jeder Hinsicht der Höhepunkt - als Folge dessen er sofort wieder ein Stück tiefer rutschte.
Nichts von dem, was er vorhin gesehen hatte, war noch zu erkennen. Die verkrümmten Bäume, die Felsblöcke, das Unkraut waren verschwunden. Die langhalsigen Sumpfpflanzen waren verschwunden. An ihrer Stelle dehnte sich - eine gelbbraune, weissschäumende, sich donnernd nach Westen wälzende Wassermasse. Kerr, der Gott, die alles zerstörende Urgewalt!
Paril schlug die Hände vor den Kopf und riss den Kopf herum und rutschte wieder ein Stück weiter. Es dauerte einige Minuten, ehe er imstande war, den Kopf wieder zu heben - und was er sah, war immer noch Temon, der weiterhin unverwandt entzückt hinabschaute, ohne ein Wort zu sagen.
Ganz langsam und vorsichtig drehte Paril den Kopf und suchte das, was er eben gesehen hatte, mit seinem Augenwinkel.
Und dann stieg ehrliche Entrüstung in ihm hoch.
"Bei allen Wasserteufeln!" schrie er. "So tief unten! Und dafür hab ich so hoch steigen müssen?!"
Die langen dünnen Halme waren weder giftig noch fleischfressend, sie gaben sofort nach; und auch der Aufprall war nicht hart.
Aber feucht.
Der ganze Boden hier war durchtränkt mit Wasser! Mit Wasser? Mitten im Sommer?! Wasser gehörte in den Himmel oder aber in die Pflanzenstengel. Wasser, das frei herumlag, war teuflisch - wie das Meer der Verdammnis! Angeekelt zuckte Paril zusammen - im nächsten Augenblick war er bereits über eine Handbreit eingesunken. Was wie Erde aussah, hatte die Konsistenz von Mus!
Paril hatte keine Erfahrung mit Sümpfen. Er versuchte sich aufzurichten - und musste feststellen, dass es kein Stehen gab: in dem Masse, in dem er den Oberkörper aufrichtete, sanken seine Beine und seine Füsse tiefer in den grauen Schlamm... Er geriet in Panik und begann, unkontrolliert zu zucken und mit den Beinen auszuschlagen; doch jede Bewegung zog ihn ein Stück tiefer hinein...
Paril schrie. Schrie um Hilfe.
Niemand hörte ihn. Natürlich. Er war allein, allein mit diesem teuflischen, übelriechenden Schlamm! Es war klar, was sich die Banditen gedacht hatten. In wenigen Minuten würden er - und wahrscheinlich auch die anderen - völlig versunken sein; die Räuber würden sie los sein, ohne sich die Schwerter dreckig zu machen. Und ohne eine Spur zurückzulassen: Asîmchômsaia würde sie nicht finden. Das war die Rache der Räuber für das nicht gezahlte Lösegeld...
Diesmal galt es. Die Stunde war gekommen. Nimm es nicht so tragisch, Junge. Einmal kommt es sowieso, und schliesslich hast du es noch erstaunlich weit geschafft. Aber jetzt musst du die Totenverse aus dem Grünen Buch sprechen. Denk nach... Uh, es reicht schon bis zur Brust. Hoffentlich bleibt mir genügend Zeit... Ssukr, es ist doch eine grässliche Art zu sterben. Vielleicht sollte ich die Qual abkürzen, indem ich gleich ganz untertauche...
Da drang eine Stimme an sein Ohr. Er verstand nicht, was sie rief. Paril versuchte, den Kopf zu drehen - und erreichte, dass ihm der Schlamm bis zum Hals stieg.
"Nicht bewegen!" rief die Stimme. Na gut, dann eben nicht. "Ganz ruhig bleiben! Keine Panik!"
Es war Shnoiws Stimme.
Ruhig bleiben - leicht gesagt, wenn man bis zum Kinn im Sumpf steckt...
Die Stimme gab weiter Anweisungen. "Und jetzt breite die Arme aus, ganz langsam! Und streck dich ganz..."
