Christa Reuch
Mitglied
19. Dezember
Das nächste Türchen half ihnen hoffentlich weiter. Sabrina machte es langsam auf und erblickte ein Haus. Sie betrachtete es genauer. Über der großen Eingangstür hing ein Schild. Mit Hilfe der Lupe ihres Vaters, sie hatte sie immer noch nicht zurückgegeben, obwohl sie wusste, dass er das überhaupt nicht leiden konnte, entzifferte sie das Wort Schule. Ja, wenn sie das Bildchen genauer ansah, glaubte sie ihre alte Grundschule zu erkennen. Ihre Mutter störte ihre Gedanken, indem sie sie zum Frühstück rief.
»Zu dritt denkt es sich eh viel leichter«, murmelte Sabrina vor sich hin und schlüpfte in ihre Klamotten, bevor sie in der Küche erschien.
Hanna wartete bereits auf Sabrina und die beiden Freundinnen steuerten gemeinsam ihr Klassenzimmer an. Auf dem Weg dorthin beschrieb sie ihrer Freundin das Haus.
»Meine Mutter kommt heute Nachmittag sowieso später heim, dann gehe ich gleich nach dem Unterricht in unsere alte Grundschule. Kommst du mit?« Hanna schüttelte bedauernd den Kopf.
»Zahnarzttermin«, murrte sie, »Muss meine Mutter die Termine immer so bescheuert legen? Ich habe überhaupt keine Lust. Wir hätten doch in den Ferien gehen können.«
»Und du meinst, in den Ferien würdest du lieber zum Zahnarzt gehen«, fragte Sabrina zweifelnd.
»Nein«, musste Hanna eingestehen, »wahrscheinlich nicht! Aber meine Schwester geht auch mit. Die freut sich sogar noch drauf!« Sabrina grinste, sagte aber nichts weiter.
Nach dem Unterricht verabschiedeten sich die beiden Mädchen von einander. Hanna ging nach Hause und Sabrina wartete auf Hendrik.
Die Zeit verging, doch er erschien nicht. Merkwürdig! Er kam sonst immer vorbei, entweder in der Pause oder nach dem Unterricht. Sabrina beschloss, alleine los zu ziehen.
Die beiden Schulen lagen nicht weit voneinander entfernt, und so stand sie kurz darauf vor dem Schultor ihrer alten Grundschule. Eine Weile betrachtete sie lediglich das Gebäude. Ja, sie war sich sicher, das Schulhaus sah genauso aus wie auf dem Bild hinter dem heutigen Türchen. Sie drückte die große Eingangstüre auf und betrat das Schulhaus. Langsam spazierte sie den langen Gang entlang, als jemand rief:
»Hallo, Sabrina! Schön, dass du uns einmal besuchst! Wie geht es dir denn so?« Sabrina drehte sich um. Frau Schmidt, ihre Lehrerin von der vierten Klasse kam freudestrahlend auf sie zu. Sabrina lächelte und begrüßte ihrerseits nun die Lehrerin.
»Leider habe ich nicht viel Zeit«, sagte Frau Schmidt bedauernd, »denn heute findet das Ehemaligentreffen der Lehrer statt und ich muss noch einiges vorbereiten.“
»Ich könnte ihnen ja ein bisschen helfen«, schlug Sabrina vor.
»Das wäre nett!«, gab die Lehrerin erleichtert zu, »Die beiden Kolleginnen, die mir eigentlich zur Hand gehen wollten, sind leider erkrankt.«
Sie gingen in die Küche, nahmen das benötigte Geschirr aus den Schränken, trugen es gemeinsam in die Aula, begannen die Tische aufzubauen, Tischdecken aufzulegen und das Geschirr zu verteilen. Sabrina kam gehörig ins Schwitzen und lief schnell nach draußen, um sich kurz abzukühlen.
Gerade wollte sie wieder in das Schulhaus hineingehen, da rief eine bekannte Stimme:
»Hallo Sabrina!«
Verblüfft drehte sie sich um. »Was machst du denn hier?«
Vor ihr stand Hendrik und grinste sie an.
»Also, zuerst musste ich wieder einmal meinen lästigen Beobachter abschütteln und als ich dann endlich vor dem Gymnasium ankam, warst du natürlich schon weg. Ich wollte schon umkehren, als ich sie sah.«
»Wen?«
»Na, das kleine Mädchen«, antwortete Hendrik ungeduldig, »Sie stand auf dem Weg und winkte. Ich bin ihr einfach hinterher gelaufen. Und da bin ich!«
»Das trifft sich gut! Du kannst gleich mithelfen. Komm!« Grinsend drehte Sabrina sich um und marschierte zurück ins Gebäude. Frau Schmidt unterhielt sich mit einer älteren Dame. Sie lächelte die Kinder freundlich an.
»Ah Sabrina, du hast dir Verstärkung mitgebracht! Sehr gut! Das ist übrigens Frau Stern, genau genommen Frau Studienrätin Stern, sie war früher einmal Direktorin hier an der Schule.«
Die Kinder sagten artig »Grüß Gott« und Sabrina stellte Hendrik vor.
»Das ist Hendrik Baltasar! Ein Freund! Er macht hier Ferien bei seinem Onkel. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde er mithelfen.« Fragend blickte sie ihre ehemalige Lehrerin an.
»Nein«, schüttelte diese jedoch nur den Kopf, »natürlich nicht! Jede helfende Hand ist willkommen! Ihr könntet bitte aus der Küche die kleinen Kaffeelöffel und Kuchengabeln holen.« Die beiden taten, wie ihnen geheißen. Als sie das Besteck auf den Tischen verteilten, trat Frau Stern zu ihnen.
