pol shebbel
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(Endlich Klärung einiger Fragen. Und Huld dem Meister aller Pilze.)
Schlafen... Ausruhen... Durst löschen... Hunger stillen... Sie hatten förmlich vergessen gehabt, was für Gefühle das waren - doch jetzt, endlich, erfuhren sie sie wieder.
Nicht sofort allerdings. Vorerst einmal blieb es auch Paril nicht erspart, noch etwas zu steigen. Und auch als sie ihr Ziel, jene von Shnoiw erwähnte Höhle, erreicht hatten, gab es zunächst nur qualvolles Dahindämmern - kein richtiges Bewusstsein, aber auch keinen erlösenden Schlaf. Wenn Paril wirklich einmal einschlief, bildeten sich sofort jagende Alpträume; vor allem - nicht zu verwundern - riesige, alles verschlingende Wassermassen, in denen bald Paril, bald die Armee von Asîmchômsaia, bald das Dorf Onnikir versank. Wenn er mit einem Schrei auffuhr, fand er sich in einer wohltuenden Dunkelheit, die derjenigen in einer Pyramidalbaumhöhle nicht unähnlich war. In guten Augenblicken dünkte er sich zu Hause in Onnikir; dann wieder spürte er die Grösse des Raums, und dieselbe Dunkelheit kam ihm unheimlich und bedrohlich vor. Einmal erschrak er, als plötzlich jemand seinen Arm berührte. Doch dann fühlte er das schmiegsame Leder und hörte das träge Glucksen eines Wasserschlauchs - und diesmal war es kein Schnaps, sondern tatsächlich Wasser; und ausserdem Wasser, das weder den Boden zum Sumpf erweichte noch gewalttätig durch Täler stürzte, sondern gutes, freundliches Wasser, das ihm lediglich erlösend die Kehle hinunterlief. Es war vermutlich insgesamt nicht viel - doch am Ende produzierte sein Bauch Geräusche wie eine kleine Wasserflut. Und in den folgenden halbbewussten Wasserträumen, in die Paril sofort anschliessend wieder versank, widerhallte jenes Geräusch, dumpf und unheimlich verstärkt.
Dann später war Paril plötzlich wieder wach, glasklar im Kopf - und speiübel im Magen. Bedächtig richtete er sich auf. Es war nicht völlig dunkel; ein blasser Schimmer von dort, wo der Eingang sein musste, liess das Innere der Höhle schemenhaft sichtbar werden. Niemand schien wach ausser ihm.
Paril wälzte sich auf die Seite und stemmte sich ächzend in die Höhe; zur Übelkeit gesellte sich Schwindel. Ob es besser würde, wenn er etwas ass? Wenn es hier Wasser gab, dann wohl auch Lebensmittel...
Er brauchte nicht lange zu suchen; an der hinteren Wand der Höhle standen schemenhaft mehrere grosse Fässer. Paril öffnete sie der Reihe nach - und freudige Schauer begannen ihm den Rücken hinunterzulaufen: es gab eingelegte Scheiben des Kafâm - Huld sei dir, Meister der Pilze! - getrocknete Feigen, ein seltsames krümeliges Gebäck, und Handwurz - die richtigen guten alten Krummfinger! Wirklich eine nette Einrichtung, diese Reisenden-Raststätten...
Paril widerstand der Versuchung, sich wahllos vollzustopfen; er wäre damit allerdings auch nicht weit gekommen. Sein Magen, der seit 24 Stunden nur Pflanzensaft und Tierblut kannte, rebellierte schon nach kurzer Zeit; Paril fühlte sich nicht unbedingt besser als vorher und begann, durch die Höhle in Richtung Ausgang zu tappen auf der Suche nach frischer Luft.
Der Anblick draussen war und blieb erschreckend überwältigend - so überwältigend, dass ihn Paril weiterhin nur aus dem Augenwinkel ertrug. Zwei Schritte vor seinen Füssen ging es steil hinunter, tief hinunter; man konnte so unglaublich weit sehen, so viel Luft, so viel nachtblauer Himmel... Beim blossen Gedanken daran packte Paril wieder der Schwindel. Die fetten Wolken waren verschwunden; nur noch ein paar kleine, dünne Streifen schimmerten in silbrigem Licht, welches andeutete, dass sich hinter ihnen die immer kleiner werdende Mondsichel verbarg. Das Licht spiegelte sich unten - im Wasser... Das ganze Sumpfgebiet war zu einem riesigen spiegelnden See geworden; den zu überqueren, würden die Verfolger aus Asîmchômsaia, deren Scheu vor dem Wasser mindestens so gross war wie Parils, bestimmt nicht versuchen.
Neben dem Eingang lehnte unbeweglich eine Gestalt. Narben warfen Schatten über ihr Gesicht. Eine halbe Spanne vor ihrem Mund schwebte ein orange glühender Punkt im Raum. Der rauchte ja schon wieder...
Als Paril näher trat, hielt ihm die Gestalt schweigend die Pfeife hin. Reflexartig hob Paril abwehrend die Hand - es war doch feuerlose Zeit! Sofort jedoch folgte ebenso reflexartig der Zweifel. Was für einen Sinn hatten religiöse Reinheitsgebote in einer verfluchten Gegend - äh, also wozu feuerlos, wenn es auch im Sommer regnete? Und überhaupt, hatte er sich noch an Dinge zu halten, die ihm seine jetzigen Feinde vorgeschrieben hatten? Fragen, deren Behandlung schon wieder in komplizierte Gedankengänge zu münden drohte, wozu ihm im Moment die Kraft wirklich fehlte. Doch es gab auch einen praktischen Grund - seinen sich umdrehenden Bauch.
"Äh, sag mal", versuchte er ein Gespräch anzuknüpfen, "ist es hier bestimmt sicher? Ich meine, die Räuber kennen doch diesen Ort sicher auch..."
Temon wandte ihm langsam den Kopf zu, dann schüttelte er ihn kaum merklich. "Keine Gefahr hier. So was tut man nicht. Die Ruhestatt für Wanderer ist heilig - der Räuber, der dagegen verstösst, ist ein Frevler."
Frevler! Paril war nicht wenig verblüfft - dieses Wort ausgerechnet hier und noch dazu aus dem Munde eines als Frevler Gejagten zu hören! "Ausserdem", fuhr Temon fort, "wenn es hier nicht sicher wäre, kämen die Wanderer nicht mehr - und das hiesse weniger Beute für Räuber..."
Dieses Argument nun wollte Paril nicht richtig einleuchten; schliesslich bedeutete schon die Existenz von Räubern, dass es nicht sicher war und folglich die Wanderer nicht mehr kommen mochten... Aber Temon musste sich mit den hiesigen Gebräuchen wohl auskennen. "Na gut", meinte Paril aufatmend, "dann ist ja alles in Ordnung. Endlich alles in Ordnung, wie?"
Temon wandte den Blick langsam wieder ab und starrte eine Weile in den Mond. "Hmmm... Weiss nicht..." Sein Dialekt war so kantig und markant wie die Berge selbst. "Ich frag mich, wieviele bei der ganzen Sache noch draufgehen..."