Arme ausbreiten - wie sollte das denn gehen, wenn dieselben doch auf dem Rücken gefesselt waren? Aber strecken - na gut. Paril führte die Anweisungen der Stimme aus und fühlte alsdann, wie ihn eine Hand an der Schulter packte und zu ziehen versuchte. Vorerst ging nichts, der Sumpf hielt Paril fest. Die Hand suchte einen neuen Griffpunkt, zog stärker. Und jetzt begann Paril ganz langsam zu gleiten. Er drehte den Kopf - selten war ihm der Anblick eines Gesichtes willkommener gewesen. "Mensch, Shnoiw..." keuchte er. "Wo... wo kommst du her?"
"Nicht bewegen!!" bellte Shnoiw. "Bleib ausgestreckt! Und mach dich ganz schlaff..." Er hatte Paril jetzt mit beiden Armen im Griff und schob sich langsam rückwärts - Paril kam kaum dazu, sich zu fragen, wo Shnoiw sich eigentlich festhielt. Wie befohlen, liess er alles schlaff mit sich geschehen. Nach ein paar unendlich langen Minuten fühlte er festen Boden unter einer Schulter, und wieder eine Ewigkeit später kauerte der ganze Paril zitternd auf dem Weg.
Einmal mehr stellte er die erstaunliche Tatsache fest, dass er noch am Leben war.
Und als er den Kopf hob, stand das Ziel, für das er in den letzten Stunden gelebt hatte, unvermittelt direkt vor ihm! Der Schock der Erkenntnis traf Paril so völlig unvorbereitet, dass sich alle seine Muskeln verkrampften und er kein Wort herausbrachte.
Der angebliche frühere Hochmeister! Weniger denn je wie ein Hochmeister aussehend - zerlumpt und abgemagert und von oben bis unten mit grauem Schlamm beschmiert. War er das jetzt - die sagenumwobene lebende Gottheit des südlichen Pyramidalwalds? Dem Aussehen nach ein ganz normaler Mensch - natürlich. Ein mittelmässig grosser, etwas schmächtiger Mann in mittleren Jahren mit dunklem, dünn werdendem Haar, den Paril auf der Strasse vielleicht für einen Beamten oder Schreiber gehalten hätte. Er lächelte leicht und sagte etwas, aber Parils Ohren dröhnten so von innen, dass er nichts verstand. Er öffnete den Mund, aber kein Ton, nicht einmal ein Atemhauch kam hervor.
Verzweifelt kniff er die Augen zu und biss auf die Zähne. Was war mit ihm los? Die Priesterschaft von Asîmchômsaia war es gewesen, die mit ihrem Assing-Kult die menschlichen Züge Assings in Vergessenheit gebracht hatte. Es gab doch für Paril keinen Grund mehr, darauf hereinzufallen...
"Wor... Workash Kal", würgte er schliesslich hervor und öffnete die Augen wieder - da hatte sich der Workash Kal umgedreht und entfernte sich! Er hatte Paril für unwürdig befunden oder was? Workash Kal! wollte Paril schreien. Weise er mich nicht zurück! Ich will Ssai dienen! Lasse er mich als sein Knecht kämpfen gegen die Feinde Ssais, in Asîmchômsaia oder sonstwo... Halt, Stop! Quasselnder Quatschkopf! Wie der Räuberhauptmann sagen würde. Was für einen Blödsinn produzierte er da nur wieder... Diese Begegnung war gründlich schiefgegegangen - was natürlich so hatte kommen müssen, so überdreht, wie Parils Phantasie gespielt hatte. Zack, ins Meer geschmissen! Oder auch in den Sumpf...
In den Sumpf? Plötzlich durchfuhr es ihn siedendheiss. Andai und Temon! Die mussten auch hier irgendwo im Sumpf stecken. Höllenfeuer und Meer der Verdammnis - und er vergeudete hier seine Zeit! Er hätte sie ohne einen Gedanken sterben lassen, wenn es auf ihn angekommen wäre... Paril verspürte Lust, in den Sumpf zurückzuspringen. Wenn jetzt einer von ihnen umkam - dann würde Paril, verbrannt, verschimmelt und ersoffen, freiwillig in den Sumpf zurückspringen! Hastig rappelte er sich auf und lief dem Workash Kal nach.
