pol shebbel
Mitglied
(Und von Sinn für dichterische Schönheit.)
"Also hört zu!" sagte der Workash Kal, der seit kurzem Pellssai hiess. "Meine erste Idee kam von der Dichtkunst."
Paril (der seit kurzem O'mîkal Shimrôm hiess), Andai und Shnoiw sassen mit ihm zusammen am Rande einer eingezäunten Weide, auf der unzählige Ziegen gemächlich über den unebenen Boden kletterten oder in der Sonne dösten. Es war heller Mittag; die brennenden Sonnenstrahlen wurden von den Köpfen der Menschen abgehalten durch grosse, flache, korbähnliche Sonnenhüte, die nebenbei noch den Effekt hatten, Parils Blick von dem ihm immer noch Schwindel erregenden hohen Himmel fernzuhalten. Ihr Aussehen hatte sich im übrigen insgesamt ziemlich radikal geändert, als Resultat des Abwaschens diverser Schmutz- und Schorfschichten sowie des Versehens mit neuen Kleidern - ausser den Hüten noch knielange Hosen und ärmellose Westen, grob, zweckmässig und nicht so verschieden von denen im Pyramidalwald. Vollends nicht wiederzuerkennen war Andai, der jetzt auch ohne Bart unterwegs war.
Mit Ausnahme von Temon, dem es noch nicht so gut ging, waren sie während des Morgens vom Dorf her noch höher gestiegen, in für Paril unvollstellbare Höhen. Hier in den Bergen, wo sich den Sommer über die Tiere des Dorfes aufhielten, würden sie in den nächsten Wochen arbeiten, als Gegenleistung für die in der Höhle verbrauchten Vorräte.
"In der Dichtkunst nämlich", fuhr der Workash Kal fort, "geht es, wie man weiss, grob gesagt darum, Worte und Sätze auf ganz bestimmte Weise zu bilden und zusammenzugruppieren. Nehmt zum Beispiel folgenden Vers aus dem Grünen Buch:
Und unter allem unberührt steht Ork
Als Fels, als festes Fundament von allen.
Jede Zeile besteht aus einer Folge betonter und unbetonter, langer und kurzer Silben. Die Abfolge ist vorgegeben und sorgt für ein angenehmes Klingen beim Vortragen. Ferner: In der zweiten Zeile heisst es: Fels, festes Fundament... Diese drei Wörter gehören eindeutig zusammen, und dies nicht nur wegen ihrer Bedeutung im Satz, sondern auch, weil sie auf bestimmte Weise ähnlich klingen. Fels, festes Fundament. Hört ihr? Wenn man sie spricht, beginnen sie alle gleich: Fff..." Er hatte den Mund gespitzt und sprach den Anfang ganz langsam. "Oder nehmt folgenden Vers:
Der Pyramidalbaum, durch auf ihm spriessendes Leben geziert
Als Stätte der Meditation zu neuen Ehren geführt...
Dieser Vers reimt sich. Und was ist ein Reim? Beide Zeilen hören ähnlich auf: geziert - geführt. Seht ihr das Prinzip? Es werden klangliche Eigenschaften der Wörter benutzt. Und ich denke mir nun: Wie, wenn man ein Schriftsystem hätte, das auf klanglichen Eigenschaften aufbaut?"
"Hmm..." Andai legte die Stirn in Falten. "Aber... ein Wort ist doch nicht bloss eine Reihe von Klängen. Jedes Windrauschen ist eine Reihe von Klängen. Ein Wort jedoch hat eine Bedeutung; ein Begriff, eine ganze Welt von Begriffen und Vorstellungen steckt in jedem Wort. Und genauso steht jedes Schriftzeichen für einen Begriff, hat eine grosse, philosophische Bedeutung. Ich finde das sehr schön und auch sehr logisch..."