»Hendrik Baltasar sagtest du? Es gab hier einmal einen Lehrer, der hieß Nikolaus Baltasar.« Hendrik hielt inne und fragte neugierig:
»Ja, das war mein Ururgroßvater! Kannten Sie ihn?«
Frau Stern lächelte.
»Nein, so alt bin ich nun doch nicht, aber meine Großmutter unterrichtete hier schon als Lehrerin und sie hat mir die traurige Geschichte erzählt.«
Die Kinder blickten sie neugierig an.
»Welche traurige Geschichte?«, erkundigte sich Sabrina vorsichtig, aber äußerst interessiert.
Frau Stern setzte sich auf einen der Stühle.
»Nikolaus Baltasar«, begann sie, »war der Sohn von Katharina und Hendrik Baltasar. Seine Eltern hatten einen Buchladen hier ganz in der Nähe, dort wo heute der kleine Schreibwarenladen ist. Katharina starb bei der Geburt von Nikolaus, am sechsten Dezember, Nikolaustag! Und als ob es nicht schon traurig genug gewesen wäre, verunglückte am Heiligen Abend desselben Jahres die fünfjährige Schwester des kleinen Nikolaus. Und wie immer in solchen Fällen gab es eine Menge Gerüchte über den Tod des kleinen Mädchens. Eine Untersuchung des Vorfalles wurde ergebnislos abgeschlossen und das Ganze steht seitdem als Unglücksfall in den Akten. Aber Gerüchte sind hartnäckig und seinem Vater haben sie sehr zugesetzt. Die Trauer machte ihn unfähig, sich um sein Kind zu kümmern, und so wuchs Nikolaus bei den Großeltern auf. Der Kontakt zu seinem Vater brach angeblich später ganz ab und wurde erst wieder hergestellt, als Nikolaus heiratete und selbst Kinder bekam. Eines seiner Kinder, ein Junge namens Sebastian, übernahm den Laden und machte einen Tante-Emma-Laden daraus.« Sie sah die beiden Kinder an, die sie kein einziges Mal unterbrochen hatten. Sabrina blickte nachdenklich aus dem Fenster.
»Und man hat nie heraus gefunden, wie die Schwester wirklich ums Leben kam?«
»Nein, anscheinend nicht. Seitdem hält sich auch hartnäckig das Gerücht, dass das kleine Mädchen als Geist in dem Haus spukt. Aber«, sagte Frau Stern lächelnd, »solche Gespenstergeschichten lieben die Leute ja.«
Sabrina und Hendrik schauten sich vielsagend an. Sie wussten es besser, hüteten sich jedoch irgendetwas zu verraten.
Frau Schmidt hatte inzwischen Kaffee gekocht und in Thermoskannen gefüllt. Sabrina und Hendrik verteilten diese noch auf den Tischen, dann machten sie sich auf den Heimweg.
20. Dezember
An diesem Morgen lag Sabrina schon eine ganze Weile wach im Bett, bevor der Wecker klingelte, und dachte nach. Langsam wurde die Zeit knapp. Natürlich hatten sie schon eine ganze Menge herausgefunden, aber die beiden wichtigsten Fragen konnten sie immer noch nicht beantworten, nämlich ‚Was geschah wirklich mit Emelie?’ und ‚Wo befand sich der Vertrag?’. Sie grübelte noch eine Weile, dann holte sie sich den Adventskalender und öffnete abermals ein Türchen. Ein Schreibtisch, an dem ein Mann saß, der vor sich etwas stehen hatte. Sie schnappte sich die Lupe, die immer noch nicht den Weg zurück in Papas Schublade gefunden hatte, und betrachtete das Bild aufmerksam. Der Mann hatte eine Uniform an und jetzt drehte er sich um, so dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Er war dunkelhaarig, aber ansonsten sah er aus wie Hendrik, nur größer und älter. Trotzdem kam ihr das Gesicht vertraut vor.
Aufgeregt lief sie zum Telefon und rief Hendrik an. Sie musste einfach Gewissheit haben. Er meldete sich mit einem verschlafen »Hallo«, da sprudelte Sabrina auch schon los.
»Sieht dein Vater aus wie du, beziehungsweise umgekehrt?«
»Hä?«
»Ob du deinem Vater ähnlich siehst, will ich wissen?«, wiederholte Sabrina ungeduldig.
»Erst einmal Guten Morgen!«, gähnte Hendrik, „Zweitens, weißt du eigentlich, dass es erst halb sieben ist und ich Ferien habe? Und drittens, ja, ich sehe meinem Vater ähnlich. Manche sagen sogar: wie aus dem Gesicht geschnitten! Würdest du mir jetzt eventuell verraten, was das Ganze soll?«
Sabrina holte tief Luft, dann erzählte sie ihm von dem heutigen Bildchen.
»Ich denke darüber nach«, versprach Hendrik und legte auf.
Sobald Sabrina zum Frühstück erschien, schaute ihre Mutter sie fragend an.
»Mit wem telefonierst du denn so früh schon?“
»Ach«, schwindelte Sabrina, »Ich hatte vergessen, ob wir heute Schwimmen oder Turnen haben.«
»Und?«
»Schwimmen!«
»Na, dann pack mal schnell deine Schwimmsachen zusammen.« Sabrina nickte und hoffte, dass ihre Mutter nicht bemerkte, dass ihre gepackte Tasche bereits neben der Schultasche stand.
Pünktlich verließ sie das Haus und berichtete vor Unterrichtsbeginn noch rasch alles ihrer Freundin.
»Vielleicht soll das heißen, dass Hendriks Vater uns helfen soll«, meinte diese und sah Sabrina fragend an.
»Habe ich auch schon überlegt, aber seine Eltern wohnen in Hamburg!«
Hanna zuckte mit den Schultern.
