Najitzabeth
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Damit wär das 2. Kapitel komplett:
Es dämmerte, als Tam endlich bewusst wurde, dass er nun nie wieder nach Hause gehen konnte. Er war, zusammen mit einer Gruppe von etwa einem Dutzend Aussätzigen, immer Richtung Westen unterwegs. Das flache Land ging langsam in eine steinige Hügelkette über, aber der Wald nahm trotzdem kein Ende. Wie stumme Riesen klammerten sich die Tannen und Kiefern auf dem felsigen Untergrund fest bereit, dort noch Jahrhunderte aus zu harren. Der Junge gruselte sich. Brandenfall war dafür bekannt, dass jeder, der auch nur mit einem Fuß vom Weg abkam, sich nicht sicher sein konnte, ob er diesen Wald noch einmal mit heilen Geist verlassen würde. Er vermutete, dass die Menschen, um ihn herum, ihren Anteil an diesem Gerücht trugen. Die Gruppe hatte den verschlungenen Weg, der durch den Wald führte, schon längst hinter sich gelassen. Nicht einmal ein kleiner Trampelpfad markierte die Strecke, die sie zurücklegten. Einzig eine Frau an der Spitze der Truppe, schien zu wissen, wohin sie gingen. Bei dem Überfall war sie Tam nicht aufgefallen. Als sie aufbrachen, stieß sie einfach zu der Gruppe und führte sie seit dem. Es sah beinahe so aus, als würden die Pflanzen ihr ausweichen, so dass sie ohne Probleme durch das Dickicht kamen. Die Frau selbst sah aus wie ein Baum, mit ihren stämmigen Beinen und Armen, die irgendwie zu lang wirkten. Sogar ihr Haar schimmerte im Licht der Fackeln, wie Tannennadeln.
Tam lief immer dicht bei der alten Frau, die Lanra genannt wurde. Sie war nett und er fühlte sich bei ihr sicherer, als bei denen, die direkt am Überfall teilgenommen hatten. Auch das kleine Mädchen, das Hars beinahe zum Opfer gefallen wäre, blieb dicht bei Lanra. Sie schien den Schrecken gut überwunden zu haben, denn sie redete ohne Unterlass auf die Alte ein. Er bemerkte, dass sie ihn dabei die ganze Zeit anstarrte, was Tam einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Ihre gelben Augen leuchteten in der Dunkelheit. Tam versuchte sich wieder auf den Weg zu konzentrieren. Er wusste nicht, wohin sie gingen und vor allem wusste der Junge nicht, was ihn dort erwartete. Zumindest konnte Tam sich sicher sein, dass sie ihn nicht einfach umbringen würden. Dafür hatte die Frau, namens Najra, schon gesorgt. Sie war zwischen Tam und dem Mann mit dem Messer gestanden, um ihn zu retten, da würde es jetzt sicher niemand wagen ihm etwas anzutun. Zumindest wünschte er sich das.
Weiter vorne verlangsamte sich der Marsch der Truppe. Tam sah, wie sich immer mehr der Aussätzigen an der Stelle, an der sie gerade standen, niederließen und zu essen begannen. Nur die Frau, die sie durch den Wald führte, blieb stehen und lehnte sich gegen einen Baum. Sie verschmolz förmlich mit ihrer Umgebung. Vielleicht hatte Tam sie deswegen bei dem Überfall nicht sehen können.
„Los Kinder, setzt euch zu mir!“ Lanra deutete auf einen moosbewachsenen Fleck neben ihr. Tam tat wie ihm geheißen und nahm an Reens Seite platz. Die alte Frau zog aus der Tasche an ihrem Rock ein großes Stück Brot und Fleisch. Sie verteilte es unter den beiden Kindern und nahm sich dann selbst einen Apfel. Tam hatte gar nicht bemerkt, wie hungrig er eigentlich war, trotzdem zögerte er noch. Lanra schien es zu bemerken und sprach ihn an: „Iss ruhig, sonst schnappt es dir Reen noch weg!“ Sie lächelte. Tatsächlich war das Mädchen mit ihrer Portion bereits fertig und stierte jetzt gierig auf das Fleisch in Tams Hand. Hastig verschlang Tam sein Essen, bevor Reen es ihm wegnahm. Lanra lachte herzhaft und klopfte ihm den Rücken, als er sich verschluckte.