"Nicht ganz! Nicht ganz logisch!" widersprach Pellssai. "Das war mein zweiter Angriffspunkt. Beachtet einmal, wie man Personen- oder Ortsnamen schreibt! Viele haben natürlich eine Bedeutung und werden entsprechend geschrieben. Aber gerade zum Beispiel mein Name - mein früherer Name, will ich sagen, Assing. Es ist keine gesicherte Bedeutung dafür bekannt. Die zwei Zeichen, die früher auf Bêng Parils Jacke standen, haben nichts mit der Bedeutung des Namens zu tun, sie werden nur so ähnlich ausgesprochen. Und Ssukr pardauz - da haben wir die Idee ja schon verwirklicht! Nur die Schriftzeichen sind noch ungeeignet. Wenn wir jetzt das Zeichensystem von Grund auf nach dem Klang organisieren - wenn wir die Ähnlichkeiten in der Aussprache der verschiedenen Wörter ausnutzen - dann kann man meiner Einschätzung nach die Anzahl Zeichen drastisch reduzieren. Vielleicht wären sogar 100 oder gar 50 Zeichen genug! Stellt euch das vor: weniger als ein Prozent vom alten Schriftsystem! Jeder Mensch könnte innert Jahresfrist lesen und schreiben lernen - habt ihr schon einmal überlegt, was das bedeutet?!"
Ein Feuer schien in Pellssai zu glühen - nicht das teuflische Feuer des Waldbrandes, sondern das heilige Feuer des wahren Hochmeisters, wenn auch an einem weitgehend anderen Thema entzündet. "Man braucht nicht mehr jedesmal einen Schreiber, um einen Vertrag zu schliessen, oder um einen Vertrag nur anzusehen - man kann jeden Vertrag leicht selbst überprüfen; man muss sich nicht mehr betrügen lassen - und vor allem: Man muss nicht mehr Jahre und Jahre des Studiums für das Auswendiglernen von Abertausenden von Zeichen verschwenden! Der Mensch wird frei, sich den wirklich wichtigen Dingen zu widmen - zum Beispiel dem Gedeihen von Ssai! Welch ein Gewinn für die Wissenschaft, für Ssai, für alle!"
"Hmm..." sagte Andai wieder, immer noch mit Zweifel in der Stimme. "Ich weiss nicht. Ich empfand das Lernen der Schrift als eine hochwertige Schulung des Geistes, die mir bei späteren Studien enorm von Nutzen war. Wenn das wegfällt, wird der Gewinn vielleicht nicht so hoch sein, wie Er meint..."
"Naa!" erklang Shnoiw, der bisher geschwiegen hatte. "Ich kann nicht schreiben, und auch nach all euren Reden sehe ich eigentlich keinen Grund, es zu lernen. Wenn man einfach alles aufschreiben kann, wird man bequem und verliert die Fähigkeit, Dinge im Kopf zu behalten..."
"Hmm, ja, das ist sicher eine Gefahr", räumte Pellssai ein. "Man muss sich ihrer bewusst sein und rechtzeitig etwas unternehmen..."
"Und noch etwas", sagte Shnoiw. "In verschiedenen Gegenden sprechen doch alle verschieden, Babygesicht hier und ich zum Beispiel. Wenn nun die Schrift von der Aussprache abhängt, dann wird man überall auf andere Art schreiben..."
"Na ja... schon", gab Pellssai zu, "aber... warum nicht? Ich meine, wir verstehen einander doch, obwohl wir verschiedene Dialekte sprechen..."
"Na! Aber doch nicht so einfach..." Paril hatte mittlerweile schon ein paar Tage Erfahrung mit unverständlichen Dialekten. "Aber wenn ich mal meine Meinung sagen darf: ich glaube, ihr denkt alle viel zu weit - ich sehe da ganz andere Probleme. Meint Er wirklich, mit nur 50 Zeichen könne man alles schreiben? Das ist doch vollkommen unmöglich. Wörter können auf so viele verschiedene Arten ähnlich klingen! Ausserdem müsste man doch wohl, wenn ich richtig verstanden habe, jedes Wort mit mehreren Zeichen schreiben. Meint Er nicht, das Schreiben würde anstatt einfacher eher noch komplizierter?"
"Ja..." Pellssai nickte langsam und nachdrücklich mit seinem grossen Hut. "Genau das gilt es herauszufinden. Wollt ihr mir dabei helfen?"
Shnoiw schwieg, grinste und hob die rechte Hand. Die anderen taten dasselbe, und sie tauschten einen Gruss nach Art der Metallberge: mit der Hand den Daumen des anderen umfassen und kräftig drücken.
