2. Ich muß schreiben

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Rokwe

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2. Ich muß schreiben

Ich möchte an der Last des Schreibens verzweifeln, aber noch fehlt mir die Kraft dazu. Gegenüber dem Sprechenden habe ich zwar den Vorteil des Zeitfaktors, ich kann jedes Wort abwägen, kann unbemerkt korrigieren, verbessern, bereits geschriebene Worte auslöschen. Im Schreiben vermeide ich den Zufallscharakter jeder Rede, umgehe nichtssagende Füllwörter, bin immun gegen das Stottern, das Räuspern, das Zögern, gegen alle Unsicherheit und jedes peinliche Schweigen. Aber eben jene Freiheit und vermeintliche Fehlerhaftigkeit des Sprechens vermisse ich nun immer mehr. Meine Mitteilungsmöglichkeiten sind der Gesten beraubt, ich kann nicht spontan und unverbindlich kommunizieren, sondern leide unter dem Zwang der geschriebenen Perfektion. Wo in der Schrift gibt es die befreiende Kraft eines Schreis, wo die beleidigende Schärfe eines böse hingespuckten Schimpfwortes, wo das hofnarrenartige Augenzwinkern einer ironischen Äußerung? Wer hat es je geschafft, die Aussagekraft eines vielsagenden Mienenspiels auf Papier zu bannen, in welchem Buch steht ein Blickkontakt geschrieben, der alle Worte hinfällig macht? Während ich tagein, tagaus allein in meiner Stube sitze, mit den Worten ringe, mich mit jedem einzelnen Satz quäle, entbehre ich des Gesprächspartners, des Zuhörers, der reagiert, der kommentiert, der Emotionen zeigt, der fragt. Wo ist mein Gegenüber? Für wen schreibe ich? Ja, wer bin ich eigentlich selbst? Wie gerne würde ich über all das mit jemandem reden, verständnisvolle Blicke ernten, gutgemeinte Ratschläge bekommen! Aber ich weiß ja: Was ich ausspreche, verblaßt sofort in der Vergänglichkeit des Augenblicks, verschwindet in den Tiefen der Zeit, zerrinnt im löchrigen Boden des menschlichen Kurzzeitgedächtnisses. Wenn mein Anliegen auch nur die geringste Chance haben soll, sinnvoll zu sein und sinnvoll zu Ende zu gehen, ja überhaupt erst sinnvoll zu beginnen, dann muß es festgehalten werden. Es darf dann zwar ruhig vergessen werden, aber es muß wiederentdeckt werden können. Es muß also geschrieben sein. Indem ich schreibe, errichte ich ein Monument, dauerhafter als ich. Indem ich schreibe, feile und bastle ich an einem größeren Ganzen, das immer komplexer wird und doch immer eins bleibt. Das Endergebnis soll durchdacht und gewollt sein. Ich will es in seiner Gesamtheit bejahen können.
Einst hatte ich einen Gesprächspartner, einen Freund. Es war der Freund in meinem Leben, der eine, der mich verstand. Er trat ganz plötzlich in meine Welt, und ganz plötzlich verschwand er auch wieder. So allein, wie ich beginnen mußte, ende ich jetzt. Und vermisse ihn. Doch es ist jetzt noch nicht an der Zeit, von ihm zu schreiben. Ich muß versuchen, die Geschichte meines Lebens zu ordnen und eine klare Linie einzuhalten, sonst versinke ich im Chaos meiner Gedanken und bleibe unverständlich. Dabei ist es so einfach: Mein Leben läßt sich in drei Phasen teilen. Er ist noch nicht da, er ist da, er ist nicht mehr da. Jetzt ist er nicht mehr da. Manchmal kommt es mir wirklich so simpel vor. Manchmal verliere ich aber auch jede Orientierung, und ich habe das Gefühl, er sei bei mir, obwohl ich weiß, daß er nicht da ist, und dann spüre ich ihn ganz stark und nah und auch wieder nicht, und dann kommt es mir so vor, als sei er noch nicht mehr da, und in einem ganz kurzen Moment scharfer, bitterer Klarheit stelle ich fest, daß er nicht mehr da ist, und begreife die späte, einsame Traurigkeit meines Lebens ...
Ich muß mit der ersten Phase beginnen. Vom Brot habe ich bereits erzählt. All das, was ich im Zusammenhang mit Brot geschrieben habe, fällt bei mir in diese erste Phase. Es ist jetzt noch nicht verständlich, aber ich mußte damit beginnen, da man vielleicht nur so etwas von dem Menschen verstehen kann, der ich war. Ich verstehe mich zwar selbst nicht, und manchmal denke ich, daß ich gar nicht ich selbst war und bin und daß mein Leben nur durch ihn, von dem ich später schreiben werde, definiert wurde und wird, aber dann denke ich wieder, daß es ganz so auch nicht sein kann. Denn ich schreibe, ohne daß er da ist, also schreibe ich; ich bin es ganz allein, der erzählt. Oder ist es doch auch er, der aus mir spricht? Ich schreibe, um mich selbst zu finden, um mich selbst zu verstehen, vielleicht auch um ihn zu verstehen, ich weiß es nicht, ich möchte einfach etwas von mir in den Händen halten, ich möchte einen Widerhall hören, und deshalb habe ich auch das Brot an den Anfang gesetzt, da ich es entdeckt hatte, bevor er in mein Leben trat; all das, was ich über das Brot schrieb, bin ich, geht von mir aus, kehrt zu mir zurück. Brot ... ja, wie schön ist es auch heute noch, darüber nachzudenken, wie lange ist das her ... Aber wenn ich ehrlich bin: Habe ich mich seit damals überhaupt verändert? Gerade kommt es mir so vor, als sei der Freund nur ein Zwischenspiel in meinem Leben gewesen, ein lautes Intermezzo, immer nur als solches vorgesehen gewesen, nie mehr als ein zeitweiliger Begleiter, und ich bin der Eigentliche, das Eigentliche, und vielleicht hat sich auch er gefragt, was er denn ohne mich sei ... Vielleicht ist tatsächlich das Brot der Schlüssel zu meinem Ich. Vielleicht ist doch alles ganz einfach. Ich muß unbedingt von mir, dem Brot und noch vielen anderen seltsamen Dingen erzählen. Ich muß schreiben. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob ich will oder nicht. Ich muß.
 



 
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