"Na, jetzt wohl keiner mehr - wenn es hier sicher ist, wie du sagst. Shidai war..." Paril brach plötzlich ab, als sein Blick auf Temons Gesicht fiel, das einmal mehr so reglos war wie ein Felsen. "Äh... Shidai - war wohl ein guter Freund von dir?"
Ein kaum merkliches Nicken. "Würde sagen, der beste. Wenn auch ein bisschen verrückt... Hatte so unrealistische hochfliegende Pläne und so..."
"Ach..." Paril hatte sehr wenig Chancen gehabt, diese Seite des Messerhelden kennenzulernen. "Tut mir leid, tut mir wirklich leid für dich..." Das war wahr. Vor gar nicht langer Zeit hatte Paril wie besessen auf Shidai eingeprügelt - aber jetzt, was fühlte er? Bestimmt keine Freude, dass er tot war. Nun, Shidai hatte Paril einen Tag lang gequält, darum hatte Paril ihn gehasst - handkehrum aber: aus all den Predigten, mit denen Paril in der letzten Zeit eingedeckt worden war, schien hervorzugehen, dass Shidai als Kalbladi sein ganzes Leben lang gequält worden war... Warum quälten und hassten sich die Leute? Weil sie sich nicht kannten? Paril hatte jetzt ein paar Vertreter des "Feindes" kennengelernt; die einen waren ihm mehr, die anderen weniger sympathisch - wie das mit Menschen eben so war; aber so abgrundtief hassen, wie man es ihn gelehrt hatte, konnte er sie ebensowenig wie es ihm gelingen wollte, am Charakter zu sehen, ob jemand etwa einen heiligen Baum auf dem Gewissen hatte. Ach ja, der Waldfrevel... Auch der erzeugte natürlich Hass. Andererseits - gerade hatte Temon erklärt, was man hierzulande für Frevel hielt: ein Paril gänzlich unbekanntes Gebot, an das sich auch - gerade! - die selbstgerechten hochmeisterlichen Ketzerjäger nicht halten dürften. "Man begeht gegenseitig Frevel und hasst sich gegenseitig", sinnierte Paril laut, "warum eigentlich?" Hier kamen seine Gedanken wieder ins Stocken. Was war Frevel? Eine Handlung, die die Götter erzürnte. Da hatte es doch keinen Streit zu geben, das erfuhr doch jeder Priester, wenn er mit den Göttern sprach... Aber auch diesmal fühlte sich Paril nicht kräftig genug, in diese Gedankengänge tiefer einzutauchen. "Na ja..." er zuckte etwas hilflos die Schultern, "wir können ja weitermachen, für Shidai. Kämpfen wir gegen den Hass..."
"Kämpfen?!" Temon drehte den Kopf etwas heftiger als sonst. "Das ist es ja gerade! Wir haben gegen den Hass gekämpft, ja, genau wie du gesagt hast - von Anfang an, Shidai und ich und die anderen. Und was haben wir erreicht? Das Gegenteil. Sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein, und jede Seite wird noch wütender und bietet alles auf, den Hass gegen die andere noch mehr zu schüren. Keiner hat was gelernt - wirklich, ich bin nahe daran, die Lust zu verlieren..."
"Hmmja..." murmelte Paril. Auch in ihm regten sich plötzlich Zweifel - an der Wirksamkeit eines Kampfes gegen den Hass, angesichts dessen immenser Ausmasse: schliesslich war er überall, aus den Mündern der Herolde und Offiziere quoll er, die Priester predigten ihn jeden Tag, im alltäglichen Lebenskampf verstärkte er sich andauernd - eine alles verschlingende Flut, so wie die da unter seinen Füssen! Wieder liess ihn der blosse Gedanke schwindeln - und dazu noch schien sein Bauch verrückt zu spielen. Diese Übelkeit... Paril drückte die Hand auf den Magen und biss die Zähne zusammen; seine Stirn war schweissnass.
"He, du bist krank", bemerkte Temon. "Geh wieder rein und leg dich hin..." "Ja... Äh... nein", ächzte Paril. Die paar kleinen Bissen vorhin hatten in seinem Innern ganz schöne Bewegung ausgelöst. Er konnte jetzt nicht liegen!
Paril drehte sich um und begann zu laufen; aber nicht in die Höhle, sondern ein Stück den Weg entlang. Er stolperte mit gekrümmtem Körper, denn in seinen Eingeweiden verspürte er plötzlich einen wachsenden Druck. "Wo ist es... wo ist es..." Mit Hektik schleuderte er Blicke umher, bis er, glücklicherweise bald, den Ort fand, den er suchte. Dort hockte er sich nieder - und befreite sich von den Lasten zweier Tage. Es nahm ihn ziemlich mit, und als er von der Dunggrube in die Höhle zurückwankte, fühlte er sich übler denn je. Wenig später jedoch fiel er, da kolossal erleichtert, zum erstenmal seit langer Zeit in ruhigen, erholsamen Schlaf.
Noch war nicht alles ausgestanden. Die Erschöpfung nach den erlittenen Strapazen schlug jetzt voll durch, besonders bei den Ausbrechern; am härtesten ging es Temon. Nach jener nächtlichen Begegnung am Höhleneingang sah ihn einige Zeit niemand mehr bei Bewusstsein; beinahe schien es, als ob seine Frage, wieviele wohl noch draufzugehen hatten, an ihm selbst aktuell werden würde. Es verging ein Tag und noch einer, und an ein Weiterziehen war nicht zu denken. Die Gesünderen - das hiess Paril, Shnoiw und Uemonni - versorgten die Kränkeren und sich gegenseitig, so gut sie es vermochten; es bildete sich die Gewohnheit, dass, wer gerade wach war, einmal kurz bei den Lagern der anderen vorbeiging und denen half, die es gerade benötigten. Aus Vorsicht blieben sie fast ständig in der Höhle; denn draussen erlosch der Schutz der heiligen Raststätte, und ausserdem war man dort von weitem sichtbar. (Wenn Paril an diese schauderhafte, festgefügte, so schonungslos direkte Landschaft draussen dachte, fühlte er auch gar kein Bedürfnis, hinauszugehen.)