"Ah", bemerkte Shnoiw wenig später, "ich sehe, da kommen Uemonni und Iling mit dem Mittagessen..." Sie begrüssten Iling, den Ziegenhirten, und Uemonni (letzterer hatte kein Interesse an Schrift und Dichtkunst gezeigt und stattdessen freundlicherweise die Unterkunft eingerichtet) und setzten sich zum Essen nieder. Es gab dieses aus Korn gemachte Fladenbrot, das Paril in der Höhle zum erstenmal gekostet hatte, und dazu Käse - das war etwas Krümeliges, Weisses, Bröckliges, das aus Ziegenmilch gemacht wurde; Paril kannte es, seit er hier war, und es schien ihm längst das Normalste der Welt. Die Portionen waren klein, denn auch Iligchal hatte die Trockenheit zu spüren bekommen.
Anschliessend sassen sie etwas auf durchwärmten Felsen und schauten hinab auf das Dorf - spielzeughaft klein von hier oben - auf die weite, leicht gewellte Hochebene, die im Sonnenglast brütete, und noch weiter, wo, undeutlich im Dunst am Horizont, eine dunkle Masse zu sehen war: der Pyramidalwald. Paril beobachtete den Workash Kal, der mit ausdruckslosem Blick in die Weite starrte; seine Stirn lag in Falten. Wo waren die Verfolger geblieben? Waren sie abgezogen im Glauben, die Flüchtigen seien in den Fluten ertrunken - oder würden sie eines Tages bis hier kommen? Ein ganzes Heer würde es kaum sein; aber um jemanden umzubringen, genügte schliesslch ein einziger... Paril realisierte plötzlich, dass sich der ehemalige Hochmeister Assing an keinem Ort längere Zeit sicher fühlen würde; eines Tages würde er auch Iligchal verlassen müssen...
Paril wandte sich seinen eigenen Erinnerungen zu. Wo mochte Shebbel jetzt sein? Acho? Etuik? Gânssi? Ssukr, Gânssi... Plötzlich fühlte er ein ungeheures Gefühl der Trostlosigkeit in sich aufsteigen. Was sollte ihm das alles hier?! Was ging ihn das alles an, die Revolutionierung der Schrift, die Mitarbeit an einer vielleicht glänzenden Zukunft?! Die glänzendste Zukunft war ihm so etwas von scheissegal - ohne Zögern würde er sie eintauschen gegen einen bescheidenen, gemütlichen Winkel in der Vergangenheit... Bei allen Wasserteufeln, er befand sich noch immer auf dem Meeresgrund. Und wenn er die ganze Kletter-Quälerei, die er schon erduldet hatte, noch zehnmal auf sich nahm - auch wenn er den höchsten Berg der Welt erklomm, sein Leben verlief weiter auf dem Meeresgrund...
Gedankenverloren zog er sein Messer hervor und begann, es hin- und herzudrehen, bis er im Metall sein Spiegelbild sehen konnte. Ha, ha - ein "Babygesicht" war er nun kaum mehr. Aber grob und hässlich war er geworden - wenn auch das gebogene Metall ihn noch etwas hässlicher aussehen liess. Würde Gânssi ihn noch mögen?
Es war egal. Auch das war scheissegal! Dieser Teil seines Lebens war unwiderruflich nicht mehr zugänglich. Alles war anders geworden - was als heilige Autorität aufgetreten war, hatte sich als zynische, menschenverachtende Gewalt entlarvt, und was er als Abschaum verachtet hatte, war jetzt sein normaler Umgang; die moralischen Werte hatten sich umgekehrt - eine Art persönlicher Chu Uîw...
Ein besonderes Stück Erinnerung brachte Paril plötzlich zum Grinsen. Ausgerechnet Gânssi war es gewesen - bei ihrem letzten unbeschwerten Gespräch, dem letzten vor dem Beginn des Chu Uîw - welch ein grauenhafter, jede Lebensfaser durchschüttelnde Chu Uîw war das gewesen! - hatte sie behauptet, ihm fehle der Sinn für dichterische Schönheit. Und jetzt, bei Pellssais Projekt, war Paril drauf und dran, sich ausgerechnet mit dichterischer Schönheit zu beschäftigen! Welche Ironie - aber was solls. Ich bin nicht würdig, an einer glänzenden Zukunft mitzuarbeiten, Gânssi hatte recht - aber was solls. Wo sonst soll ich hin - dann eben in eine glänzende Zukunft...