»Dann werden wir uns wohl bis heute Mittag gedulden müssen.«
Als die Mädchen nach Schulschluss das Gebäude verließen, wartete Hendrik bereits auf sie. Er sah sehr ernst aus, als er zu reden begann.
»Ich habe meinen Vater angerufen und ein bisschen nachgeforscht. Ihr müsst wissen, dass er bei der Polizei ist, Abteilung Wirtschaftskriminalität. Und wie es aussieht, ist unser sauberer Herr Marberg dort kein Unbekannter. Man konnte ihm allerdings bisher noch nichts nachweisen. Mein Vater meint, das heißt, genau genommen, hat er mir befohlen, die Finger von der ganzen Sache zu lassen.«
»Hast du ihm von deinem Verfolger erzählt?«, wollte Sabrina wissen.
»Nein«, Hendrik schüttelte den Kopf, »dann hätte er mich wahrscheinlich gleich abreisen lassen. Und ich denke, wir sind der Lösung schon recht nahe, das will ich mir doch nicht entgehen lassen!«
Sie beratschlagten wie es weitergehen sollte, da klingelte Hendriks Handy. Er sah auf das Display und verdrehte die Augen.
»Meine Mutter!«, stöhnte er, »Bestimmt hat mein Vater sie alarmiert!« Trotzdem drückte er den grünen Hörer und sagte:
»Hallo Mama, schön dich zu hören!« Gleich darauf verwandelte sich sein unwilliger Gesichtsausdruck in einen höchst interessierten. »Wie, ja das habe ich verstanden. Nein, ich verspreche es, wir sind vorsichtig. Ja, ich dich auch! Bis bald Mama!« Gespannt sahen die Mädchen ihn an. »Mein Vater hat tatsächlich bei meiner Mutter angerufen und die hat ein bisschen in der Vergangenheit gestöbert.«
»Ja, und?«, riefen Sabrina und Hanna wie aus einem Munde.
»Die Großmutter von Hendrik Baltasar hatte eine Schwester, eine Heidelinde. Und ratet mal, wen die geheiratet hat?«
»Mach es nicht so spannend!«, beschwerte sich Hanna.
»Einen gewissen Alfred Marberg!« Triumphierend sah er die beiden an.
»Und was ist daran so toll?« Hanna verstand seine Aufregung nicht ganz.
»Denk doch mal nach!«, mischte sich Sabrina ein, „Wenn das Haus ursprünglich der Familie Marberg gehörte und Herr Baltasar keinen Kaufvertrag aufweisen kann, dann...«
»...dann«, vervollständigte Hanna den Satz, »gehört dem Marberg das Haus! Jetzt habe ich es auch kapiert!«
Plötzlich stupste Hanna die anderen beiden an. »Ach ne! Dreht euch mal unauffällig nach links!“ Sabrina und Hendrik kamen der Aufforderung nach und wussten sogleich, auf was Hanna anspielte. Marberg Junior lehnte lässig an einer Litfaßsäule auf der anderen Straßenseite und betrachtete scheinbar teilnahmslos die Schulkinder, die sich alleine oder in Gruppen auf den Heimweg machten.
»Ich glaube, ich sollte auch langsam nach Hause gehen!«
»Und ich«, Hendrik grinste die Freundinnen listig an, »ich gehe mal wieder eine Runde joggen!« Hanna und Sabrina verabschiedeten sich lachend und machten sich dann kichernd auf den Weg.
21. Dezember
Sabrina hatte verschlafen. Ihre Mutter weckte sie zwar um sieben Uhr, doch vor lauter Müdigkeit zog sie sich murrend die Decke über den Kopf, rollte sich auf die Seite und schlief noch einmal ein. Als ihre Mutter zehn Minuten später einen erneuten Weckversuch unternahm, stand sie schlaftrunken auf, zog sich in Zeitlupentempo an und schlurfte langsam die Treppe hinunter. Kopfschüttelnd erwartete ihre Mutter sie bereits, drückte ihr die Brotzeit in die Hand und schob sie in Richtung Garderobe. Erst die klirrende Kälte, die sie draußen umgab, ließ sie wach werden und ihr fiel der Adventskalender ein.
»So was Blödes«, schimpfte sie vor sich hin und witschte schlecht gelaunt, aber gerade noch rechtzeitig mit dem letzten Ton des Schulgongs ins Klassenzimmer. Hanna war zwar neugierig, kannte jedoch ihre Freundin lang genug, um zu wissen, wann sie sie in Ruhe lassen musste. Bis zur großen Pause stand Sabrinas Stimmungsbarometer wieder auf ‚schön’ und die Mädchen spazierten im Schulhof herum.
»Treffen wir uns heute Nachmittag bei mir?«, wollte Sabrina wissen.
»Das geht heute leider nicht! Aber du könntest zu mir kommen. Ich muss auf meine kleine Schwester aufpassen, weil meine Mutter zum Arzt muss. In Ordnung?« Sabrina nickte. Sie wusste, dass Hanna vorher noch Klavierstunde hatte und antwortete deshalb:
»Klar, ich komme dann so gegen halb vier.« Die beiden gingen wieder zurück in ihr Klassenzimmer und ließen die restlichen Stunden über sich ergehen.
Hendrik kam ihnen bereits entgegen, kaum dass sie aus dem Schulhaus traten. Auch er sagte zu, um fünfzehn Uhr dreißig bei Hanna zu sein. Da es auch mittags noch bitterkalt war, eine Kälte, die im Gesicht richtig weh tat, beeilten sie sich diesmal rasch nach Hause zu kommen.