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Die Rettungsmethode war einfach, aber man musste darauf kommen. Zuerst warfen sie ein paar dicke Äste in den Sumpf (Kerr mochte wissen, wo sie die aufgetrieben hatten); diese versanken nicht, sondern schwammen obenauf. Dann legte sich Shnoiw flach auf den Boden und begann hinauszukriechen, wobei er natürlich sofort einsank (das Holz konnte nur einen Teil seines Gewichtes aufnehmen), jedoch dabei vom Workash Kal und Uemonni, den Paril erst jetzt bemerkte, an den Füssen festgehalten wurde. Es war für alle harte Arbeit, und als sich schliesslich ein halbes Dutzend graue Schlammgestalten ohne Fesseln in der schwülen Nachmittagssonne gegenüberstand, waren alle erschöpfter denn je.Ein halbes Dutzend waren sie - abgezählt genau. Wieder fehlte einer.
"Shidai!" Temon zeigte zum erstenmal Zeichen von Erregung. "Was ist mit Shidai passiert?"
Shnoiw schaute düster. "Ja, Shidai... Der wird nicht mehr kommen. Gleich am Anfang ist er einer Orangenotter auf den Schwanz getreten - in seiner Ungeschicklichkeit, der Stadtmensch - und dann hat sie ihn gebissen..." Temon sagte nichts; aus seinem Gesicht wich jede Bewegung, so dass es mehr denn je wie ein Felsen aussah.
"Es ging alles sehr schnell", sagte der Workash Kal, "er war schon tot, als wir ihn verliessen. Man kann niemandem einen Vorwurf machen, am wenigsten Bêng Shnoiw; schliesslich hat er uns jetzt alle gerettet. Und das, obwohl wir ausdrücklich ausgemacht hatten, dass jeder für sich fliehen sollte!"
"Ich bin doch für mich geflohen!" widersprach Shnoiw. "Was glaubt ihr, wer ihr seid? Ich denke nicht daran, den Helden zu spielen. Ich habe den direkten Weg auf unseren Treffpunkt zu genommen; es war Zufall, dass die Lumpenbande euch gerade hierher gebracht hat..."
Paril war die ganze Zeit äusserlich unbeteiligt daneben gestanden, während in seinem Inneren ein vollständig anderer Diskurs ablief; nun legte er entschlossen die Handflächen zusammen. Wenn er jetzt wie ein Quatschkopf wirkte, war das nicht zu vermeiden - denn er brauchte endlich Klarheit, die endgültige Klarheit! Immer, seit Beginn dieser Höllenreise, war sie ihm ausgewichen - oder er ihr. Mit dem einen wie dem anderen war jetzt Schluss! "Workash Kal... Workash Kal..." Die Aufregung liess ihn stottern. "Ich muss es wissen.... Ist Er... War Er der Hochmeister Assing?"
Das Gesicht des Workash Kal verfinsterte sich - worauf Paril sofort vor Angst zu zittern begann. Was hatte er denn schon wieder falsch gemacht?!
"Hochmeister?" Missmutig trat der Workash Kal von einem Bein auf das andere. "Den Hochmeister Assing gibt es nicht mehr. Und es wird ihn nie mehr geben. Es gibt nur noch Assing - und bald wohl auch den nicht mehr..."
Paril hatte schon einige seelische Erschütterungen hinter sich - und dennoch traf ihn wieder ein Schock. Es stimmte - es stimmte also doch?! Er war es - Paril sprach mit einer lebenden Gottheit... Was soll ich sagen - was soll ich tun?! Wieder brachte er kein Wort hervor und vermochte nichts als sein Gegenüber unverwandt anzustarren.
Assing machte ein Gesicht, als ob er vor Paril Angst hätte, und begann, schrittweise zurückzuweichen, in Richtung der anderen. Er verstiess Paril zum zweitenmal?! Gerade als dieser Gedanke sich in Parils Kopf formen wollte, fiel dessen Blick auf das runde Gesicht von Andai - auf welchem jenes ihm so unliebsam bekannte breite, feixende, ironische Grinsen zu sehen war. Dieser Scheissfliegenkopf - wie nach einem kalten Regenguss war Paril plötzlich nüchtern. Vor dem da würde er sich nicht mehr blossstellen...