"Also hört zu!" sagte der Workash Kal, der seit kurzem Pellssai hiess. "Meine erste Idee kam von der Dichtkunst."
Paril (der seit kurzem O'mîkal Shimrôm hiess), Andai und Shnoiw sassen mit ihm zusammen am Rande einer eingezäunten Weide, auf der unzählige Ziegen gemächlich über den unebenen Boden kletterten oder in der Sonne dösten. Es war heller Mittag; die brennenden Sonnenstrahlen wurden von den Köpfen der Menschen abgehalten durch grosse, flache, korbähnliche Sonnenhüte, die nebenbei noch den Effekt hatten, Parils Blick von dem ihm immer noch Schwindel erregenden hohen Himmel fernzuhalten. Ihr Aussehen hatte sich im übrigen insgesamt ziemlich radikal geändert, als Resultat des Abwaschens diverser Schmutz- und Schorfschichten sowie des Versehens mit neuen Kleidern - ausser den Hüten noch knielange Hosen und ärmellose Westen, grob, zweckmässig und nicht so verschieden von denen im Pyramidalwald. Vollends nicht wiederzuerkennen war Andai, der jetzt auch ohne Bart unterwegs war.
Mit Ausnahme von Temon, dem es noch nicht so gut ging, waren sie während des Morgens vom Dorf her noch höher gestiegen, in für Paril unvollstellbare Höhen. Hier in den Bergen, wo sich den Sommer über die Tiere des Dorfes aufhielten, würden sie in den nächsten Wochen arbeiten, als Gegenleistung für die in der Höhle verbrauchten Vorräte.
"In der Dichtkunst nämlich", fuhr der Workash Kal fort, "geht es, wie man weiss, grob gesagt darum, Worte und Sätze auf ganz bestimmte Weise zu bilden und zusammenzugruppieren. Nehmt zum Beispiel folgenden Vers aus dem Grünen Buch:
Und unter allem unberührt steht Ork
Als Fels, als festes Fundament von allen.
Jede Zeile besteht aus einer Folge betonter und unbetonter, langer und kurzer Silben. Die Abfolge ist vorgegeben und sorgt für ein angenehmes Klingen beim Vortragen. Ferner: In der zweiten Zeile heisst es: Fels, festes Fundament... Diese drei Wörter gehören eindeutig zusammen, und dies nicht nur wegen ihrer Bedeutung im Satz, sondern auch, weil sie auf bestimmte Weise ähnlich klingen. Fels, festes Fundament. Hört ihr? Wenn man sie spricht, beginnen sie alle gleich: Fff..." Er hatte den Mund gespitzt und sprach den Anfang ganz langsam. "Oder nehmt folgenden Vers:
Der Pyramidalbaum, durch auf ihm spriessendes Leben geziert
Als Stätte der Meditation zu neuen Ehren geführt...
Dieser Vers reimt sich. Und was ist ein Reim? Beide Zeilen hören ähnlich auf: geziert - geführt. Seht ihr das Prinzip? Es werden klangliche Eigenschaften der Wörter benutzt. Und ich denke mir nun: Wie, wenn man ein Schriftsystem hätte, das auf klanglichen Eigenschaften aufbaut?"
"Hmm..." Andai legte die Stirn in Falten. "Aber... ein Wort ist doch nicht bloss eine Reihe von Klängen. Jedes Windrauschen ist eine Reihe von Klängen. Ein Wort jedoch hat eine Bedeutung; ein Begriff, eine ganze Welt von Begriffen und Vorstellungen steckt in jedem Wort. Und genauso steht jedes Schriftzeichen für einen Begriff, hat eine grosse, philosophische Bedeutung. Ich finde das sehr schön und auch sehr logisch..."