Tams blick wanderte wieder zu Reen, sie beobachtete ihn aufmerksam.
„Wie ist es in der Stadt?“ fragte sie gerade heraus mit ihrer hohen Mädchenstimme.
Tam war verwirrt. War sie etwa noch nie in Sinath gewesen? Sein Blick schweifte ab, zu ihren Augen und er wusste, das sie die Hauptstadt nie betreten durfte.
„Es ist...“
Lanra unterbrach ihn und sah das Mädchen dabei böse an: „Reen! Wie oft muss ich dir noch sagen, das du nicht dorthin darfst! Es ist zu gefährlich für dich... Die Garde hätte dich schneller gefasst, als du um Hilfe rufen kannst.“
„Aber ich würde sooooo gerne einmal mit Najra dahin fahren!“, jammerte das Mädchen.
Anscheinend wurde Tam hier Zeuge einer Diskussion, die beide schon sehr oft geführt hatten. Der Junge erinnerte sich. Najra war mit dem Mann, der ihn töten wollte und einem Anderen, auf den Wagen gestiegen und mit der kompletten Ware, die sie erbeutet hatten, in Richtung Stadt aufgebrochen.
Reen war dagestanden und blickte ihnen sehnsüchtig hinterher.
Jetzt sah das Mädchen enttäuscht zu Boden. Tam hätte ihr gerne erzählt, wie seine Heimat aussah, aber er fürchtete sich davor, von Lanra geschimpft zu werden. Plötzlich fiel ihm etwas hinter Reen auf. Unter ihrem Rock. Eine kleine Beule, die sich bewegte. Zuerst dachte er an ein Tier, das sie dort versteckt hielt, denn ein wenig schwarzes Fell lugte unter dem Saum hervor, aber er verwarf den Gedanken wieder. Die Bewegung, die er unter dem Stoff wahrnahm, erinnerte eher an eine Schlange, als an ein plüschiges Kaninchen. Das Mädchen bemerkte, auf was er da starrte und nahm den Rock beiseite. Vor Schreck sprang Tam auf und schrie. Das was Reen da unter ihrem Gewand versteckt hatte war kein Tier, sondern ein Schwanz!
„Du hast einen Schwanz!“ kreischte er beinahe hysterisch und zeigte mit dem Finger aus sie.
Reen stimmte in das Lachen der anderen Aussätzigen mit ein: „Na und? Du hast Segelohren!“
Der Junge errötete. Damit brachen die Aussätzigen in johlendes Gelächter aus, das erst nach Minuten wieder ganz erstarb.
Tam beruhigte sich erst langsam wieder, während das Mädchen den haarigen Katzenschwanz auf ihren Schoß legte und ihn streichelte. Mit solchen Überraschungen musste er hier wohl rechnen.
Er brauchte eine Weile, bevor er es wagte, sich wieder neben das Mädchen zu setzten.
Reen sah ihn Ernst an: „Hast du jetzt Angst vor mir?“
Der Junge musste einen Moment in sich horchen: „Nein, ich glaube nicht!“ Er beobachtet immer noch den Schwanz, der, genau wie ihr Haar, rabenschwarz war. Bis auf die Spitze, bemerkte er, welche weiß war. Er rückte ein wenig näher, als er Reen lächeln sah: „Darf ich ihn anfassen?“ Tam hob bereits die Hand.
„Du spinnst wohl!“ Das Mädchen drückte sich den Schwanz fest an die Brust, als ob er ihn ihr stehlen wollte. Er musste wohl noch einiges lernen, wenn er mit diesen Leuten leben wollte.