Das Verhältnis unter den Höhleninsassen hatte sich deutlich geändert. Sowohl mit Shnoiw wie, etwas später, auch mit Andai stand Paril bald auf ausgesprochen freundschaftlichem Fusse - abgesehen davon, dass sie es zu seinem Ärger nicht lassen konnten, ihn weiterhin "Babygesicht" zu nennen. Zu Uemonni blieb eine gewisse Distanz bestehen, wenngleich sich seit dem gemeinsamen Rettungseinsatz im Sumpf auch hier die Stimmung deutlich entspannt hatte. Uemonnis solider Hass auf die Reichen und die Baumbesitzer zeigte keine Anzeichen von Erschütterung, doch auf irgend eine Weise schien er nun die Person Parils davon auszusparen - wie übrigens auch seine eigene Person, wenn er etwa detailreich davon schwadronierte, was er alles machen würde, wenn er selbst reich wäre. Ein Hinweis, dass auch bei der Gegenseite Theorie und Praxis bisweilen auseinanderklafften! Geheime Befürchtungen Parils, dass sich die Ausbrecher jetzt, wo sie auf Paril nicht mehr angewiesen waren, plötzlich gegen ihn stellen würden, hatten sich also nicht bewahrheitet. Andere Befürchtungen jedoch waren unvermindert da: Wie würden die Bewohner eines Dorfes der Metallberge auf ihn reagieren - auf einen Vertreter des Feindes? Vorausgesetzt, er ging weiterhin mit, wenn sich die anderen auf die Suche nach Shnoiws Verwandten machten - und sollte er das überhaupt? Da war sie wieder, seine grosse Frage - und der Zeitpunkt, wo er sich würde entscheiden müssen, kam unwiderruflich näher.
"Ein schöner Morgen!" sagte der Workash Kal. "Deliziös, dieser Zwieback. Zwar reichlich matschig - aber wenn man lange nichts mehr hatte..."
Paril hatte reflexartig die Handflächen zusammengelegt - aber vor Staunen vergass er, sich zu verbeugen. "Workash Kal!" entfuhr es ihm. "Es... es geht Ihm besser jetzt? Wie fühlt Er sich?" Wie unverschämt von mir, dachte er sofort.
"Na - wie soll es gehen in einer Situation wie dieser?" Der Workash Kal liess ein kurzes trockenes Lachen hören. "Keine sehr interessante Frage. Sehr viel besser als vor zwei Tagen, das auf jeden Fall. Und Er - Ihm geht es auch sichtlich besser, wie ich sehe?"
"Äh... ja, gut..." stotterte Paril, nicht darauf gefasst, von einem heiligen Hochmeister so etwas gefragt zu werden. In seinem Kopf purzelten die Gedanken durcheinander; er starrte den anderen an - dessen mageres Gesicht hatte eine Falte mehr bekommen - und wusste schon wieder nicht, was er sagen sollte.
Vorerst musste er zum Gück auch nichts sagen, denn die Aufmerksamkeit des Workash Kal wurde in eine andere Richtung gelenkt. "Oh, ein schöner Morgen, Bêng Kal Andai, junger Mann", begrüsste er eine Gestalt, die vom Höhleneingang her auf sie zukam. "Sind draussen hochmeisterliche Verfolger in Sicht?"
Der Angesprochene kam näher und starrte mit aufgerissenen Augen, ganz ähnlich wie Paril. "Workash Kal! Er ist es! Wie geht es Ihm?"
"Na - also, so schlecht geht es mir nun nicht!" In der Stimme des Workash Kal schien eine Spur Ärger aufzuklingen. "Ich bin wohl etwas älter als Er, aber dafür war ich bis vor einer Woche auch viel besser ernährt, oder nicht?"
"Da hat Er auch wieder recht!" Andai grinste sein breites Grinsen. "Der am besten Ernährte in der Stadt, vermutlich. Nein, draussen ist niemand zu sehen", beantwortete er die vorhin gestellte Frage. "Die hochmeisterlichen Krieger jagen ihren Hochmeister woanders... Aber irgendwann werden sie kommen, fürchte ich. Wir müssen so bald wie möglich hier weg..."
Der Workash Kal wirkte etwas müde. "Ja... Nur wohin, das ist die Frage. Seit den jüngsten Erfahrungen mit der menschlichen Spezies sind mir leise Zweifel aufgekeimt, ob mein Platz auf dieser Welt noch unter Menschen sein soll..."
Paril hatte mit wachsender Erregung zugehört. Das Stichwort für die endgültige Aufklärung war gegeben. "Workash Kal", begann er und rückte näher heran. "Ich bitte um Vergebung für eine kleine Frage. Wie kommt es, dass Er hier ist, mit Ketzern zusammen, auf der Flucht vor Seinem eigenen Heer?"
Beim Wort "Ketzer" warf ihm Andai einen missbilligenden Blick zu. "Er sollte sich nicht überanstrengen", warf er sofort ein, an den Workash Kal gerichtet. "Er sollte sich hinlegen..."
"Nein, nein", wehrte dieser ab. "Ich bin sehr wohl imstande, dem Bêng Kal seine Frage zu beantworten. Wegen dieser Frage ist er ja wohl hier, nehme ich an?" Sein Blick war plötzlich auf Paril gerichtet; dieser war einen Augenblick lang verwirrt ob der unerwarteten Beschreibung seiner Lage. "Äh... ja... Kö... könnte man sagen..."
"Gut. Einen Augenblick - hinsetzen möchte ich mich doch..." Der Workash Kal liess sich von Andai stützen, und sie gingen ein paar Schritte zu den Schlafstätten. Assing liess sich ächzend nieder, und während die beiden jungen Männer es ihm gleichtaten, begann er zu erzählen.
"Warum ich hier bin? - Ich bin aus dem Gefangenenlager geflohen, wo man mich eine Woche zuvor hineingesteckt hatte. Wieso sie mich da hineinsteckten - schon eine schwierigere Frage. Wir hatten wohl ernsthafte Meinungsverschiedenheiten im Meisterrat gehabt; aber das sie mich auf diese Art zum Schweigen bringen würden - dass es so schlecht steht um den lebendigen Organismus Asîmchômsaia, dass die einzelnen Organe gegeneinander arbeiten - das hätte ich nicht gedacht..."
"Ich verstehe nicht", sagte Paril. "Meinungsverschiedenheiten? Wieso gab es Meinungsverschiedenheiten?" Eine dumme Frage, dachte er sofort.
"Oh ja, Meinungsverschiedenheiten", fuhr Assing mit leicht erhobener Stimme fort. "Zum Beispiel, ob es den Göttern gefällig ist, Tod mit Tod zu vergelten. Ob man den Kriegsgefangenen zu essen geben, sie verhungern lassen oder sofort hinrichten soll. Ob es dem höchsten Wesen dienlich ist, gegen Ketzer zu kämpfen und dabei den halben Wald in Stücke zu schlagen..."
"Dann... war Er für die Ketzer?" Paril war jetzt doch etwas ungläubig. "Dann stimmte gar nicht, was die Herolde erzählten?"
"Ich war nicht für die Ketzer!" widersprach Assing scharf. "Und was ich früher gesagt hatte, habe ich nie widerrufen. Das Töten eines heiligen Baumes ist ein unverzeihlicher Frevel, das sage ich weiterhin. Ich sage weiterhin, dass es übel ist, sich von neuen Moden blenden zu lassen und darob die Tradition, das Meditieren, das Leben als Teil eines grösseren Ganzen zu vergessen. Und dass die Machthaber in Zin-Âching und den Metallstädten mit ihrem Verhalten der Seele Ssais schaden. Aber ich sage nicht und habe nie gesagt, dass wir der Seele Ssais nützen, indem wir diesen Krieg führen!" Er schloss kurz die Augen und holte Luft.