Sabrina und Hendrik trafen gleichzeitig vor Hannas Haus ein, klingelten, zogen Stiefel und Anoraks aus und gingen ins Wohnzimmer. Das sei sicherer, meinte Hanna. Würden sie in ihrem Zimmer sitzen, käme ständig Annalena, ihre kleine Schwester, herein. Sie machten es sich auf dem großen Sofa bequem und Sabrina holte den Adventskalender aus ihrer Tasche. Die anderen beiden rückten näher heran und linsten über Sabrinas Schulter, als diese langsam das nächste Türchen öffnete. Noten! Nur viele winzige Noten! Enttäuscht reichte Sabrina den Kalender an Hanna weiter.
»Du kannst doch Klavier spielen. Kannst du etwas damit anfangen?« Hanna überlegte kurz, stand auf, kramte in einem Schrank und kehrte mit einem Notenheft und einer Lupe zurück.
»Was hast du vor«, fragte Sabrina neugierig. Doch Hanna drückte Hendrik den Adventskalender und die Lupe in die Hand.
»Spielst du ein Instrument?«
»Klarinette!«
»Wow«, warf Sabrina beeindruckt ein, was ihr einen tadelnden Blick seitens ihrer Freundin einbrachte, die auch sogleich an Hendrik gerichtet fortfuhr:
»Gut, dann nimm die Lupe und diktiere mir bitte die Noten!«
Hendrik entzifferte also die Noten, die Hanna dann in das Notenheft eintrug. Nachdem sie die letzte Note in die Notenzeilen übertragen hatte, setzte sie sich an das Klavier und spielte, was sie soeben aufgeschrieben hatte. Auch wenn Sabrina nicht so musikalisch wie ihre beiden Freunde war, so erkannte sie doch die Melodie sofort.
»Stille Nacht, heilige Nacht«, rief sie laut. »Bloß, was hat das mit dem Vertrag oder Emilies Tod zu tun?«
»Wenn es soweit ist, werden wir es sicherlich erkennen«, entgegnete Hendrik altklug. Um siebzehn Uhr verabschiedete Sabrina sich, da sie noch ins Training musste und auch Hendrik machte sich auf den Heimweg.
22. Dezember
Sabrina hatte ihren Wecker vorsichtshalber auf den Schreibtisch gestellt, damit sie nicht wieder verschlief. Allerdings musste sie nun wirklich aufstehen um ihn abzustellen, da sie vom Bett nicht an den Tisch heranreichte. Andererseits konnte sie nun auch gleich das zweiundzwanzigste Türchen öffnen. Schon wieder eine Türe! Doch solange sie das Bildchen auch anstarrte, es tat sich nichts. Die Türe blieb einfach geschlossen. Sabrina runzelte die Stirn und stellte den Kalender dann wieder hin.
»Vielleicht später«, murmelte sie vor sich hin.
Der Vormittag verlief ereignislos wie immer, und die drei Freunde hatten sich für nachmittags zum Schlittschuhlaufen verabredet. In der Nähe gab es einen kleinen zugefrorenen Weiher, welcher sich hervorragend zum Eislaufen eignete.
Die Kirche lag auf halbem Weg dorthin und deshalb hatten sie sich für fünfzehn Uhr vor dem Kirchenportal verabredet. Sabrina hatte den Treffpunkt schon fast erreicht, als jemand sie am Arm packte und herumriss.
Vor ihr stand Hendriks Verfolger und musterte sie mit einem fiesen Grinsen von oben bis unten.
»Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich sofort los oder ich schreie«, fuhr Sabrina ihn wütend an. Er drehte ihren Arm nach hinten und zischte ihr zu:
»Wenn du nicht sofort die Klappe hältst, breche ich dir den Arm. Also, sei ruhig und hör mir zu. Richte dem Blondschopf einen Gruß aus, wenn er mich verarschen will, muss er früher aufstehen. Und wenn sein Onkel nicht bald freiwillig auszieht, werden wir etwas nachhelfen.« Er ließ ihren Arm los und schubste sie in den Schnee. Sabrina stand auf, rieb sich die schmerzende Körperstelle und rief ihm hinterher:
»Und Sie können ihrem Vater, dem gar nicht so ehrenwerten Herrn Marberg ebenfalls einen Gruß ausrichten, wir lassen uns nämlich nicht einschüchtern.«
Seine Gesichtshaut färbte sich knallrot, doch als er drohend den Arm hob, bemerkte er Hendrik und Hanna, die sich im Laufschritt näherten.
Und so schüttelte er nur noch einmal drohend die Faust und lief in die andere Richtung. Hendrik erreichte Sabrina zuerst und sah sie besorgt an.
»Ist alles in Ordnung? Hat der Mistkerl dir weh getan?« Sabrina lächelte ihn beruhigend an.
»Nein, es geht schon. Ich bin nur furchtbar erschrocken, aber vor allem macht mich der Kerl wütend.« Schnaufend kam Hanna angelaufen und umarmte ihre Freundin.
»Mann, hatte ich Angst, dass wir zu spät kommen.« Sabrina musste lächeln. Hanna war ihre beste Freundin, ein Mathegenie und konnte sicherlich super Klavierspielen, aber schnell rennen, das konnte sie nun wirklich nicht. Sie hob ihre Schlittschuhe, die sie vor Schreck hatte fallen lassen, vom Boden auf, und sagte betont gut gelaunt:
»Na los, was ist, wir wollten doch Schlittschuhlaufen gehen!«
Hanna und Hendrik sahen sich zwar verwundert an, packten jedoch ebenfalls ihre Schlittschuhe und wortlos marschierten die drei zum Weiher.
Es wurde noch ein vergnüglicher Nachmittag und so gegen sechzehn Uhr dreißig machten sie sich wieder auf den Heimweg. Hendrik begleitete beide Mädchen nach Hause. Nach Sabrinas Erlebnis heute Nachmittag widersprach ihm da auch keine der beiden.