Als der Mond bereits am Himmel stand gingen sie weiter. Tam ließ sich mit Absicht ein Stück zurückfallen. Er wollte eine Weile für sich sein. Mit den Händen in den Hosentaschen und den Blick stur auf den Boden gerichtet, schlurfte er hinter Lanra her. Seine Gedanken führten ihn immer wieder nach Hause zu seiner Mutter. Was würde sie wohl denken, wenn er nicht mit Hars zurück kam? Wenn keiner von beiden wieder kam? Er wünschte, er könnte ihr wenigstens einen Brief schreiben und ihr erklären, dass es ihm gut gehe, aber das würden ihm die Aussätzigen niemals erlauben!
Als er wieder aufblickte, bemerkte er, dass die Gruppe ohne Unterlass weiterging und er immer weiter zurück gefallen war. Niemandem fiel auf, dass der Junge fehlte. Sogar Lanra war zu beschäftigt damit, nach Reen zu rufen, die irgendwo zwischen den Bäumen verschwunden war, als nach dem Jungen zu sehen. Tam erkannte die Möglichkeit, die sich ihm hier gerade bot. Niemand beachtete ihn und es würde wahrscheinlich eine ganze Weile dauern, bis irgendjemandem auffiel, das er fehlte.
Vielleicht bekomme ich so eine Chance nie wieder!
Ohne weiter darüber nach zu denken bog er heimlich ab und fand sich beinahe augenblicklich im dichtesten Gestrüpp wieder. Aber jetzt gab es kein halten mehr für Tam. Er wühlte sich so leise wie nur möglich durch die Äste und Zweige, schließlich konnte er nicht wissen, ob einer der Aussätzigen über ein übernatürliches Gehör verfügte. Das Gestrüpp zog an seinen Kleidern und hinterließ zahlreiche Spuren auf seiner Haut. Tam versuchte die brennenden Stellen zu ignorieren. Immer weiter drang er in den düsteren Wald vor und nur das Mondlicht erhellte seinen Weg. Im ersten Moment war es ihm völlig egal, wohin er lief, aber nach einer Weile schlug er die Richtung, von der er dachte, es wäre die, aus der sie gekommen waren, ein. Ständig versuchte er zu lauschen, ob jemand hinter ihm her war. Doch das einzige, was er wahrnahm, waren die Laute von Tieren, die nachts nach Futter suchten. Erst als er sich ganz sicher war, dass niemand ihn mehr hören konnte, blieb er stehen. Tam wusste nicht, ob er verfolgt wurde, oder ob überhaupt schon jemand bemerkt hatte, das er weg war, aber eins wusste Tam genau. Er hatte sich verlaufen. Hier in diesem Wald gab es rein gar nichts, woran er sich orientieren konnte. Wenn er wieder in die Stadt wollte, musste er irgendwie den Weg finden! Der Junge drehte sich ein paar mal im Kreis, bis er sich entschied, dem Mond den Rücken zu kehren. Er glaubte sich zu erinnern, dass sie auf die helle, runde Scheibe am Himmel zugegangen waren. Sicher war er allerdings nicht. Je weiter er in den Wald eindrang, umso weniger dicht wurde er. Die vielen kleinen Sträucher und Bäume wichen nun immer mehr riesigen Tannen, die scheinbar bis in den Himmel ragten. Es war bitter kalt und Tam fror erbärmlich, aber so war es immer noch besser als die ungewisse Zukunft im Lager der Geächteten. Das Mondlicht reichte hier stellenweise bis auf den düsteren Waldboden, so dass Tam wenigstens keine Angst davor haben musste, über Wurzeln oder Steine zu stolpern. Mit den Händen in den Achseln ging er weiter, in der Hoffnung, bald auf den kleinen Waldweg zu stoßen. Weit konnte es ja nicht mehr sein!