"Nicht ganz! Nicht ganz logisch!" widersprach Pellssai. "Das war mein zweiter Angriffspunkt. Beachtet einmal, wie man Personen- oder Ortsnamen schreibt! Viele haben natürlich eine Bedeutung und werden entsprechend geschrieben. Aber gerade zum Beispiel mein Name - mein früherer Name, will ich sagen, Assing. Es ist keine gesicherte Bedeutung dafür bekannt. Die zwei Zeichen, die früher auf Bêng Parils Jacke standen, haben nichts mit der Bedeutung des Namens zu tun, sie werden nur so ähnlich ausgesprochen. Und Ssukr pardauz - da haben wir die Idee ja schon verwirklicht! Nur die Schriftzeichen sind noch ungeeignet. Wenn wir jetzt das Zeichensystem von Grund auf nach dem Klang organisieren - wenn wir die Ähnlichkeiten in der Aussprache der verschiedenen Wörter ausnutzen - dann kann man meiner Einschätzung nach die Anzahl Zeichen drastisch reduzieren. Vielleicht wären sogar 100 oder gar 50 Zeichen genug! Stellt euch das vor: weniger als ein Prozent vom alten Schriftsystem! Jeder Mensch könnte innert Jahresfrist lesen und schreiben lernen - habt ihr schon einmal überlegt, was das bedeutet?!"
Ein Feuer schien in Pellssai zu glühen - nicht das teuflische Feuer des Waldbrandes, sondern das heilige Feuer des wahren Hochmeisters, wenn auch an einem weitgehend anderen Thema entzündet. "Man braucht nicht mehr jedesmal einen Schreiber, um einen Vertrag zu schliessen, oder um einen Vertrag nur anzusehen - man kann jeden Vertrag leicht selbst überprüfen; man muss sich nicht mehr betrügen lassen - und vor allem: Man muss nicht mehr Jahre und Jahre des Studiums für das Auswendiglernen von Abertausenden von Zeichen verschwenden! Der Mensch wird frei, sich den wirklich wichtigen Dingen zu widmen - zum Beispiel dem Gedeihen von Ssai! Welch ein Gewinn für die Wissenschaft, für Ssai, für alle!"
"Hmm..." sagte Andai wieder, immer noch mit Zweifel in der Stimme. "Ich weiss nicht. Ich empfand das Lernen der Schrift als eine hochwertige Schulung des Geistes, die mir bei späteren Studien enorm von Nutzen war. Wenn das wegfällt, wird der Gewinn vielleicht nicht so hoch sein, wie Er meint..."
"Naa!" erklang Shnoiw, der bisher geschwiegen hatte. "Ich kann nicht schreiben, und auch nach all euren Reden sehe ich eigentlich keinen Grund, es zu lernen. Wenn man einfach alles aufschreiben kann, wird man bequem und verliert die Fähigkeit, Dinge im Kopf zu behalten..."
"Hmm, ja, das ist sicher eine Gefahr", räumte Pellssai ein. "Man muss sich ihrer bewusst sein und rechtzeitig etwas unternehmen..."
"Und noch etwas", sagte Shnoiw. "In verschiedenen Gegenden sprechen doch alle verschieden, Babygesicht hier und ich zum Beispiel. Wenn nun die Schrift von der Aussprache abhängt, dann wird man überall auf andere Art schreiben..."
"Na ja... schon", gab Pellssai zu, "aber... warum nicht? Ich meine, wir verstehen einander doch, obwohl wir verschiedene Dialekte sprechen..."
"Na! Aber doch nicht so einfach..." Paril hatte mittlerweile schon ein paar Tage Erfahrung mit unverständlichen Dialekten. "Aber wenn ich mal meine Meinung sagen darf: ich glaube, ihr denkt alle viel zu weit - ich sehe da ganz andere Probleme. Meint Er wirklich, mit nur 50 Zeichen könne man alles schreiben? Das ist doch vollkommen unmöglich. Wörter können auf so viele verschiedene Arten ähnlich klingen! Ausserdem müsste man doch wohl, wenn ich richtig verstanden habe, jedes Wort mit mehreren Zeichen schreiben. Meint Er nicht, das Schreiben würde anstatt einfacher eher noch komplizierter?"
"Ja..." Pellssai nickte langsam und nachdrücklich mit seinem grossen Hut. "Genau das gilt es herauszufinden. Wollt ihr mir dabei helfen?"
Shnoiw schwieg, grinste und hob die rechte Hand. Die anderen taten dasselbe, und sie tauschten einen Gruss nach Art der Metallberge: mit der Hand den Daumen des anderen umfassen und kräftig drücken.