Andai rückte sofort besorgt näher; Assing sah es und hob beschwichtigend die Hand. "Es geht schon", sagte er etwas ruhiger. Dann, zu Paril gewandt: "Ich habe mit Bêng Andai auch schon diskutiert. Ich sollte mich wohl nicht mehr aufregen... Als der Krieg begann, blieb uns wohl nichts anderes übrig als uns zu wehren. Aber damals sah ich das nicht... Manchmal denke ich, mir fehlt die Begabung, Situationen richtig einzuschätzen. Wenn ich, in jungen Jahren auf meinen Reisen, und später als Meister und Hochmeister, gegen den Frevel predigte, hatte ich nie im Sinn, einen derartigen Sturm zu entfesseln; dann wieder habe ich nach friedlichen Lösungen und Argumenten gesucht, als schon lange Hass und Fanatismus herrschten und niemand mehr für Argumente zugänglich war..." Er lehnte den Kopf zurück und stiess resigniert die Luft aus.
"Jja..." murmelte Paril langsam. "Ja, das stimmt..." Er rief sich seine eigenen Erlebnisse im Flüchtlingslager in Erinnerung. Es stimmte, Hass und Fanatismus hatten geherrscht. Damals war Paril das überhaupt nicht aufgefallen; auch er hatte wie alle ganz selbstverständlich die Feinde gehasst (schliesslich hatten sie seine Eltern getötet und sein Dorf zerstört); hätte jemand solche Argumente wie Assing jetzt gebracht und den Krieg angezweifelt, er wäre unweigerlich stellvertretend für den Feind dem Hass der anderen ausgesetzt gewesen...
Am Eingang der Höhle erschien in diesem Augenblick Shnoiw. Als er den Workash Kal sitzen sah, stiess er einen erstaunten Ruf aus und kam zu ihnen gelaufen - und der Workash Kal erklärte zum drittenmal (und eine Spur gereizter), dass es ihm gut gehe. Bald darauf sassen sie sich zu viert im Halbdunkel der Höhle gegenüber; der fünfte und der sechste lagen etwas entfernt auf ihren Lagern, der eine lauthals schnarchend, der andere reglos wie ein Stein.
"Wenn ich jetzt darüber nachdenke", äusserte Assing etwas später, "so scheint mir immer mehr, dass meine Versuche, den Konflikt mit Diskutieren und Argumenten zu lösen, der eigentliche Grund für meine Verhaftung waren. Die Sache vom Standpunkt des Gegners aus zu sehen - das musste jedem Fanatiker notwendigerweise als Frevel erscheinen..."
"Hmm?" machte Paril erstaunt. "Standpunkt? Des Gegners?"
Andai grinste. "Ja! Pass auf, Babygesicht! Jetzt wirds interessant." "Grr!" schnitt Paril eine ärgerliche Grimasse in seine Richtung.
Der Workash Kal schaute etwas überrascht auf Andai. "Ja, mit Ihm habe ich darüber auch gesprochen. Ich habe versucht zu sagen, dass die sogenannten 'Ketzer' eigentlich mit mir einer Meinung sein müssen. Dass das Fällen eines Pyramidalbaums natürlich eine Sünde, aber darüber hinaus auch eine ganz gewöhnliche Dummheit ist. Und dass die Härte der Trockenheit in Zin-Âching durchaus, aber nicht nur, eine Strafe der Götter ist, sondern auch eine Folge des Kahlschlags an Wasserspeichern und Schattenspendern... Und prompt wurde im Meisterrat behauptet, ich wolle die Götter abschaffen. Aber das ist, bei allen vier Urgewalten, nicht wahr! Und ich bin auch keineswegs gegen den Gebrauch von Metall, wie das manche anfingen zu behaupten - auch nicht gegen Eisen..." Sein Atem ging schwer, seine Augen blitzten Paril an.
Andai schaute schon wieder besorgt. "Workash Kal", er legte die Hände zusammen, "Er sollte sich wirklich nicht so aufregen..."
"Ach, aufhören!" gab Assing ärgerlich zurück. "Es ging mir lange nicht so gut. Ich fühle mich wie in jungen Tagen..."
Wie in jungen Tagen sah er aber nicht aus, das fand jetzt auch Paril. Er legte seinerseits die Hände zusammen und neigte den Kopf vor dem Hochmeister. "Ich danke für die Erklärungen, Workash Kal", sagte er. "Meine Fragen sind beantwortet, und ich bin tief beeindruckt von Seiner Weisheit..."
Das meinte er wirklich ernst. Doch Assing verzog das Gesicht, was Paril sofort wieder zu erschrockenen Überlegungen veranlasste, ob er etwas Dummes gesagt habe. "Tss... Weisheit..." Es kam leise zwischen den Zähnen und, schien es Paril, in einem etwas verächtlichen Tonfall heraus. Einen kurzen Augenblick schienen die Falten um den Mund noch tiefer eingegraben als sonst, die Oberlippe krauste sich - doch dann seufzte Assing und sah wieder nur müde aus. "Nun..." Sein Blick richtete sich wieder auf Andai. "Vielleicht hat Er doch recht. Vorhin sprachen wir über unsere Weiterreise; und wenn wir aufbrechen, sollten wir ausgeruht sein..." "Ja, das sollten wir alle", stimmte Shnoiw zu, und darauf streckten sich die drei flüchtigen Gefangenen wieder auf ihren Pritschen aus.
Paril fand keine Ruhe. Er begann hin- und herzugehen, von einem Ende der Höhle zum andern, und dachte nach über das, was er eben gehört hatte. Das also war seine erste richtige Begegnung mit dem früheren Hochmeister von Asîmchômsaia gewesen... Ob es sich wirklich um den früheren Hochmeister handelte, war zwar rein theoretisch noch immer nicht erwiesen - doch die Frage war für Paril inzwischen geradezu nebensächlich. Fest stand, dass er es mit einem aussergewöhnlich klugen Manne, einem wahren Meister zu tun hatte. Zwar hatte Paril nicht alles verstanden - insbesondere, wie man den Standpunkt des Gegners einnehmen, aber trotzdem nicht die Götter abschaffen konnte - aber dennoch: welch ein Wissen! Und wie unwahrscheinlich knapp war dieses Wissen der Vernichtung entronnen! Und ganz entronnen waren sie ja noch nicht einmal. Würde also einmal mehr mit einem Weisen auch dessen Wissen für immer verschwinden? Hass herrschte, Fanatismus, Krieg und auch noch Unwissenheit - so viele grässliche Dinge in der Welt - und so wenig Chancen, das zu ändern... Der Trübsinn, kaum dass er ihn halb vergessen hatte, war wieder da wie nie zuvor. Scheisse auf dem Meeresgrund!
Schliesslich kehrte Paril zu seinem Lager zurück und liess sich darauf fallen. Sein Blick fiel auf Temon, der regungslos dalag; das wischte die Gedanken von vorhin beiseite, löste aber gleichzeitig neue aus, die unmittelbarer und praktischer waren, wenn auch nicht weniger trübe.