Als es bereits zu dämmern begann, hörte Tam ein Geräusch. Es war das Knacken eines Astes in der Ferne. Eigentlich nichts besonderes in einem Wald und trotzdem ließ es den Jungen aufhorchen. Er dachte an die Fremden, die ihn entführt hatten. Wenn sie ihn jetzt wieder einfingen, würde er vermutlich nicht so gut davon kommen. Trotz der Kälte begann Tam zu schwitzen. Er beschleunigte seine Schritte und hielt nach einem geeigneten Versteck Ausschau. Wenn sie mich erwischen, töten sie mich! Tam begann zu laufen. Er ignorierte seine, von dem langen Lauf, schmerzenden Beine und rannte durch den nebelverhangenen Wald, über Wurzeln und Zweige hinweg. Schon nach kurzer Zeit ging sein Atem schwer und sein Hals schmerzte von der kalten Luft. Lange würde er das nicht aushalten. Wieder hörte er etwas, ganz dicht hinter ihm. Was immer es war, es kam näher. Tam sah wieder den toten Hars vor sich, mit aufgerissenen Augen und einem noch vibrierenden Pfeil im Rücken. Najra war dieses mal nicht hier um ihn zu beschützen.
Etwas stürzte sich von hinten auf ihn und er fiel, mit dem Gesicht voran, zu Boden. Tam wartete auf Schmerzen, er wartete auf irgendetwas, aber nichts geschah. Nur das Gewicht, das ihn unten hielt, blieb. Nachdem sich sein Atem etwas beruhigt hatte, nahm er all seinen Mut zusammen und drehte den Kopf zur Seite. Ein Paar gelbe Augen sahen ihn herausfordernd an.
„Was machst du denn hier?“, fragte die Person, die immer noch auf seinem Rücken saß.
„Reen?!“ Tam keuchte: „Geh bitte von mir runter!“
„Erst wenn du mir sagst, wo du hin willst!“, um ihre Macht zu demonstrieren hüpfte sie ein paar mal auf und ab. Des Junge keuchte noch einmal und versuchte das Mädchen ab zu werfen, ohne Erfolg.
„Nach Hause!“, antwortete er wiederwillig und wartete, dass sie endlich von ihm herunter ging. Langsam kroch die Kälte des Bodens durch seine Kleider und er begann zu zittern.
„In die Stadt?“ Reen machte immer noch keinerlei Anstallten, von Tams Rücken zu gehen.
„Jahaa!“, er glaubte seine Beine schon nicht mehr spüren zu können.
Mit Schwung sprang Reen auf und beobachtet Tam dabei, wie er sich die Stelle rieb, auf der das Mädchen gesessen hatte. Vorsichtig stand er auf. Tam war einen Kopf größer als sie und blickte jetzt zu ihr hinunter.
„Ich komme mit!“, ihr Schwanz zuckte vor Aufregung. Er hatte sich noch nicht an diesen eigenartigen Anblick gewöhnen können. Es war ihr anscheinend wirklich ernst.
„Und wer sagt, dass ich dich mitnehme?“ Der Junge verschränkte trotzig die Arme.
„Ich bin die einzige, die weiß, wie du aus dem Wald wieder rauskommst...“
Dieses Argument war einleuchtend. Tam dachte nach. Was wäre, wenn sie ihn verriet und zurück zu den anderen Aussätzigen brachte? Andererseits wollte sie wirklich in die Stadt und sie kannte diesen Wald!
„Und was ist mit Lanra?“, warf er ein.
„Siehst du die hier irgendwo?“ Reen sah sich gekünstelt um. Dieses Mädchen war ganz schön ausgefuchst.
Die ersten Sonnenstrahlen trafen auf die Baumwipfel und vertrieben den Nebel, als Tam nachgab.
„Also gut, dann aber los!“
Das Mädchen jubelte und hüpfte voraus.
Sie gingen nicht lange, gerade als sich die letzten Nebelschwaden verflüchtigten, bis sie auf den Weg trafen. Tam musste lachen, er war die ganze Zeit parallel dazu gegangen, ohne etwas zu bemerken.