Die anderen waren dabei, das weitere Vorgehen zu besprechen. Es herrschte Einigkeit darüber, dass es, so entkräftet und matt sie auch waren, von hier möglichst zu verschwinden galt. Die Armee von Asîmchômsaia war ja offenbar an der Verfolgung der Räuber, und das hiess vor allem: sie war immer noch da - auch wenn Paril zweifelte, dass sie sich hierher wagen würden, wo das Wasser der Verdammnis herumlag. Aber auch was den Räubern noch einfallen mochte, konnte man nicht wissen. Und nun gab es offenbar hier in der Nähe einen Unterschlupf - jenen Ort, der ihr Treffpunkt gewesen wäre: eine kleine Höhle, die als Lagerstätte für Wanderer angelegt worden war. Dort würden sie sich endlich wieder einmal verpflegen können. Anschliessend, empfahl Shnoiw, sollten sie in die Berge weiterfliehen; irgendwo im näheren Umkreis gab es angeblich ein Dorf, wo Verwandte von ihm lebten.
Paril fuhr fort, unbeteiligt daneben zu stehen, während hinter seiner Stirn die Gedanken unaufhörlich weiter rumorten. Er hatte jetzt Klarheit - so viel, wie überhaupt möglich war. Und nun stellte sich unausweichlich die Frage: wie weiter? Sollte er mit ihnen weiterfliehen und ein Ketzer werden? Oder eher ein Jünger des heiligen Assing? Sollte er in den Wald zurück und die Wahrheit verkünden - und wahrscheinlich geschnappt und hingerichtet werden? Oder sollte er etwa hierbleiben und ein Räuber werden? (Ha ha, was für ein Schwachsinn...) Die ganzen Überlegungen, die er auf dem Weg hierher gemacht hatte, waren jetzt eigentlich wiederaufzunehmen... Indes gab es ein Gedankenbild, welches alle anderen Argumente immer deutlicher überlagerte: er war am Rande der Erschöpfung, und es bestand endlich eine unmittelbare Aussicht auf Ausruhen und Nahrung... Es war vollkommen klar, dass Paril im Augenblick gar keine andere Wahl hatte, als weiterhin mit den Ausbrechern mitzulaufen.
***
Als sie dann liefen, wurde es noch klarer. War Paril im Pyramidalwald sozusagen der Führer gewesen, so traute es sich jetzt kaum aufzuschauen; wenn er einmal den Blick furchtsam hob, dann bestimmt niemals bis zu jenem abgrundtiefen Himmel - und er liess ihn schnellstens wieder zu seinen Füssen zurückkehren, wenn unter ihnen der Morast verdächtig gluckste und schmatzte oder der Boden nur ein bisschen nachgab. Hätte er allein einen trockenen Weg aus dem Sumpf heraus suchen müssen - er wäre schnell verloren gewesen. Dazu noch dieser Modergeruch in der Luft und diese Schwüle wie vor einem Gewitter - bei Ssai, wie sehr zog es ihn zurück in den Wald!Die Schwüle irritierte ihn besonders - die Schwüle und diese Wolken, die in seinen Augenwinkeln auftauchten, wenn er es doch einmal wagte, schnell hoch zu linsen. Und da - diesmal hatte er es ganz genau gehört: ein Donnergrollen! Alles, was seine Sinne auffingen, deutete darauf hin - und inzwischen wunderte sich Paril nicht einmal mehr darüber - dass es in der Nähe ein Gewitter gab!
Uemonni blieb abrupt stehen. "Steinhagel verschimmelter!" entfuhr es ihm. "Die Front da vorne sieht aber gar nicht gut aus..."
Shnoiw war fast gleichzeitig stehengeblieben und starrte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Berge. "Ja..." murmelte er. "Wir sollten uns ein bisschen beeilen, damit wir oben sind, bevor es dort runterkommt..."
"Hmm - was?" schrak Paril auf. "Herunterkommt? Was kommt runter?"
Shnoiw mass ihn kurz von der Seite. "Ach so, der Bürger von Ssai kennt das nicht. Na, siehst du die Wolken? Es hat gewittert da oben. Und das Wasser fliesst nach unten, durch die Täler. Und wenn es hier ankommt, ist es ein reissender Fluss, in dem alle ersaufen. Und zwar richtig ersaufen, im reinsten Sinne des Wortes!"