"Ah", bemerkte Shnoiw wenig später, "ich sehe, da kommen Uemonni und Iling mit dem Mittagessen..." Sie begrüssten Iling, den Ziegenhirten, und Uemonni (letzterer hatte kein Interesse an Schrift und Dichtkunst gezeigt und stattdessen freundlicherweise die Unterkunft eingerichtet) und setzten sich zum Essen nieder. Es gab dieses aus Korn gemachte Fladenbrot, das Paril in der Höhle zum erstenmal gekostet hatte, und dazu Käse - das war etwas Krümeliges, Weisses, Bröckliges, das aus Ziegenmilch gemacht wurde; Paril kannte es, seit er hier war, und es schien ihm längst das Normalste der Welt. Die Portionen waren klein, denn auch Iligchal hatte die Trockenheit zu spüren bekommen.
Anschliessend sassen sie etwas auf durchwärmten Felsen und schauten hinab auf das Dorf - spielzeughaft klein von hier oben - auf die weite, leicht gewellte Hochebene, die im Sonnenglast brütete, und noch weiter, wo, undeutlich im Dunst am Horizont, eine dunkle Masse zu sehen war: der Pyramidalwald. Paril beobachtete den Workash Kal, der mit ausdruckslosem Blick in die Weite starrte; seine Stirn lag in Falten. Wo waren die Verfolger geblieben? Waren sie abgezogen im Glauben, die Flüchtigen seien in den Fluten ertrunken - oder würden sie eines Tages bis hier kommen? Ein ganzes Heer würde es kaum sein; aber um jemanden umzubringen, genügte schliesslch ein einziger... Paril realisierte plötzlich, dass sich der ehemalige Hochmeister Assing an keinem Ort längere Zeit sicher fühlen würde; eines Tages würde er auch Iligchal verlassen müssen...
Paril wandte sich seinen eigenen Erinnerungen zu. Wo mochte Shebbel jetzt sein? Acho? Etuik? Gânssi? Ssukr, Gânssi... Plötzlich fühlte er ein ungeheures Gefühl der Trostlosigkeit in sich aufsteigen. Was sollte ihm das alles hier?! Was ging ihn das alles an, die Revolutionierung der Schrift, die Mitarbeit an einer vielleicht glänzenden Zukunft?! Die glänzendste Zukunft war ihm so etwas von scheissegal - ohne Zögern würde er sie eintauschen gegen einen bescheidenen, gemütlichen Winkel in der Vergangenheit... Bei allen Wasserteufeln, er befand sich noch immer auf dem Meeresgrund. Und wenn er die ganze Kletter-Quälerei, die er schon erduldet hatte, noch zehnmal auf sich nahm - auch wenn er den höchsten Berg der Welt erklomm, sein Leben verlief weiter auf dem Meeresgrund...
Gedankenverloren zog er sein Messer hervor und begann, es hin- und herzudrehen, bis er im Metall sein Spiegelbild sehen konnte. Ha, ha - ein "Babygesicht" war er nun kaum mehr. Aber grob und hässlich war er geworden - wenn auch das gebogene Metall ihn noch etwas hässlicher aussehen liess. Würde Gânssi ihn noch mögen?
Es war egal. Auch das war scheissegal! Dieser Teil seines Lebens war unwiderruflich nicht mehr zugänglich. Alles war anders geworden - was als heilige Autorität aufgetreten war, hatte sich als zynische, menschenverachtende Gewalt entlarvt, und was er als Abschaum verachtet hatte, war jetzt sein normaler Umgang; die moralischen Werte hatten sich umgekehrt - eine Art persönlicher Chu Uîw...
Ein besonderes Stück Erinnerung brachte Paril plötzlich zum Grinsen. Ausgerechnet Gânssi war es gewesen - bei ihrem letzten unbeschwerten Gespräch, dem letzten vor dem Beginn des Chu Uîw - welch ein grauenhafter, jede Lebensfaser durchschüttelnde Chu Uîw war das gewesen! - hatte sie behauptet, ihm fehle der Sinn für dichterische Schönheit. Und jetzt, bei Pellssais Projekt, war Paril drauf und dran, sich ausgerechnet mit dichterischer Schönheit zu beschäftigen! Welche Ironie - aber was solls. Ich bin nicht würdig, an einer glänzenden Zukunft mitzuarbeiten, Gânssi hatte recht - aber was solls. Wo sonst soll ich hin - dann eben in eine glänzende Zukunft...
E N D E