Das nächste Türchen half ihnen hoffentlich weiter. Sabrina machte es langsam auf und erblickte ein Haus. Sie betrachtete es genauer. Über der großen Eingangstür hing ein Schild. Mit Hilfe der Lupe ihres Vaters, sie hatte sie immer noch nicht zurückgegeben, obwohl sie wusste, dass er das überhaupt nicht leiden konnte, entzifferte sie das Wort Schule. Ja, wenn sie das Bildchen genauer ansah, glaubte sie ihre alte Grundschule zu erkennen. Ihre Mutter störte ihre Gedanken, indem sie sie zum Frühstück rief.
»Zu dritt denkt es sich eh viel leichter«, murmelte Sabrina vor sich hin und schlüpfte in ihre Klamotten, bevor sie in der Küche erschien.
Hanna wartete bereits auf Sabrina und die beiden Freundinnen steuerten gemeinsam ihr Klassenzimmer an. Auf dem Weg dorthin beschrieb sie ihrer Freundin das Haus.
»Meine Mutter kommt heute Nachmittag sowieso später heim, dann gehe ich gleich nach dem Unterricht in unsere alte Grundschule. Kommst du mit?« Hanna schüttelte bedauernd den Kopf.
»Zahnarzttermin«, murrte sie, »Muss meine Mutter die Termine immer so bescheuert legen? Ich habe überhaupt keine Lust. Wir hätten doch in den Ferien gehen können.«
»Und du meinst, in den Ferien würdest du lieber zum Zahnarzt gehen«, fragte Sabrina zweifelnd.
»Nein«, musste Hanna eingestehen, »wahrscheinlich nicht! Aber meine Schwester geht auch mit. Die freut sich sogar noch drauf!« Sabrina grinste, sagte aber nichts weiter.
Nach dem Unterricht verabschiedeten sich die beiden Mädchen von einander. Hanna ging nach Hause und Sabrina wartete auf Hendrik.
Die Zeit verging, doch er erschien nicht. Merkwürdig! Er kam sonst immer vorbei, entweder in der Pause oder nach dem Unterricht. Sabrina beschloss, alleine los zu ziehen.
Die beiden Schulen lagen nicht weit voneinander entfernt, und so stand sie kurz darauf vor dem Schultor ihrer alten Grundschule. Eine Weile betrachtete sie lediglich das Gebäude. Ja, sie war sich sicher, das Schulhaus sah genauso aus wie auf dem Bild hinter dem heutigen Türchen. Sie drückte die große Eingangstüre auf und betrat das Schulhaus. Langsam spazierte sie den langen Gang entlang, als jemand rief:
»Hallo, Sabrina! Schön, dass du uns einmal besuchst! Wie geht es dir denn so?« Sabrina drehte sich um. Frau Schmidt, ihre Lehrerin von der vierten Klasse kam freudestrahlend auf sie zu. Sabrina lächelte und begrüßte ihrerseits nun die Lehrerin.
»Leider habe ich nicht viel Zeit«, sagte Frau Schmidt bedauernd, »denn heute findet das Ehemaligentreffen der Lehrer statt und ich muss noch einiges vorbereiten.“
»Ich könnte ihnen ja ein bisschen helfen«, schlug Sabrina vor.
»Das wäre nett!«, gab die Lehrerin erleichtert zu, »Die beiden Kolleginnen, die mir eigentlich zur Hand gehen wollten, sind leider erkrankt.«
Sie gingen in die Küche, nahmen das benötigte Geschirr aus den Schränken, trugen es gemeinsam in die Aula, begannen die Tische aufzubauen, Tischdecken aufzulegen und das Geschirr zu verteilen. Sabrina kam gehörig ins Schwitzen und lief schnell nach draußen, um sich kurz abzukühlen.
Gerade wollte sie wieder in das Schulhaus hineingehen, da rief eine bekannte Stimme:
»Hallo Sabrina!«
Verblüfft drehte sie sich um. »Was machst du denn hier?«
Vor ihr stand Hendrik und grinste sie an.
»Also, zuerst musste ich wieder einmal meinen lästigen Beobachter abschütteln und als ich dann endlich vor dem Gymnasium ankam, warst du natürlich schon weg. Ich wollte schon umkehren, als ich sie sah.«
»Wen?«
»Na, das kleine Mädchen«, antwortete Hendrik ungeduldig, »Sie stand auf dem Weg und winkte. Ich bin ihr einfach hinterher gelaufen. Und da bin ich!«
»Das trifft sich gut! Du kannst gleich mithelfen. Komm!« Grinsend drehte Sabrina sich um und marschierte zurück ins Gebäude. Frau Schmidt unterhielt sich mit einer älteren Dame. Sie lächelte die Kinder freundlich an.
»Ah Sabrina, du hast dir Verstärkung mitgebracht! Sehr gut! Das ist übrigens Frau Stern, genau genommen Frau Studienrätin Stern, sie war früher einmal Direktorin hier an der Schule.«
Die Kinder sagten artig »Grüß Gott« und Sabrina stellte Hendrik vor.
»Das ist Hendrik Baltasar! Ein Freund! Er macht hier Ferien bei seinem Onkel. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde er mithelfen.« Fragend blickte sie ihre ehemalige Lehrerin an.
»Nein«, schüttelte diese jedoch nur den Kopf, »natürlich nicht! Jede helfende Hand ist willkommen! Ihr könntet bitte aus der Küche die kleinen Kaffeelöffel und Kuchengabeln holen.« Die beiden taten, wie ihnen geheißen. Als sie das Besteck auf den Tischen verteilten, trat Frau Stern zu ihnen.