Paril starrte ihn schockiert an. Er begriff nicht sofort; zunächst hörte er nur "Ersaufen" - ein Wort, dass sofort eine Masse scheusslicher Vorstellungen produzierte, der schlimmste Tod, den er sich vorstellen konnte. Dann begann er langsam, den Rest des Satzes zu fassen - und jegliche Horrorvorstellung von vorhin wurde in den Schatten gestellt. "Das... das ist pervers!!" Das Mass war endgültig voll; nun brach der ganze angestaute Frust aus Paril heraus. "Was soll das hier, dies grässliche Land, von unten wirds von Kerr heimgesucht und von oben auch noch - hier liegt ein Fluch, das sieht doch jeder, wie kann ein Mensch mit ein bisschen Verstand bloss hierherkommen..."
"Na, als Baumbesitzer ist es wohl klar..." Andai liess ein verächtliches Lachen hören. "Aber frag doch mal einen eurer Sklaven, ob er nicht lieber ein freier Mann sein möchte..."
"Kein Schnorren!" unterbrach ihn Uemonni heftig. "Gehn wir!"
***
Und sie gingen.Das Tempo, das die abgezehrten Gestalten plötzlich anschlugen, war erstaunlich; Paril hatte anfänglich gar Mühe. mitzuhalten. Die grimmig angestrengten Gesichter von Uemonni, Shnoiw und Temon überzeugten ihn freilich rasch genug von der Dringlichkeit der Situation; beim Versuch aber, sich das vorzustellen, was angeblich drohte, war er auf seine Horrorphantasien angewiesen. Sterben an sich war normal - aber, sagte er sich wieder und wieder, nicht ersaufen! Und mit zusammengebissenen Zähnen suchte er in seinem Gedächtnis nach Passagen des Grünen Buches, die vom stehenden Wasser als Inbegriff des Bösen handelten:
"Die Seligen im Himmelsmeere wohnen,
Hoch, wo das Feuer ist des Wassers Freund.
Des Sünders Seele aber tauchet unter
Im untern Meer, dem irdischen, dem dunklen.
Oh Mensch, welch ein beklagenswertes Los!
Todfeinde sind das Feuer und das Wasser
In Sicht von Ssai. Drum wird des Menschen Feuer
Wenn er ins Meer hineintaucht, ausgelöscht;
Geistlos wird nun er durch die Wasser treiben..."
Manchmal warf er mit Schauder einen Blick nach vorne auf die monströsen Berge. Dort war inzwischen der Eingang einer tiefen Schlucht zu sehen, die steil in die Berge hinaufführte; von dort also, aus jenem gähnenden Schlund, sollte sich die alles verschlingende Wasserflut ergiessen? Und war da nicht eine Vibration, ein entferntes Dröhnen in der Luft zu spüren? Oder war das schon wieder ein Produkt von Parils Einbildung und der schwülen, drückenden Hitze?
Den Ort, der ihnen Schutz vor dem Wasser geben sollte, konnte man schon sehen: eine Art schmale Terrasse auf halber Höhe eines links vom Schluchteneingang vorspringenden Ausläufers der Metallberge, eines kleinen Hügels im Vergleich zum Hauptgebirge. Es schien ganz nah und leicht zu erreichen - doch der Weg dahin zog sich unglaublich in die Länge. Um sie herum dehnte sich weiterhin in alle Richtungen diese unheimliche Sumpflandschaft mit den mannshohen, weisslichen, dünnen Halmen, die rauschten, wenn plötzlich ein paar plumpe Vögel mit flappendem Flügelschlag das Weite suchten. Und zu ihrem grossem Ärger und Parils noch grösserer Panik konnten sie nicht einfach geradeaus marschieren, sondern wurden ständig zu Richtungsänderungen, ja manchmal sogar zum Umkehren gezwungen, weil es allenthalben plötzlich keinen festen Boden mehr gab. Glücklicherweise verlor Shnoiw nie die Orientierung, und ihr Ziel kam auch ständig näher - gleichzeitig jedoch wuchs der vermeintlich kleine Hügel unversehens zu ungeahnter Höhe an. So wurde die Aussicht, aus dem Sumpf herauszukommen, mehr und mehr getrübt durch die Angst, dort hinaufzumüssen.