Es dämmerte, als Tam endlich bewusst wurde, dass er nun nie wieder nach Hause gehen konnte. Er war, zusammen mit einer Gruppe von etwa einem Dutzend Aussätzigen, immer Richtung Westen unterwegs. Das flache Land ging langsam in eine steinige Hügelkette über, aber der Wald nahm trotzdem kein Ende. Wie stumme Riesen klammerten sich die Tannen und Kiefern auf dem felsigen Untergrund fest bereit, dort noch Jahrhunderte aus zu harren. Der Junge gruselte sich. Brandenfall war dafür bekannt, dass jeder, der auch nur mit einem Fuß vom Weg abkam, sich nicht sicher sein konnte, ob er diesen Wald noch einmal mit heilen Geist verlassen würde. Er vermutete, dass die Menschen, um ihn herum, ihren Anteil an diesem Gerücht trugen. Die Gruppe hatte den verschlungenen Weg, der durch den Wald führte, schon längst hinter sich gelassen. Nicht einmal ein kleiner Trampelpfad markierte die Strecke, die sie zurücklegten. Einzig eine Frau an der Spitze der Truppe, schien zu wissen, wohin sie gingen. Bei dem Überfall war sie Tam nicht aufgefallen. Als sie aufbrachen, stieß sie einfach zu der Gruppe und führte sie seit dem. Es sah beinahe so aus, als würden die Pflanzen ihr ausweichen, so dass sie ohne Probleme durch das Dickicht kamen. Die Frau selbst sah aus wie ein Baum, mit ihren stämmigen Beinen und Armen, die irgendwie zu lang wirkten. Sogar ihr Haar schimmerte im Licht der Fackeln, wie Tannennadeln.
Tam lief immer dicht bei der alten Frau, die Lanra genannt wurde. Sie war nett und er fühlte sich bei ihr sicherer, als bei denen, die direkt am Überfall teilgenommen hatten. Auch das kleine Mädchen, das Hars beinahe zum Opfer gefallen wäre, blieb dicht bei Lanra. Sie schien den Schrecken gut überwunden zu haben, denn sie redete ohne Unterlass auf die Alte ein. Er bemerkte, dass sie ihn dabei die ganze Zeit anstarrte, was Tam einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Ihre gelben Augen leuchteten in der Dunkelheit. Tam versuchte sich wieder auf den Weg zu konzentrieren. Er wusste nicht, wohin sie gingen und vor allem wusste der Junge nicht, was ihn dort erwartete. Zumindest konnte Tam sich sicher sein, dass sie ihn nicht einfach umbringen würden. Dafür hatte die Frau, namens Najra, schon gesorgt. Sie war zwischen Tam und dem Mann mit dem Messer gestanden, um ihn zu retten, da würde es jetzt sicher niemand wagen ihm etwas anzutun. Zumindest wünschte er sich das.
Weiter vorne verlangsamte sich der Marsch der Truppe. Tam sah, wie sich immer mehr der Aussätzigen an der Stelle, an der sie gerade standen, niederließen und zu essen begannen. Nur die Frau, die sie durch den Wald führte, blieb stehen und lehnte sich gegen einen Baum. Sie verschmolz förmlich mit ihrer Umgebung. Vielleicht hatte Tam sie deswegen bei dem Überfall nicht sehen können.
„Los Kinder, setzt euch zu mir!“ Lanra deutete auf einen moosbewachsenen Fleck neben ihr. Tam tat wie ihm geheißen und nahm an Reens Seite platz. Die alte Frau zog aus der Tasche an ihrem Rock ein großes Stück Brot und Fleisch. Sie verteilte es unter den beiden Kindern und nahm sich dann selbst einen Apfel. Tam hatte gar nicht bemerkt, wie hungrig er eigentlich war, trotzdem zögerte er noch. Lanra schien es zu bemerken und sprach ihn an: „Iss ruhig, sonst schnappt es dir Reen noch weg!“ Sie lächelte. Tatsächlich war das Mädchen mit ihrer Portion bereits fertig und stierte jetzt gierig auf das Fleisch in Tams Hand. Hastig verschlang Tam sein Essen, bevor Reen es ihm wegnahm. Lanra lachte herzhaft und klopfte ihm den Rücken, als er sich verschluckte.