Schlafen... Ausruhen... Durst löschen... Hunger stillen... Sie hatten förmlich vergessen gehabt, was für Gefühle das waren - doch jetzt, endlich, erfuhren sie sie wieder.
Nicht sofort allerdings. Vorerst einmal blieb es auch Paril nicht erspart, noch etwas zu steigen. Und auch als sie ihr Ziel, jene von Shnoiw erwähnte Höhle, erreicht hatten, gab es zunächst nur qualvolles Dahindämmern - kein richtiges Bewusstsein, aber auch keinen erlösenden Schlaf. Wenn Paril wirklich einmal einschlief, bildeten sich sofort jagende Alpträume; vor allem - nicht zu verwundern - riesige, alles verschlingende Wassermassen, in denen bald Paril, bald die Armee von Asîmchômsaia, bald das Dorf Onnikir versank. Wenn er mit einem Schrei auffuhr, fand er sich in einer wohltuenden Dunkelheit, die derjenigen in einer Pyramidalbaumhöhle nicht unähnlich war. In guten Augenblicken dünkte er sich zu Hause in Onnikir; dann wieder spürte er die Grösse des Raums, und dieselbe Dunkelheit kam ihm unheimlich und bedrohlich vor. Einmal erschrak er, als plötzlich jemand seinen Arm berührte. Doch dann fühlte er das schmiegsame Leder und hörte das träge Glucksen eines Wasserschlauchs - und diesmal war es kein Schnaps, sondern tatsächlich Wasser; und ausserdem Wasser, das weder den Boden zum Sumpf erweichte noch gewalttätig durch Täler stürzte, sondern gutes, freundliches Wasser, das ihm lediglich erlösend die Kehle hinunterlief. Es war vermutlich insgesamt nicht viel - doch am Ende produzierte sein Bauch Geräusche wie eine kleine Wasserflut. Und in den folgenden halbbewussten Wasserträumen, in die Paril sofort anschliessend wieder versank, widerhallte jenes Geräusch, dumpf und unheimlich verstärkt.
Dann später war Paril plötzlich wieder wach, glasklar im Kopf - und speiübel im Magen. Bedächtig richtete er sich auf. Es war nicht völlig dunkel; ein blasser Schimmer von dort, wo der Eingang sein musste, liess das Innere der Höhle schemenhaft sichtbar werden. Niemand schien wach ausser ihm.
Paril wälzte sich auf die Seite und stemmte sich ächzend in die Höhe; zur Übelkeit gesellte sich Schwindel. Ob es besser würde, wenn er etwas ass? Wenn es hier Wasser gab, dann wohl auch Lebensmittel...
Er brauchte nicht lange zu suchen; an der hinteren Wand der Höhle standen schemenhaft mehrere grosse Fässer. Paril öffnete sie der Reihe nach - und freudige Schauer begannen ihm den Rücken hinunterzulaufen: es gab eingelegte Scheiben des Kafâm - Huld sei dir, Meister der Pilze! - getrocknete Feigen, ein seltsames krümeliges Gebäck, und Handwurz - die richtigen guten alten Krummfinger! Wirklich eine nette Einrichtung, diese Reisenden-Raststätten...
Paril widerstand der Versuchung, sich wahllos vollzustopfen; er wäre damit allerdings auch nicht weit gekommen. Sein Magen, der seit 24 Stunden nur Pflanzensaft und Tierblut kannte, rebellierte schon nach kurzer Zeit; Paril fühlte sich nicht unbedingt besser als vorher und begann, durch die Höhle in Richtung Ausgang zu tappen auf der Suche nach frischer Luft.
Der Anblick draussen war und blieb erschreckend überwältigend - so überwältigend, dass ihn Paril weiterhin nur aus dem Augenwinkel ertrug. Zwei Schritte vor seinen Füssen ging es steil hinunter, tief hinunter; man konnte so unglaublich weit sehen, so viel Luft, so viel nachtblauer Himmel... Beim blossen Gedanken daran packte Paril wieder der Schwindel. Die fetten Wolken waren verschwunden; nur noch ein paar kleine, dünne Streifen schimmerten in silbrigem Licht, welches andeutete, dass sich hinter ihnen die immer kleiner werdende Mondsichel verbarg. Das Licht spiegelte sich unten - im Wasser... Das ganze Sumpfgebiet war zu einem riesigen spiegelnden See geworden; den zu überqueren, würden die Verfolger aus Asîmchômsaia, deren Scheu vor dem Wasser mindestens so gross war wie Parils, bestimmt nicht versuchen.
Neben dem Eingang lehnte unbeweglich eine Gestalt. Narben warfen Schatten über ihr Gesicht. Eine halbe Spanne vor ihrem Mund schwebte ein orange glühender Punkt im Raum. Der rauchte ja schon wieder...
Als Paril näher trat, hielt ihm die Gestalt schweigend die Pfeife hin. Reflexartig hob Paril abwehrend die Hand - es war doch feuerlose Zeit! Sofort jedoch folgte ebenso reflexartig der Zweifel. Was für einen Sinn hatten religiöse Reinheitsgebote in einer verfluchten Gegend - äh, also wozu feuerlos, wenn es auch im Sommer regnete? Und überhaupt, hatte er sich noch an Dinge zu halten, die ihm seine jetzigen Feinde vorgeschrieben hatten? Fragen, deren Behandlung schon wieder in komplizierte Gedankengänge zu münden drohte, wozu ihm im Moment die Kraft wirklich fehlte. Doch es gab auch einen praktischen Grund - seinen sich umdrehenden Bauch.
"Äh, sag mal", versuchte er ein Gespräch anzuknüpfen, "ist es hier bestimmt sicher? Ich meine, die Räuber kennen doch diesen Ort sicher auch..."
Temon wandte ihm langsam den Kopf zu, dann schüttelte er ihn kaum merklich. "Keine Gefahr hier. So was tut man nicht. Die Ruhestatt für Wanderer ist heilig - der Räuber, der dagegen verstösst, ist ein Frevler."
Frevler! Paril war nicht wenig verblüfft - dieses Wort ausgerechnet hier und noch dazu aus dem Munde eines als Frevler Gejagten zu hören! "Ausserdem", fuhr Temon fort, "wenn es hier nicht sicher wäre, kämen die Wanderer nicht mehr - und das hiesse weniger Beute für Räuber..."
Dieses Argument nun wollte Paril nicht richtig einleuchten; schliesslich bedeutete schon die Existenz von Räubern, dass es nicht sicher war und folglich die Wanderer nicht mehr kommen mochten... Aber Temon musste sich mit den hiesigen Gebräuchen wohl auskennen. "Na gut", meinte Paril aufatmend, "dann ist ja alles in Ordnung. Endlich alles in Ordnung, wie?"
Temon wandte den Blick langsam wieder ab und starrte eine Weile in den Mond. "Hmmm... Weiss nicht..." Sein Dialekt war so kantig und markant wie die Berge selbst. "Ich frag mich, wieviele bei der ganzen Sache noch draufgehen..."