»Hendrik Baltasar sagtest du? Es gab hier einmal einen Lehrer, der hieß Nikolaus Baltasar.« Hendrik hielt inne und fragte neugierig:
»Ja, das war mein Ururgroßvater! Kannten Sie ihn?«
Frau Stern lächelte.
»Nein, so alt bin ich nun doch nicht, aber meine Großmutter unterrichtete hier schon als Lehrerin und sie hat mir die traurige Geschichte erzählt.«
Die Kinder blickten sie neugierig an.
»Welche traurige Geschichte?«, erkundigte sich Sabrina vorsichtig, aber äußerst interessiert.
Frau Stern setzte sich auf einen der Stühle.
»Nikolaus Baltasar«, begann sie, »war der Sohn von Katharina und Hendrik Baltasar. Seine Eltern hatten einen Buchladen hier ganz in der Nähe, dort wo heute der kleine Schreibwarenladen ist. Katharina starb bei der Geburt von Nikolaus, am sechsten Dezember, Nikolaustag! Und als ob es nicht schon traurig genug gewesen wäre, verunglückte am Heiligen Abend desselben Jahres die fünfjährige Schwester des kleinen Nikolaus. Und wie immer in solchen Fällen gab es eine Menge Gerüchte über den Tod des kleinen Mädchens. Eine Untersuchung des Vorfalles wurde ergebnislos abgeschlossen und das Ganze steht seitdem als Unglücksfall in den Akten. Aber Gerüchte sind hartnäckig und seinem Vater haben sie sehr zugesetzt. Die Trauer machte ihn unfähig, sich um sein Kind zu kümmern, und so wuchs Nikolaus bei den Großeltern auf. Der Kontakt zu seinem Vater brach angeblich später ganz ab und wurde erst wieder hergestellt, als Nikolaus heiratete und selbst Kinder bekam. Eines seiner Kinder, ein Junge namens Sebastian, übernahm den Laden und machte einen Tante-Emma-Laden daraus.« Sie sah die beiden Kinder an, die sie kein einziges Mal unterbrochen hatten. Sabrina blickte nachdenklich aus dem Fenster.
»Und man hat nie heraus gefunden, wie die Schwester wirklich ums Leben kam?«
»Nein, anscheinend nicht. Seitdem hält sich auch hartnäckig das Gerücht, dass das kleine Mädchen als Geist in dem Haus spukt. Aber«, sagte Frau Stern lächelnd, »solche Gespenstergeschichten lieben die Leute ja.«
Sabrina und Hendrik schauten sich vielsagend an. Sie wussten es besser, hüteten sich jedoch irgendetwas zu verraten.
Frau Schmidt hatte inzwischen Kaffee gekocht und in Thermoskannen gefüllt. Sabrina und Hendrik verteilten diese noch auf den Tischen, dann machten sie sich auf den Heimweg.
20. Dezember
An diesem Morgen lag Sabrina schon eine ganze Weile wach im Bett, bevor der Wecker klingelte, und dachte nach. Langsam wurde die Zeit knapp. Natürlich hatten sie schon eine ganze Menge herausgefunden, aber die beiden wichtigsten Fragen konnten sie immer noch nicht beantworten, nämlich ‚Was geschah wirklich mit Emelie?’ und ‚Wo befand sich der Vertrag?’. Sie grübelte noch eine Weile, dann holte sie sich den Adventskalender und öffnete abermals ein Türchen. Ein Schreibtisch, an dem ein Mann saß, der vor sich etwas stehen hatte. Sie schnappte sich die Lupe, die immer noch nicht den Weg zurück in Papas Schublade gefunden hatte, und betrachtete das Bild aufmerksam. Der Mann hatte eine Uniform an und jetzt drehte er sich um, so dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Er war dunkelhaarig, aber ansonsten sah er aus wie Hendrik, nur größer und älter. Trotzdem kam ihr das Gesicht vertraut vor.
Aufgeregt lief sie zum Telefon und rief Hendrik an. Sie musste einfach Gewissheit haben. Er meldete sich mit einem verschlafen »Hallo«, da sprudelte Sabrina auch schon los.
»Sieht dein Vater aus wie du, beziehungsweise umgekehrt?«
»Hä?«
»Ob du deinem Vater ähnlich siehst, will ich wissen?«, wiederholte Sabrina ungeduldig.
»Erst einmal Guten Morgen!«, gähnte Hendrik, „Zweitens, weißt du eigentlich, dass es erst halb sieben ist und ich Ferien habe? Und drittens, ja, ich sehe meinem Vater ähnlich. Manche sagen sogar: wie aus dem Gesicht geschnitten! Würdest du mir jetzt eventuell verraten, was das Ganze soll?«
Sabrina holte tief Luft, dann erzählte sie ihm von dem heutigen Bildchen.
»Ich denke darüber nach«, versprach Hendrik und legte auf.
Sobald Sabrina zum Frühstück erschien, schaute ihre Mutter sie fragend an.
»Mit wem telefonierst du denn so früh schon?“
»Ach«, schwindelte Sabrina, »Ich hatte vergessen, ob wir heute Schwimmen oder Turnen haben.«
»Und?«
»Schwimmen!«
»Na, dann pack mal schnell deine Schwimmsachen zusammen.« Sabrina nickte und hoffte, dass ihre Mutter nicht bemerkte, dass ihre gepackte Tasche bereits neben der Schultasche stand.
Pünktlich verließ sie das Haus und berichtete vor Unterrichtsbeginn noch rasch alles ihrer Freundin.
»Vielleicht soll das heißen, dass Hendriks Vater uns helfen soll«, meinte diese und sah Sabrina fragend an.
»Habe ich auch schon überlegt, aber seine Eltern wohnen in Hamburg!«
Hanna zuckte mit den Schultern.