Tams blick wanderte wieder zu Reen, sie beobachtete ihn aufmerksam.
„Wie ist es in der Stadt?“ fragte sie gerade heraus mit ihrer hohen Mädchenstimme.
Tam war verwirrt. War sie etwa noch nie in Sinath gewesen? Sein Blick schweifte ab, zu ihren Augen und er wusste, das sie die Hauptstadt nie betreten durfte.
„Es ist...“
Lanra unterbrach ihn und sah das Mädchen dabei böse an: „Reen! Wie oft muss ich dir noch sagen, das du nicht dorthin darfst! Es ist zu gefährlich für dich... Die Garde hätte dich schneller gefasst, als du um Hilfe rufen kannst.“
„Aber ich würde sooooo gerne einmal mit Najra dahin fahren!“, jammerte das Mädchen.
Anscheinend wurde Tam hier Zeuge einer Diskussion, die beide schon sehr oft geführt hatten. Der Junge erinnerte sich. Najra war mit dem Mann, der ihn töten wollte und einem Anderen, auf den Wagen gestiegen und mit der kompletten Ware, die sie erbeutet hatten, in Richtung Stadt aufgebrochen.
Reen war dagestanden und blickte ihnen sehnsüchtig hinterher.
Jetzt sah das Mädchen enttäuscht zu Boden. Tam hätte ihr gerne erzählt, wie seine Heimat aussah, aber er fürchtete sich davor, von Lanra geschimpft zu werden. Plötzlich fiel ihm etwas hinter Reen auf. Unter ihrem Rock. Eine kleine Beule, die sich bewegte. Zuerst dachte er an ein Tier, das sie dort versteckt hielt, denn ein wenig schwarzes Fell lugte unter dem Saum hervor, aber er verwarf den Gedanken wieder. Die Bewegung, die er unter dem Stoff wahrnahm, erinnerte eher an eine Schlange, als an ein plüschiges Kaninchen. Das Mädchen bemerkte, auf was er da starrte und nahm den Rock beiseite. Vor Schreck sprang Tam auf und schrie. Das was Reen da unter ihrem Gewand versteckt hatte war kein Tier, sondern ein Schwanz!
„Du hast einen Schwanz!“ kreischte er beinahe hysterisch und zeigte mit dem Finger aus sie.
Reen stimmte in das Lachen der anderen Aussätzigen mit ein: „Na und? Du hast Segelohren!“
Der Junge errötete. Damit brachen die Aussätzigen in johlendes Gelächter aus, das erst nach Minuten wieder ganz erstarb.
Tam beruhigte sich erst langsam wieder, während das Mädchen den haarigen Katzenschwanz auf ihren Schoß legte und ihn streichelte. Mit solchen Überraschungen musste er hier wohl rechnen.
Er brauchte eine Weile, bevor er es wagte, sich wieder neben das Mädchen zu setzten.
Reen sah ihn Ernst an: „Hast du jetzt Angst vor mir?“
Der Junge musste einen Moment in sich horchen: „Nein, ich glaube nicht!“ Er beobachtet immer noch den Schwanz, der, genau wie ihr Haar, rabenschwarz war. Bis auf die Spitze, bemerkte er, welche weiß war. Er rückte ein wenig näher, als er Reen lächeln sah: „Darf ich ihn anfassen?“ Tam hob bereits die Hand.
„Du spinnst wohl!“ Das Mädchen drückte sich den Schwanz fest an die Brust, als ob er ihn ihr stehlen wollte. Er musste wohl noch einiges lernen, wenn er mit diesen Leuten leben wollte.