"Na, jetzt wohl keiner mehr - wenn es hier sicher ist, wie du sagst. Shidai war..." Paril brach plötzlich ab, als sein Blick auf Temons Gesicht fiel, das einmal mehr so reglos war wie ein Felsen. "Äh... Shidai - war wohl ein guter Freund von dir?"
Ein kaum merkliches Nicken. "Würde sagen, der beste. Wenn auch ein bisschen verrückt... Hatte so unrealistische hochfliegende Pläne und so..."
"Ach..." Paril hatte sehr wenig Chancen gehabt, diese Seite des Messerhelden kennenzulernen. "Tut mir leid, tut mir wirklich leid für dich..." Das war wahr. Vor gar nicht langer Zeit hatte Paril wie besessen auf Shidai eingeprügelt - aber jetzt, was fühlte er? Bestimmt keine Freude, dass er tot war. Nun, Shidai hatte Paril einen Tag lang gequält, darum hatte Paril ihn gehasst - handkehrum aber: aus all den Predigten, mit denen Paril in der letzten Zeit eingedeckt worden war, schien hervorzugehen, dass Shidai als Kalbladi sein ganzes Leben lang gequält worden war... Warum quälten und hassten sich die Leute? Weil sie sich nicht kannten? Paril hatte jetzt ein paar Vertreter des "Feindes" kennengelernt; die einen waren ihm mehr, die anderen weniger sympathisch - wie das mit Menschen eben so war; aber so abgrundtief hassen, wie man es ihn gelehrt hatte, konnte er sie ebensowenig wie es ihm gelingen wollte, am Charakter zu sehen, ob jemand etwa einen heiligen Baum auf dem Gewissen hatte. Ach ja, der Waldfrevel... Auch der erzeugte natürlich Hass. Andererseits - gerade hatte Temon erklärt, was man hierzulande für Frevel hielt: ein Paril gänzlich unbekanntes Gebot, an das sich auch - gerade! - die selbstgerechten hochmeisterlichen Ketzerjäger nicht halten dürften. "Man begeht gegenseitig Frevel und hasst sich gegenseitig", sinnierte Paril laut, "warum eigentlich?" Hier kamen seine Gedanken wieder ins Stocken. Was war Frevel? Eine Handlung, die die Götter erzürnte. Da hatte es doch keinen Streit zu geben, das erfuhr doch jeder Priester, wenn er mit den Göttern sprach... Aber auch diesmal fühlte sich Paril nicht kräftig genug, in diese Gedankengänge tiefer einzutauchen. "Na ja..." er zuckte etwas hilflos die Schultern, "wir können ja weitermachen, für Shidai. Kämpfen wir gegen den Hass..."
"Kämpfen?!" Temon drehte den Kopf etwas heftiger als sonst. "Das ist es ja gerade! Wir haben gegen den Hass gekämpft, ja, genau wie du gesagt hast - von Anfang an, Shidai und ich und die anderen. Und was haben wir erreicht? Das Gegenteil. Sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein, und jede Seite wird noch wütender und bietet alles auf, den Hass gegen die andere noch mehr zu schüren. Keiner hat was gelernt - wirklich, ich bin nahe daran, die Lust zu verlieren..."
"Hmmja..." murmelte Paril. Auch in ihm regten sich plötzlich Zweifel - an der Wirksamkeit eines Kampfes gegen den Hass, angesichts dessen immenser Ausmasse: schliesslich war er überall, aus den Mündern der Herolde und Offiziere quoll er, die Priester predigten ihn jeden Tag, im alltäglichen Lebenskampf verstärkte er sich andauernd - eine alles verschlingende Flut, so wie die da unter seinen Füssen! Wieder liess ihn der blosse Gedanke schwindeln - und dazu noch schien sein Bauch verrückt zu spielen. Diese Übelkeit... Paril drückte die Hand auf den Magen und biss die Zähne zusammen; seine Stirn war schweissnass.
"He, du bist krank", bemerkte Temon. "Geh wieder rein und leg dich hin..." "Ja... Äh... nein", ächzte Paril. Die paar kleinen Bissen vorhin hatten in seinem Innern ganz schöne Bewegung ausgelöst. Er konnte jetzt nicht liegen!
Paril drehte sich um und begann zu laufen; aber nicht in die Höhle, sondern ein Stück den Weg entlang. Er stolperte mit gekrümmtem Körper, denn in seinen Eingeweiden verspürte er plötzlich einen wachsenden Druck. "Wo ist es... wo ist es..." Mit Hektik schleuderte er Blicke umher, bis er, glücklicherweise bald, den Ort fand, den er suchte. Dort hockte er sich nieder - und befreite sich von den Lasten zweier Tage. Es nahm ihn ziemlich mit, und als er von der Dunggrube in die Höhle zurückwankte, fühlte er sich übler denn je. Wenig später jedoch fiel er, da kolossal erleichtert, zum erstenmal seit langer Zeit in ruhigen, erholsamen Schlaf.
Noch war nicht alles ausgestanden. Die Erschöpfung nach den erlittenen Strapazen schlug jetzt voll durch, besonders bei den Ausbrechern; am härtesten ging es Temon. Nach jener nächtlichen Begegnung am Höhleneingang sah ihn einige Zeit niemand mehr bei Bewusstsein; beinahe schien es, als ob seine Frage, wieviele wohl noch draufzugehen hatten, an ihm selbst aktuell werden würde. Es verging ein Tag und noch einer, und an ein Weiterziehen war nicht zu denken. Die Gesünderen - das hiess Paril, Shnoiw und Uemonni - versorgten die Kränkeren und sich gegenseitig, so gut sie es vermochten; es bildete sich die Gewohnheit, dass, wer gerade wach war, einmal kurz bei den Lagern der anderen vorbeiging und denen half, die es gerade benötigten. Aus Vorsicht blieben sie fast ständig in der Höhle; denn draussen erlosch der Schutz der heiligen Raststätte, und ausserdem war man dort von weitem sichtbar. (Wenn Paril an diese schauderhafte, festgefügte, so schonungslos direkte Landschaft draussen dachte, fühlte er auch gar kein Bedürfnis, hinauszugehen.)
Das Verhältnis unter den Höhleninsassen hatte sich deutlich geändert. Sowohl mit Shnoiw wie, etwas später, auch mit Andai stand Paril bald auf ausgesprochen freundschaftlichem Fusse - abgesehen davon, dass sie es zu seinem Ärger nicht lassen konnten, ihn weiterhin "Babygesicht" zu nennen. Zu Uemonni blieb eine gewisse Distanz bestehen, wenngleich sich seit dem gemeinsamen Rettungseinsatz im Sumpf auch hier die Stimmung deutlich entspannt hatte. Uemonnis solider Hass auf die Reichen und die Baumbesitzer zeigte keine Anzeichen von Erschütterung, doch auf irgend eine Weise schien er nun die Person Parils davon auszusparen - wie übrigens auch seine eigene Person, wenn er etwa detailreich davon schwadronierte, was er alles machen würde, wenn er selbst reich wäre. Ein Hinweis, dass auch bei der Gegenseite Theorie und Praxis bisweilen auseinanderklafften! Geheime Befürchtungen Parils, dass sich die Ausbrecher jetzt, wo sie auf Paril nicht mehr angewiesen waren, plötzlich gegen ihn stellen würden, hatten sich also nicht bewahrheitet. Andere Befürchtungen jedoch waren unvermindert da: Wie würden die Bewohner eines Dorfes der Metallberge auf ihn reagieren - auf einen Vertreter des Feindes? Vorausgesetzt, er ging weiterhin mit, wenn sich die anderen auf die Suche nach Shnoiws Verwandten machten - und sollte er das überhaupt? Da war sie wieder, seine grosse Frage - und der Zeitpunkt, wo er sich würde entscheiden müssen, kam unwiderruflich näher.
