25 Jahre

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Seit 25 Jahren trinken wir regelmäßig in dem Weinhaus. Hier hat sich nichts verändert. Die Kellnerin serviert den Gästen seit Jahren das Gleiche. Haare werden grauer, Glatzen größer, die Gespräche und Schicksale wiederholen sich. Die Alten sterben weg, Junge nehmen ihre Plätze ein.

Wir sitzen da und unterhalten uns. Mittlerweile musst du zur Dialyse. Deine Nieren haben den Geist aufgegeben. Jetzt sitzt du dreimal in der Woche neben dem Apparat und verbrauchst hunderte Liter Trinkwasser. Natürlich belastet dich das. Sagst du selbst. Aber Sterben ist für dich auch keine Option. Hast mit dem Leben noch nicht abgeschlossen und Angst vorm Tod hast du natürlich auch.

Wir sitzen am Resopaltisch und trinken, reden über so manch belangloses Zeug. Plötzlich nennst du mich einen Ahnungslosen und ich sollte doch mal Geschichte lernen. Dir ist nicht klar, wie abgelutscht dieser Spruch schon ist. Du hast dich mit “der” Geschichte befasst, du sagst, du kennst dich aus.

Ich frage mich im gleichen Moment, wie das jetzt gekommen ist, warum die Situation gerade eskaliert und ich da mittendrin stecke. Du rätst mir, mich für eine Seite zu entscheiden, also für deine Seite, für die richtige Seite. Ich sage dir, dass ich nicht Partei ergreifen werde. Deiner Meinung nach bin ich propagandistisch gehirngewaschen. Es ist interessant, dass du mir nicht zuhörst. Etwas in dir blendet die Realität gerade aus. Du nennst mich einen Esoteriker und Hippie. Ich grinse. Ich weiß, dass ich weder das eine noch das andere bin. Du hörst nicht zu.

Du zeigst mir Seiten von dir, die ich in all den Jahren nicht gesehen habe. Das finde ich spannend. Schade, dass du mich so lange getäuscht hast. Das wiederum beweist mir meine Unzulänglichkeit und darüber ärgere ich mich jetzt am meisten. Du verhältst dich grenzüberschreitend und respektlos.

Ich höre auf meinen Bauch, lege ein paar Scheine auf den Tisch, verabschiede mich und verlasse das Lokal mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Das Ende einer Freundschaft kann so unspektakuläre sein.
 

Matula

Mitglied
Hallo Alexander E. Aigner,
mir gefällt die Geschichte sehr gut. Mir fehlt aber ein kleiner Hinweis auf den Inhalt des Gesprächs, also auf das Thema, das so wichtig ist, dass es eine alte Freundschaft zerstören kann. Es hat etwas mit "Geschichte" zu tun, aber was ?

Schöne Grüße,
Matula
 
Hallo Matula,

in meinem Fall ging es tatsächlich um ein aktuelles politisches Geschehen. Doch in die Erzählung habe ich das bewusst nicht eingebaut. Da kann man der Fantasie freien Lauf lassen.

Beste Grüße,
A. Aigner
 
S

Susanne Evers

Gast
Hallo Alexander E. Aigner,
Deine Erzählung konnte ich sehr gut nachvollziehen, da ich es selber ähnlich erlebte.
Um welches Thema es ging, war mir persönlich nicht wichtig. Gerne gelesen.
freundliche Grüße
Susanne Evers
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo!
Ich finde das genau richtig, den Gegenstand weggelassen zu haben, denn darum geht es ja gar nicht.
Ich denke auch, dass man bei einem derartigen Verlust schon Spiralen vorher das Kommende sichtbar machten. Vielleicht ist es so, dass jeder seinen point of no return hat, ab dem er nicht mehr schweigen, gutreden oder mit sonstiger emotionaler Soße zukleistern kann - oder seine Harmoniesucht bezwingen muss. Man kann Jahrzehnte befreundet sein und stellt auf einmal fest, dass man den Menschen, zu dem sich der Freund entwickelte, nicht mehr leiden kann. das kann man alles ausblenden - für eine gewisse Zeit.
Im vorliegenden Fall kann die Krankheit auch eine Verzerrung der Persönlichkeit bewirken und macht die Person in jedem Fall bedauernswert.
Eines muss ich aber noch anmerken: Man ent-täuscht sich selbst. Der andere täuscht uns nicht, sondern wir erkennen nicht, wie das Gleiche beim anderen eine andere Wertigkeit hat usw. Das ist keine Unzulänglichkeit, sondern ein Lernprozess. Man verliert ja nicht alle Tage Freunde, aber: Immer täuschen wir uns selbst.

Liebe Grüße
Petra
 

revilo

Verboten
Der Text ist genauso unspektakulär wie das Ende der Freundschaft. Der Grund warum diese Freundschaft zerbricht, ist letztendlich egal. Das gefällt mir gut. Herzliche Grüße von Oliver
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Alexander,
ich finde den Text gut erzählt und besonders die Einleitung malt das Milieu in treffenden Farben. Den Sprung von langjähriger Freundschaft zu unüberbrückbarem Gegensatz überzeugt mich aber nicht ganz. Ich verstehe, dass der Text darauf hinaus will, wie schnell so etwas gehen kann, aber für meine persönliche Erfahrung geht es hier eben zu schnell.

Das Gegenüber scheint sich nicht nur mit "Geschichte" beschäftigt, sondern seinen ganzen Charakter geändert zu haben. So etwas kommt vor, aber nicht über Nacht. Darum finde ich es komisch, dass sein langjähriger Freund vorher keine Anzeichen bemerkt haben soll.

Noch störender finde ich aber die Reaktion des Erzählers. Er scheint als Identifikationsfigur gedacht, dafür bleibt er mir aber zu kalt. Wenn ich es richtig verstehe, ist hier eine Freundschaft von 25 Jahren zu Ende gegangen. Und er findet das nur spannend? Da er sich hier vor allem über die eigene Unzulänglichkeit ärgert, scheint die Freundschaft ihm nicht viel bedeutet zu haben. Auch den Vorwurf der Täuschung an sein Gegenüber finde ich merkwürdig kindisch. Oder ist es gewollt, dass der Erzähler hier negativ erscheint?

Ich fände die Geschichte jedenfalls plausibler, wenn die Freundschaft zu einer Bekanntschaft zurecht gestutzt würde.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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