Als der Mond bereits am Himmel stand gingen sie weiter. Tam ließ sich mit Absicht ein Stück zurückfallen. Er wollte eine Weile für sich sein. Mit den Händen in den Hosentaschen und den Blick stur auf den Boden gerichtet, schlurfte er hinter Lanra her. Seine Gedanken führten ihn immer wieder nach Hause zu seiner Mutter. Was würde sie wohl denken, wenn er nicht mit Hars zurück kam? Wenn keiner von beiden wieder kam? Er wünschte, er könnte ihr wenigstens einen Brief schreiben und ihr erklären, dass es ihm gut gehe, aber das würden ihm die Aussätzigen niemals erlauben!
Als er wieder aufblickte, bemerkte er, dass die Gruppe ohne Unterlass weiterging und er immer weiter zurück gefallen war. Niemandem fiel auf, dass der Junge fehlte. Sogar Lanra war zu beschäftigt damit, nach Reen zu rufen, die irgendwo zwischen den Bäumen verschwunden war, als nach dem Jungen zu sehen. Tam erkannte die Möglichkeit, die sich ihm hier gerade bot. Niemand beachtete ihn und es würde wahrscheinlich eine ganze Weile dauern, bis irgendjemandem auffiel, das er fehlte.
Vielleicht bekomme ich so eine Chance nie wieder!
Ohne weiter darüber nach zu denken bog er heimlich ab und fand sich beinahe augenblicklich im dichtesten Gestrüpp wieder. Aber jetzt gab es kein halten mehr für Tam. Er wühlte sich so leise wie nur möglich durch die Äste und Zweige, schließlich konnte er nicht wissen, ob einer der Aussätzigen über ein übernatürliches Gehör verfügte. Das Gestrüpp zog an seinen Kleidern und hinterließ zahlreiche Spuren auf seiner Haut. Tam versuchte die brennenden Stellen zu ignorieren. Immer weiter drang er in den düsteren Wald vor und nur das Mondlicht erhellte seinen Weg. Im ersten Moment war es ihm völlig egal, wohin er lief, aber nach einer Weile schlug er die Richtung, von der er dachte, es wäre die, aus der sie gekommen waren, ein. Ständig versuchte er zu lauschen, ob jemand hinter ihm her war. Doch das einzige, was er wahrnahm, waren die Laute von Tieren, die nachts nach Futter suchten. Erst als er sich ganz sicher war, dass niemand ihn mehr hören konnte, blieb er stehen. Tam wusste nicht, ob er verfolgt wurde, oder ob überhaupt schon jemand bemerkt hatte, das er weg war, aber eins wusste Tam genau. Er hatte sich verlaufen. Hier in diesem Wald gab es rein gar nichts, woran er sich orientieren konnte. Wenn er wieder in die Stadt wollte, musste er irgendwie den Weg finden! Der Junge drehte sich ein paar mal im Kreis, bis er sich entschied, dem Mond den Rücken zu kehren. Er glaubte sich zu erinnern, dass sie auf die helle, runde Scheibe am Himmel zugegangen waren. Sicher war er allerdings nicht. Je weiter er in den Wald eindrang, umso weniger dicht wurde er. Die vielen kleinen Sträucher und Bäume wichen nun immer mehr riesigen Tannen, die scheinbar bis in den Himmel ragten. Es war bitter kalt und Tam fror erbärmlich, aber so war es immer noch besser als die ungewisse Zukunft im Lager der Geächteten. Das Mondlicht reichte hier stellenweise bis auf den düsteren Waldboden, so dass Tam wenigstens keine Angst davor haben musste, über Wurzeln oder Steine zu stolpern. Mit den Händen in den Achseln ging er weiter, in der Hoffnung, bald auf den kleinen Waldweg zu stoßen. Weit konnte es ja nicht mehr sein!