***
Es kam der dritte Morgen, seit sie in der Höhle lebten. Paril, eben aufgewacht, ging nach hinten zu den Fässern, um etwas zu essen - und sah, dass dort schon jemand stand. Jemand, dem man ansah, dass er lange nicht gestanden war..."Ein schöner Morgen!" sagte der Workash Kal. "Deliziös, dieser Zwieback. Zwar reichlich matschig - aber wenn man lange nichts mehr hatte..."
Paril hatte reflexartig die Handflächen zusammengelegt - aber vor Staunen vergass er, sich zu verbeugen. "Workash Kal!" entfuhr es ihm. "Es... es geht Ihm besser jetzt? Wie fühlt Er sich?" Wie unverschämt von mir, dachte er sofort.
"Na - wie soll es gehen in einer Situation wie dieser?" Der Workash Kal liess ein kurzes trockenes Lachen hören. "Keine sehr interessante Frage. Sehr viel besser als vor zwei Tagen, das auf jeden Fall. Und Er - Ihm geht es auch sichtlich besser, wie ich sehe?"
"Äh... ja, gut..." stotterte Paril, nicht darauf gefasst, von einem heiligen Hochmeister so etwas gefragt zu werden. In seinem Kopf purzelten die Gedanken durcheinander; er starrte den anderen an - dessen mageres Gesicht hatte eine Falte mehr bekommen - und wusste schon wieder nicht, was er sagen sollte.
Vorerst musste er zum Gück auch nichts sagen, denn die Aufmerksamkeit des Workash Kal wurde in eine andere Richtung gelenkt. "Oh, ein schöner Morgen, Bêng Kal Andai, junger Mann", begrüsste er eine Gestalt, die vom Höhleneingang her auf sie zukam. "Sind draussen hochmeisterliche Verfolger in Sicht?"
Der Angesprochene kam näher und starrte mit aufgerissenen Augen, ganz ähnlich wie Paril. "Workash Kal! Er ist es! Wie geht es Ihm?"
"Na - also, so schlecht geht es mir nun nicht!" In der Stimme des Workash Kal schien eine Spur Ärger aufzuklingen. "Ich bin wohl etwas älter als Er, aber dafür war ich bis vor einer Woche auch viel besser ernährt, oder nicht?"
"Da hat Er auch wieder recht!" Andai grinste sein breites Grinsen. "Der am besten Ernährte in der Stadt, vermutlich. Nein, draussen ist niemand zu sehen", beantwortete er die vorhin gestellte Frage. "Die hochmeisterlichen Krieger jagen ihren Hochmeister woanders... Aber irgendwann werden sie kommen, fürchte ich. Wir müssen so bald wie möglich hier weg..."
Der Workash Kal wirkte etwas müde. "Ja... Nur wohin, das ist die Frage. Seit den jüngsten Erfahrungen mit der menschlichen Spezies sind mir leise Zweifel aufgekeimt, ob mein Platz auf dieser Welt noch unter Menschen sein soll..."
Paril hatte mit wachsender Erregung zugehört. Das Stichwort für die endgültige Aufklärung war gegeben. "Workash Kal", begann er und rückte näher heran. "Ich bitte um Vergebung für eine kleine Frage. Wie kommt es, dass Er hier ist, mit Ketzern zusammen, auf der Flucht vor Seinem eigenen Heer?"
Beim Wort "Ketzer" warf ihm Andai einen missbilligenden Blick zu. "Er sollte sich nicht überanstrengen", warf er sofort ein, an den Workash Kal gerichtet. "Er sollte sich hinlegen..."
"Nein, nein", wehrte dieser ab. "Ich bin sehr wohl imstande, dem Bêng Kal seine Frage zu beantworten. Wegen dieser Frage ist er ja wohl hier, nehme ich an?" Sein Blick war plötzlich auf Paril gerichtet; dieser war einen Augenblick lang verwirrt ob der unerwarteten Beschreibung seiner Lage. "Äh... ja... Kö... könnte man sagen..."
"Gut. Einen Augenblick - hinsetzen möchte ich mich doch..." Der Workash Kal liess sich von Andai stützen, und sie gingen ein paar Schritte zu den Schlafstätten. Assing liess sich ächzend nieder, und während die beiden jungen Männer es ihm gleichtaten, begann er zu erzählen.
"Warum ich hier bin? - Ich bin aus dem Gefangenenlager geflohen, wo man mich eine Woche zuvor hineingesteckt hatte. Wieso sie mich da hineinsteckten - schon eine schwierigere Frage. Wir hatten wohl ernsthafte Meinungsverschiedenheiten im Meisterrat gehabt; aber das sie mich auf diese Art zum Schweigen bringen würden - dass es so schlecht steht um den lebendigen Organismus Asîmchômsaia, dass die einzelnen Organe gegeneinander arbeiten - das hätte ich nicht gedacht..."
"Ich verstehe nicht", sagte Paril. "Meinungsverschiedenheiten? Wieso gab es Meinungsverschiedenheiten?" Eine dumme Frage, dachte er sofort.
"Oh ja, Meinungsverschiedenheiten", fuhr Assing mit leicht erhobener Stimme fort. "Zum Beispiel, ob es den Göttern gefällig ist, Tod mit Tod zu vergelten. Ob man den Kriegsgefangenen zu essen geben, sie verhungern lassen oder sofort hinrichten soll. Ob es dem höchsten Wesen dienlich ist, gegen Ketzer zu kämpfen und dabei den halben Wald in Stücke zu schlagen..."
"Dann... war Er für die Ketzer?" Paril war jetzt doch etwas ungläubig. "Dann stimmte gar nicht, was die Herolde erzählten?"
"Ich war nicht für die Ketzer!" widersprach Assing scharf. "Und was ich früher gesagt hatte, habe ich nie widerrufen. Das Töten eines heiligen Baumes ist ein unverzeihlicher Frevel, das sage ich weiterhin. Ich sage weiterhin, dass es übel ist, sich von neuen Moden blenden zu lassen und darob die Tradition, das Meditieren, das Leben als Teil eines grösseren Ganzen zu vergessen. Und dass die Machthaber in Zin-Âching und den Metallstädten mit ihrem Verhalten der Seele Ssais schaden. Aber ich sage nicht und habe nie gesagt, dass wir der Seele Ssais nützen, indem wir diesen Krieg führen!" Er schloss kurz die Augen und holte Luft.