Und als dies dann tatsächlich geschah - als sie auf einem endlich wieder harten Pfad standen, der zwischen roten Felsblöcken, graugrünen Flechten und krummen Nadelbäumen schräg aufwärts führte - da wurden Parils kühnste Befürchtungen noch übertroffen. Stetiges Aufwärtssteigen, noch dazu im Zustand kurz vor dem Kollaps, erwies sich für ihn, den Flachländer, als ganz besondere Folter. Doch es trieb ihn weiter - denn es war jetzt unüberhörbar: ein Dröhnen in der Ferne! Irgend etwas unsagbar Grosses, unsagbar Unheimliches war da in Bewegung - und so quälte sich Paril denn den schmalen Pfad entlang: ein Stück geradeaus, dann eine enge Kurve, dann ein Stück in die Gegenrichtung - und immer aufwärts.
Jeder Blick nach oben erzeugte sofort einen Stich in der Magengrube, weil die Terrasse überhaupt nicht näherzukommen schien; deswegen unterliess er diese Blicke mit der Zeit. Lediglich in die Schlucht warf er dann und wann einen zaghaften Blick; man sah mittlerweile ziemlich tief hinein, aber das Bild vor seinen Augen blieb auch hier gleich: steile, grün mit krummstehenden Bäumen bewaldete Hänge, auf dem Grund dagegen Mengen von Geröll, Sand, umgestürzten Felsblöcken und allen Arten von Unkraut. Alles wabernd in der Hitze - oder vielmehr zitternd unter den zunehmenden Vibrationen des Bodens?
Paril benötigte keine Horrorphantasien mehr; ungeahnte Kraftreserven wurden mobilisiert, und er schien fast zu fliegen - stolpernd, keuchend und hustend. Kleine Lawinen von Steinen kollerten in regelmässigen Abständen den steilen Hang hinunter, wenn sein Fuss den schmalen Pfad zu verfehlen drohte. Paril wankte, verlor das Gleichgewicht, riss sich mit dem Gedanken ERSAUFEN wieder hoch, hetzte weiter...
Ersaufen! Ersaufen! Hypnotisch stand das Wort in seinen Gedanken - oder vielmehr stand es da anstatt Gedanken, so brennend wie die weissglühende Sonnenscheibe...
Die Welt um Paril begann sich zu drehen - er trat einmal mehr daneben, löste eine weitere Steinlawine aus, schwankte und fiel...
***
Es schmerzte nicht besonders, und er kollerte auch nicht weit, sondern rutschte nur ein Stück. ERSAUFEN! dachte es in ihm, und HOCHKRIECHEN!Sofort nahm er die Umsetzung dieses Gedankens in Angrff - doch aus unerfindlichen Gründen wollten ihm plötzlich seine Glieder nicht mehr gehorchen - sie weigerten sich, Teil eines grösseren Ganzen zu sein. KETZER! blitzte es auf in Parils Kopf - an die Adresse seiner Beine. HINAUFKRIECHEN SAG ICH!
Doch in welche Richtung ging es überhaupt hinauf? Er konnte nichts erkennen; selbst wenn er die Augen aufriss wie besessen, konnte er die Schemen, Schatten und Formen, die er wahrnahm, nicht verstehen; ausserdem drehte sich weiterhin alles um ihn. Auch seine Augen weigerten sich, Teil eines Ganzen zu sein... Die Teile gehören nicht mehr zusammen - DAS IST DER TOD! schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Es gab keine Zweifel - dies war genau das, was das Grüne Buch als Tod definierte. Na denn, im Namen der vier Urgewalten. Tod ist Tod, ob Ersaufen oder nicht...
Und der Typ dort, Temon war es, der sollte alleine weitersteigen und Paril bloss in Ruhe lassen... Aber Paril versuchte nicht einmal, ihm das zuzurufen, denn auch seine Stimme gehorchte ihm jetzt wohl nicht mehr. Und selbst wenn, so hätte wahrscheinlich ein solcher Ruf auf Temon gar nicht gewirkt, der da mit zusammengebissenen Zähnen und stierem Blick herabgeklettert kam. Jetzt versuchte er, Paril hochzuzerren, was ihm aber trotz anscheinend grösster Anstrengung nicht gelang. Paril schaute in sein Gesicht, das zu einer schmerzhaften Fratze verzerrt war. "Hör doch auf! Gib dir keine Mühe!" wollte Paril sagen.