Als es bereits zu dämmern begann, hörte Tam ein Geräusch. Es war das Knacken eines Astes in der Ferne. Eigentlich nichts besonderes in einem Wald und trotzdem ließ es den Jungen aufhorchen. Er dachte an die Fremden, die ihn entführt hatten. Wenn sie ihn jetzt wieder einfingen, würde er vermutlich nicht so gut davon kommen. Trotz der Kälte begann Tam zu schwitzen. Er beschleunigte seine Schritte und hielt nach einem geeigneten Versteck Ausschau. Wenn sie mich erwischen, töten sie mich! Tam begann zu laufen. Er ignorierte seine, von dem langen Lauf, schmerzenden Beine und rannte durch den nebelverhangenen Wald, über Wurzeln und Zweige hinweg. Schon nach kurzer Zeit ging sein Atem schwer und sein Hals schmerzte von der kalten Luft. Lange würde er das nicht aushalten. Wieder hörte er etwas, ganz dicht hinter ihm. Was immer es war, es kam näher. Tam sah wieder den toten Hars vor sich, mit aufgerissenen Augen und einem noch vibrierenden Pfeil im Rücken. Najra war dieses mal nicht hier um ihn zu beschützen.
Etwas stürzte sich von hinten auf ihn und er fiel, mit dem Gesicht voran, zu Boden. Tam wartete auf Schmerzen, er wartete auf irgendetwas, aber nichts geschah. Nur das Gewicht, das ihn unten hielt, blieb. Nachdem sich sein Atem etwas beruhigt hatte, nahm er all seinen Mut zusammen und drehte den Kopf zur Seite. Ein Paar gelbe Augen sahen ihn herausfordernd an.
„Was machst du denn hier?“, fragte die Person, die immer noch auf seinem Rücken saß.
„Reen?!“ Tam keuchte: „Geh bitte von mir runter!“
„Erst wenn du mir sagst, wo du hin willst!“, um ihre Macht zu demonstrieren hüpfte sie ein paar mal auf und ab. Des Junge keuchte noch einmal und versuchte das Mädchen ab zu werfen, ohne Erfolg.
„Nach Hause!“, antwortete er wiederwillig und wartete, dass sie endlich von ihm herunter ging. Langsam kroch die Kälte des Bodens durch seine Kleider und er begann zu zittern.
„In die Stadt?“ Reen machte immer noch keinerlei Anstallten, von Tams Rücken zu gehen.
„Jahaa!“, er glaubte seine Beine schon nicht mehr spüren zu können.
Mit Schwung sprang Reen auf und beobachtet Tam dabei, wie er sich die Stelle rieb, auf der das Mädchen gesessen hatte. Vorsichtig stand er auf. Tam war einen Kopf größer als sie und blickte jetzt zu ihr hinunter.
„Ich komme mit!“, ihr Schwanz zuckte vor Aufregung. Er hatte sich noch nicht an diesen eigenartigen Anblick gewöhnen können. Es war ihr anscheinend wirklich ernst.
„Und wer sagt, dass ich dich mitnehme?“ Der Junge verschränkte trotzig die Arme.
„Ich bin die einzige, die weiß, wie du aus dem Wald wieder rauskommst...“
Dieses Argument war einleuchtend. Tam dachte nach. Was wäre, wenn sie ihn verriet und zurück zu den anderen Aussätzigen brachte? Andererseits wollte sie wirklich in die Stadt und sie kannte diesen Wald!
„Und was ist mit Lanra?“, warf er ein.
„Siehst du die hier irgendwo?“ Reen sah sich gekünstelt um. Dieses Mädchen war ganz schön ausgefuchst.
Die ersten Sonnenstrahlen trafen auf die Baumwipfel und vertrieben den Nebel, als Tam nachgab.
„Also gut, dann aber los!“
Das Mädchen jubelte und hüpfte voraus.
Sie gingen nicht lange, gerade als sich die letzten Nebelschwaden verflüchtigten, bis sie auf den Weg trafen. Tam musste lachen, er war die ganze Zeit parallel dazu gegangen, ohne etwas zu bemerken.