»Dann werden wir uns wohl bis heute Mittag gedulden müssen.«
Als die Mädchen nach Schulschluss das Gebäude verließen, wartete Hendrik bereits auf sie. Er sah sehr ernst aus, als er zu reden begann.
»Ich habe meinen Vater angerufen und ein bisschen nachgeforscht. Ihr müsst wissen, dass er bei der Polizei ist, Abteilung Wirtschaftskriminalität. Und wie es aussieht, ist unser sauberer Herr Marberg dort kein Unbekannter. Man konnte ihm allerdings bisher noch nichts nachweisen. Mein Vater meint, das heißt, genau genommen, hat er mir befohlen, die Finger von der ganzen Sache zu lassen.«
»Hast du ihm von deinem Verfolger erzählt?«, wollte Sabrina wissen.
»Nein«, Hendrik schüttelte den Kopf, »dann hätte er mich wahrscheinlich gleich abreisen lassen. Und ich denke, wir sind der Lösung schon recht nahe, das will ich mir doch nicht entgehen lassen!«
Sie beratschlagten wie es weitergehen sollte, da klingelte Hendriks Handy. Er sah auf das Display und verdrehte die Augen.
»Meine Mutter!«, stöhnte er, »Bestimmt hat mein Vater sie alarmiert!« Trotzdem drückte er den grünen Hörer und sagte:
»Hallo Mama, schön dich zu hören!« Gleich darauf verwandelte sich sein unwilliger Gesichtsausdruck in einen höchst interessierten. »Wie, ja das habe ich verstanden. Nein, ich verspreche es, wir sind vorsichtig. Ja, ich dich auch! Bis bald Mama!« Gespannt sahen die Mädchen ihn an. »Mein Vater hat tatsächlich bei meiner Mutter angerufen und die hat ein bisschen in der Vergangenheit gestöbert.«
»Ja, und?«, riefen Sabrina und Hanna wie aus einem Munde.
»Die Großmutter von Hendrik Baltasar hatte eine Schwester, eine Heidelinde. Und ratet mal, wen die geheiratet hat?«
»Mach es nicht so spannend!«, beschwerte sich Hanna.
»Einen gewissen Alfred Marberg!« Triumphierend sah er die beiden an.
»Und was ist daran so toll?« Hanna verstand seine Aufregung nicht ganz.
»Denk doch mal nach!«, mischte sich Sabrina ein, „Wenn das Haus ursprünglich der Familie Marberg gehörte und Herr Baltasar keinen Kaufvertrag aufweisen kann, dann...«
»...dann«, vervollständigte Hanna den Satz, »gehört dem Marberg das Haus! Jetzt habe ich es auch kapiert!«
Plötzlich stupste Hanna die anderen beiden an. »Ach ne! Dreht euch mal unauffällig nach links!“ Sabrina und Hendrik kamen der Aufforderung nach und wussten sogleich, auf was Hanna anspielte. Marberg Junior lehnte lässig an einer Litfaßsäule auf der anderen Straßenseite und betrachtete scheinbar teilnahmslos die Schulkinder, die sich alleine oder in Gruppen auf den Heimweg machten.
»Ich glaube, ich sollte auch langsam nach Hause gehen!«
»Und ich«, Hendrik grinste die Freundinnen listig an, »ich gehe mal wieder eine Runde joggen!« Hanna und Sabrina verabschiedeten sich lachend und machten sich dann kichernd auf den Weg.
21. Dezember
Sabrina hatte verschlafen. Ihre Mutter weckte sie zwar um sieben Uhr, doch vor lauter Müdigkeit zog sie sich murrend die Decke über den Kopf, rollte sich auf die Seite und schlief noch einmal ein. Als ihre Mutter zehn Minuten später einen erneuten Weckversuch unternahm, stand sie schlaftrunken auf, zog sich in Zeitlupentempo an und schlurfte langsam die Treppe hinunter. Kopfschüttelnd erwartete ihre Mutter sie bereits, drückte ihr die Brotzeit in die Hand und schob sie in Richtung Garderobe. Erst die klirrende Kälte, die sie draußen umgab, ließ sie wach werden und ihr fiel der Adventskalender ein.
»So was Blödes«, schimpfte sie vor sich hin und witschte schlecht gelaunt, aber gerade noch rechtzeitig mit dem letzten Ton des Schulgongs ins Klassenzimmer. Hanna war zwar neugierig, kannte jedoch ihre Freundin lang genug, um zu wissen, wann sie sie in Ruhe lassen musste. Bis zur großen Pause stand Sabrinas Stimmungsbarometer wieder auf ‚schön’ und die Mädchen spazierten im Schulhof herum.
»Treffen wir uns heute Nachmittag bei mir?«, wollte Sabrina wissen.
»Das geht heute leider nicht! Aber du könntest zu mir kommen. Ich muss auf meine kleine Schwester aufpassen, weil meine Mutter zum Arzt muss. In Ordnung?« Sabrina nickte. Sie wusste, dass Hanna vorher noch Klavierstunde hatte und antwortete deshalb:
»Klar, ich komme dann so gegen halb vier.« Die beiden gingen wieder zurück in ihr Klassenzimmer und ließen die restlichen Stunden über sich ergehen.
Hendrik kam ihnen bereits entgegen, kaum dass sie aus dem Schulhaus traten. Auch er sagte zu, um fünfzehn Uhr dreißig bei Hanna zu sein. Da es auch mittags noch bitterkalt war, eine Kälte, die im Gesicht richtig weh tat, beeilten sie sich diesmal rasch nach Hause zu kommen.