Da erschien weiter oben eine zweite Gestalt - Shnoiw. Auch ihr Gesicht war verzerrt und in heftiger Bewegung, als ob sie etwas brüllte. Kurze Zeit funktionierten Parils Ohren wieder, und da klang es wie "Hinlegen! Flach hinlegen!!" Dann plötzlich schwankte die Gestalt und begann, auf sie zuzukollern.
Und im nächsten Moment fegte ein jäher Windstoss über sie hinweg; Temon verlor das Gleichgewicht und fiel. Sie rutschten in die Tiefe, der eine den anderen mitziehend - und beide geschoben von dem orkanartigen Wind, der sich plötzlich erhoben hatte. Das Dröhnen wurde plötzlich laut, wurde zum Brüllen. Paril schlug sich die Knie, die Hüften, den Rücken, die Schultern an; eine Woge von Schmerzen überrollte ihn, während er immer tiefer kollerte. Jetzt gibts Ersaufen! Ersaufen! ERSAUFEN! Noch einmal, brennender als je, stand dieses Wort in seinem Gehirn, bevor er sich auch den Kopf anschlug und seine Gedanken sich in sprühende Sterne auflösten.
***
Ersaufen. Ersaufen? Hätt ich mir anders vorgestellt. Feuchter. Oder bin ich nicht ersoffen - hat es mich schon vorher beim Hinunterkollern erwischt? Na, jedenfalls, jetzt geht es mir gut. Jetzt kann ich mich ausruhen.He, was soll das?! Wer haut mir da auf die Backen? Hör auf, du Wildschwein! Ach, das ist ja schon wieder Temon. Bist du jetzt auch ersoffen?
Der antwortet nicht. Was für ein komisches Gesicht er macht... Jetzt ballt er die Faust und boxt in die Luft... Und jetzt...
"YEEEAAHAOUWW!!"
Ein trommelfellzerreissender Schrei liess Paril zusammenfahren. Sofort begann er wieder zu rutschen - um wenig später durch einen derben Zusammenprall mit einem Baumstamm wieder zum Halten zu kommen.
Er lag immer noch an diesem blöden Abhang! Aber soviel stand fest: anstrengen würde er sich jetzt nicht mehr.
Aber was war mit Temon los? Der machte ein ganz furchterregendes Gesicht: quer über beide Backen und alle Narben hinweg spannte sich ein so gewaltig breites Grinsen, dass Paril meinte, sein Gesicht müsse zerreissen. Dabei schaute er abwechselnd Paril an und an ihm vorbei in die Tiefe.
Reflexartig schaute Paril auch hinunter - und der Atem stockte ihm.
Das an sich war ihm ja in letzter Zeit schon mehrmals passiert - aber das, was sich nun seinen Augen bot, war die Krönung, die absolute Kumulation, in jeder Hinsicht der Höhepunkt - als Folge dessen er sofort wieder ein Stück tiefer rutschte.
Nichts von dem, was er vorhin gesehen hatte, war noch zu erkennen. Die verkrümmten Bäume, die Felsblöcke, das Unkraut waren verschwunden. Die langhalsigen Sumpfpflanzen waren verschwunden. An ihrer Stelle dehnte sich - eine gelbbraune, weissschäumende, sich donnernd nach Westen wälzende Wassermasse. Kerr, der Gott, die alles zerstörende Urgewalt!
Paril schlug die Hände vor den Kopf und riss den Kopf herum und rutschte wieder ein Stück weiter. Es dauerte einige Minuten, ehe er imstande war, den Kopf wieder zu heben - und was er sah, war immer noch Temon, der weiterhin unverwandt entzückt hinabschaute, ohne ein Wort zu sagen.
Ganz langsam und vorsichtig drehte Paril den Kopf und suchte das, was er eben gesehen hatte, mit seinem Augenwinkel.
Und dann stieg ehrliche Entrüstung in ihm hoch.
"Bei allen Wasserteufeln!" schrie er. "So tief unten! Und dafür hab ich so hoch steigen müssen?!"