Andai rückte sofort besorgt näher; Assing sah es und hob beschwichtigend die Hand. "Es geht schon", sagte er etwas ruhiger. Dann, zu Paril gewandt: "Ich habe mit Bêng Andai auch schon diskutiert. Ich sollte mich wohl nicht mehr aufregen... Als der Krieg begann, blieb uns wohl nichts anderes übrig als uns zu wehren. Aber damals sah ich das nicht... Manchmal denke ich, mir fehlt die Begabung, Situationen richtig einzuschätzen. Wenn ich, in jungen Jahren auf meinen Reisen, und später als Meister und Hochmeister, gegen den Frevel predigte, hatte ich nie im Sinn, einen derartigen Sturm zu entfesseln; dann wieder habe ich nach friedlichen Lösungen und Argumenten gesucht, als schon lange Hass und Fanatismus herrschten und niemand mehr für Argumente zugänglich war..." Er lehnte den Kopf zurück und stiess resigniert die Luft aus.
"Jja..." murmelte Paril langsam. "Ja, das stimmt..." Er rief sich seine eigenen Erlebnisse im Flüchtlingslager in Erinnerung. Es stimmte, Hass und Fanatismus hatten geherrscht. Damals war Paril das überhaupt nicht aufgefallen; auch er hatte wie alle ganz selbstverständlich die Feinde gehasst (schliesslich hatten sie seine Eltern getötet und sein Dorf zerstört); hätte jemand solche Argumente wie Assing jetzt gebracht und den Krieg angezweifelt, er wäre unweigerlich stellvertretend für den Feind dem Hass der anderen ausgesetzt gewesen...
Am Eingang der Höhle erschien in diesem Augenblick Shnoiw. Als er den Workash Kal sitzen sah, stiess er einen erstaunten Ruf aus und kam zu ihnen gelaufen - und der Workash Kal erklärte zum drittenmal (und eine Spur gereizter), dass es ihm gut gehe. Bald darauf sassen sie sich zu viert im Halbdunkel der Höhle gegenüber; der fünfte und der sechste lagen etwas entfernt auf ihren Lagern, der eine lauthals schnarchend, der andere reglos wie ein Stein.
"Wenn ich jetzt darüber nachdenke", äusserte Assing etwas später, "so scheint mir immer mehr, dass meine Versuche, den Konflikt mit Diskutieren und Argumenten zu lösen, der eigentliche Grund für meine Verhaftung waren. Die Sache vom Standpunkt des Gegners aus zu sehen - das musste jedem Fanatiker notwendigerweise als Frevel erscheinen..."
"Hmm?" machte Paril erstaunt. "Standpunkt? Des Gegners?"
Andai grinste. "Ja! Pass auf, Babygesicht! Jetzt wirds interessant." "Grr!" schnitt Paril eine ärgerliche Grimasse in seine Richtung.
Der Workash Kal schaute etwas überrascht auf Andai. "Ja, mit Ihm habe ich darüber auch gesprochen. Ich habe versucht zu sagen, dass die sogenannten 'Ketzer' eigentlich mit mir einer Meinung sein müssen. Dass das Fällen eines Pyramidalbaums natürlich eine Sünde, aber darüber hinaus auch eine ganz gewöhnliche Dummheit ist. Und dass die Härte der Trockenheit in Zin-Âching durchaus, aber nicht nur, eine Strafe der Götter ist, sondern auch eine Folge des Kahlschlags an Wasserspeichern und Schattenspendern... Und prompt wurde im Meisterrat behauptet, ich wolle die Götter abschaffen. Aber das ist, bei allen vier Urgewalten, nicht wahr! Und ich bin auch keineswegs gegen den Gebrauch von Metall, wie das manche anfingen zu behaupten - auch nicht gegen Eisen..." Sein Atem ging schwer, seine Augen blitzten Paril an.
Andai schaute schon wieder besorgt. "Workash Kal", er legte die Hände zusammen, "Er sollte sich wirklich nicht so aufregen..."
"Ach, aufhören!" gab Assing ärgerlich zurück. "Es ging mir lange nicht so gut. Ich fühle mich wie in jungen Tagen..."
Wie in jungen Tagen sah er aber nicht aus, das fand jetzt auch Paril. Er legte seinerseits die Hände zusammen und neigte den Kopf vor dem Hochmeister. "Ich danke für die Erklärungen, Workash Kal", sagte er. "Meine Fragen sind beantwortet, und ich bin tief beeindruckt von Seiner Weisheit..."
Das meinte er wirklich ernst. Doch Assing verzog das Gesicht, was Paril sofort wieder zu erschrockenen Überlegungen veranlasste, ob er etwas Dummes gesagt habe. "Tss... Weisheit..." Es kam leise zwischen den Zähnen und, schien es Paril, in einem etwas verächtlichen Tonfall heraus. Einen kurzen Augenblick schienen die Falten um den Mund noch tiefer eingegraben als sonst, die Oberlippe krauste sich - doch dann seufzte Assing und sah wieder nur müde aus. "Nun..." Sein Blick richtete sich wieder auf Andai. "Vielleicht hat Er doch recht. Vorhin sprachen wir über unsere Weiterreise; und wenn wir aufbrechen, sollten wir ausgeruht sein..." "Ja, das sollten wir alle", stimmte Shnoiw zu, und darauf streckten sich die drei flüchtigen Gefangenen wieder auf ihren Pritschen aus.
Paril fand keine Ruhe. Er begann hin- und herzugehen, von einem Ende der Höhle zum andern, und dachte nach über das, was er eben gehört hatte. Das also war seine erste richtige Begegnung mit dem früheren Hochmeister von Asîmchômsaia gewesen... Ob es sich wirklich um den früheren Hochmeister handelte, war zwar rein theoretisch noch immer nicht erwiesen - doch die Frage war für Paril inzwischen geradezu nebensächlich. Fest stand, dass er es mit einem aussergewöhnlich klugen Manne, einem wahren Meister zu tun hatte. Zwar hatte Paril nicht alles verstanden - insbesondere, wie man den Standpunkt des Gegners einnehmen, aber trotzdem nicht die Götter abschaffen konnte - aber dennoch: welch ein Wissen! Und wie unwahrscheinlich knapp war dieses Wissen der Vernichtung entronnen! Und ganz entronnen waren sie ja noch nicht einmal. Würde also einmal mehr mit einem Weisen auch dessen Wissen für immer verschwinden? Hass herrschte, Fanatismus, Krieg und auch noch Unwissenheit - so viele grässliche Dinge in der Welt - und so wenig Chancen, das zu ändern... Der Trübsinn, kaum dass er ihn halb vergessen hatte, war wieder da wie nie zuvor. Scheisse auf dem Meeresgrund!
Schliesslich kehrte Paril zu seinem Lager zurück und liess sich darauf fallen. Sein Blick fiel auf Temon, der regungslos dalag; das wischte die Gedanken von vorhin beiseite, löste aber gleichzeitig neue aus, die unmittelbarer und praktischer waren, wenn auch nicht weniger trübe.