Sabrina und Hendrik trafen gleichzeitig vor Hannas Haus ein, klingelten, zogen Stiefel und Anoraks aus und gingen ins Wohnzimmer. Das sei sicherer, meinte Hanna. Würden sie in ihrem Zimmer sitzen, käme ständig Annalena, ihre kleine Schwester, herein. Sie machten es sich auf dem großen Sofa bequem und Sabrina holte den Adventskalender aus ihrer Tasche. Die anderen beiden rückten näher heran und linsten über Sabrinas Schulter, als diese langsam das nächste Türchen öffnete. Noten! Nur viele winzige Noten! Enttäuscht reichte Sabrina den Kalender an Hanna weiter.
»Du kannst doch Klavier spielen. Kannst du etwas damit anfangen?« Hanna überlegte kurz, stand auf, kramte in einem Schrank und kehrte mit einem Notenheft und einer Lupe zurück.
»Was hast du vor«, fragte Sabrina neugierig. Doch Hanna drückte Hendrik den Adventskalender und die Lupe in die Hand.
»Spielst du ein Instrument?«
»Klarinette!«
»Wow«, warf Sabrina beeindruckt ein, was ihr einen tadelnden Blick seitens ihrer Freundin einbrachte, die auch sogleich an Hendrik gerichtet fortfuhr:
»Gut, dann nimm die Lupe und diktiere mir bitte die Noten!«
Hendrik entzifferte also die Noten, die Hanna dann in das Notenheft eintrug. Nachdem sie die letzte Note in die Notenzeilen übertragen hatte, setzte sie sich an das Klavier und spielte, was sie soeben aufgeschrieben hatte. Auch wenn Sabrina nicht so musikalisch wie ihre beiden Freunde war, so erkannte sie doch die Melodie sofort.
»Stille Nacht, heilige Nacht«, rief sie laut. »Bloß, was hat das mit dem Vertrag oder Emilies Tod zu tun?«
»Wenn es soweit ist, werden wir es sicherlich erkennen«, entgegnete Hendrik altklug. Um siebzehn Uhr verabschiedete Sabrina sich, da sie noch ins Training musste und auch Hendrik machte sich auf den Heimweg.
22. Dezember
Sabrina hatte ihren Wecker vorsichtshalber auf den Schreibtisch gestellt, damit sie nicht wieder verschlief. Allerdings musste sie nun wirklich aufstehen um ihn abzustellen, da sie vom Bett nicht an den Tisch heranreichte. Andererseits konnte sie nun auch gleich das zweiundzwanzigste Türchen öffnen. Schon wieder eine Türe! Doch solange sie das Bildchen auch anstarrte, es tat sich nichts. Die Türe blieb einfach geschlossen. Sabrina runzelte die Stirn und stellte den Kalender dann wieder hin.
»Vielleicht später«, murmelte sie vor sich hin.
Der Vormittag verlief ereignislos wie immer, und die drei Freunde hatten sich für nachmittags zum Schlittschuhlaufen verabredet. In der Nähe gab es einen kleinen zugefrorenen Weiher, welcher sich hervorragend zum Eislaufen eignete.
Die Kirche lag auf halbem Weg dorthin und deshalb hatten sie sich für fünfzehn Uhr vor dem Kirchenportal verabredet. Sabrina hatte den Treffpunkt schon fast erreicht, als jemand sie am Arm packte und herumriss.
Vor ihr stand Hendriks Verfolger und musterte sie mit einem fiesen Grinsen von oben bis unten.
»Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich sofort los oder ich schreie«, fuhr Sabrina ihn wütend an. Er drehte ihren Arm nach hinten und zischte ihr zu:
»Wenn du nicht sofort die Klappe hältst, breche ich dir den Arm. Also, sei ruhig und hör mir zu. Richte dem Blondschopf einen Gruß aus, wenn er mich verarschen will, muss er früher aufstehen. Und wenn sein Onkel nicht bald freiwillig auszieht, werden wir etwas nachhelfen.« Er ließ ihren Arm los und schubste sie in den Schnee. Sabrina stand auf, rieb sich die schmerzende Körperstelle und rief ihm hinterher:
»Und Sie können ihrem Vater, dem gar nicht so ehrenwerten Herrn Marberg ebenfalls einen Gruß ausrichten, wir lassen uns nämlich nicht einschüchtern.«
Seine Gesichtshaut färbte sich knallrot, doch als er drohend den Arm hob, bemerkte er Hendrik und Hanna, die sich im Laufschritt näherten.
Und so schüttelte er nur noch einmal drohend die Faust und lief in die andere Richtung. Hendrik erreichte Sabrina zuerst und sah sie besorgt an.
»Ist alles in Ordnung? Hat der Mistkerl dir weh getan?« Sabrina lächelte ihn beruhigend an.
»Nein, es geht schon. Ich bin nur furchtbar erschrocken, aber vor allem macht mich der Kerl wütend.« Schnaufend kam Hanna angelaufen und umarmte ihre Freundin.
»Mann, hatte ich Angst, dass wir zu spät kommen.« Sabrina musste lächeln. Hanna war ihre beste Freundin, ein Mathegenie und konnte sicherlich super Klavierspielen, aber schnell rennen, das konnte sie nun wirklich nicht. Sie hob ihre Schlittschuhe, die sie vor Schreck hatte fallen lassen, vom Boden auf, und sagte betont gut gelaunt:
»Na los, was ist, wir wollten doch Schlittschuhlaufen gehen!«
Hanna und Hendrik sahen sich zwar verwundert an, packten jedoch ebenfalls ihre Schlittschuhe und wortlos marschierten die drei zum Weiher.
Es wurde noch ein vergnüglicher Nachmittag und so gegen sechzehn Uhr dreißig machten sie sich wieder auf den Heimweg. Hendrik begleitete beide Mädchen nach Hause. Nach Sabrinas Erlebnis heute Nachmittag widersprach ihm da auch keine der beiden.