3 Minuten kuscheln

Anonym

Gast
Ich wollte erst gar nichts dazu sagen, weil es an sich keine große Sache ist.
Aber dann ging es mir nicht mehr aus dem Kopf, dass nun dieser neuseeländische Flughafen die Zeit für Abschiedsumarmungen beschränkt hat, und zwar auf sage und schreibe exakt drei Minuten.
„Max hug times 3 minutes“ („maximale Umarmungszeit 3 Minuten“) steht auf den Hinweisschildern an diesem Ort des Kommens und Gehens, darunter ein Piktogramm von zwei Personen, die sich umarmen.
Vorgeblich ist die Maßnahme nötig, um die Abfertigung der Fluggäste effizienter zu gestalten. Zu lange Umarmungen hätten hier in der Vergangenheit den Personenfluss gestört.

Will sagen, das ist schon mal eine seltsame Problematik für den Flughafen einer 120.000-Seelen-Stadt, welche auf der Airport-Homepage mit Sätzen wie „Falls Sie sich je gefragt haben, wie das Ende der Welt ausschauen könnte, hier ist es…“ auffällt. (If you ever wondered what the end of the world might look like, here it is)
Aber gut, wollen wir es glauben, es ginge an diesem Verkehrsknotenpunkt in Dunedin täglich so sehr die Post ab und die Passagiere stolpern pausenlos übereinander, sodass man sie sogar noch beim rührigen Abschiednehmen disziplinieren muss.
Auch, wie der Flughafen diese Regel kontrollieren und durchsetzen will: Geschenkt. Schwer vorstellbar, dass bewaffnete Einheiten ineinander verschlungene Liebespaare gewaltsam auseinanderreißen, dass bei jeder Liebkosung ein Aufseher die Zeit stoppt, aber wer weiß…

Sowieso geht es mir um was anderes.
Das Vorkommnis erscheint mir doch symptomatisch für diese Gegenwart.
Dort, wo es menschelt, fährt nun immer öfter die Dampfwalze der Technokraten drüber.
Wissenschaftlich-nüchterne Kennzahlen überschreiben grundlegend menschliche Bedürfnisse – und niemand protestiert.

Der zuständige Mann am Flughafengelände, der hiesige „CEO“, schiebt denn auch gleich noch eine weitere Begründung nach, mit der er die 3-Minuten-Regel bekräftigen will, eine wissenschaftliche nämlich.
Er verweist auf eine Studie, die besagt, dass es beim Umarmen nur 20 Sekunden bräuchte, um das Liebeshormon Oxytocin auszuschütten.

An dieser Stelle nicken die Menschen.
Ja, wenn es die Wissenschaft sagt…
So haben sie es gelernt.
Diese Wissenschaft könnte alles sagen, hat man den Eindruck, und wenn es sich noch so hanebüchen abstrus und menschenfeindlich anhört: Solange es eine passende Begleitstudie gibt, lässt sich alles abnicken.
Man möchte höchstens noch fragen: ‚Wenn 20 Sekunden für die Hormonausschüttung ausreichen, warum überhaupt 3 lange Minuten veranschlagen…?‘ und hätte sogleich noch rigidere Ansagen im Kopf.

Unweigerlich hatte ich diese Nerds aus der TV-Serie „The Big Bang Theory“ vor Augen, als ich in den Nachrichten von der 3-Minuten-Umarmung hörte.
Diesem Sheldon, für den jeglicher Menschkontakt nur unangenehm und Strafe ist, dem könnte sowas gut einfallen, meine ich. Als Naturwissenschaftler würde wohl auch er sofort mit einer Studie zur Hormonausschüttung daherkommen, obwohl es doch eigentlich um Gefühle und Romantik geht und all sowas, was sich nur schlecht in mathematischen Kennzahlen ausdrücken lassen.
Genau deshalb hat man ja in der Serie über den Charakter Sheldon Cooper gelacht: Weil er eben nicht erkennen konnte, wie herzlos, kalt und unpraktikabel seine mechanistischen Vorstellungen sind.
Das war einmal.
Anstatt über sie zu schmunzeln, überlassen wir es nun also den robotergleichen Sheldons dieser Welt, verbindliche Regeln für Menschen aus Fleisch und Blut zu gestalten.
Ich dachte ja immer, der Prototyp des sozial inkompetenten Sonderlings aus der TV-Serie sei überzeichnet gewesen - aber scheinbar gibt es solche Leute wirklich und sie sind es nun, die Flughäfen leiten und Stechuhren für Umarmungen einführen.
Oder aber es sind solche, die bislang in ihrem Leben einfach zu wenig umarmt wurden.

Quellen:



 

petrasmiles

Mitglied
Liebe(r) Anonymus,

ich finde die ersten beiden Drittel Deines Textes wirklich interessant - da hast Du auch sprachlich aus den Quellen was gemacht, aber in einem literarischen Text auf Figuren außerhalb des Mediums zu verweisen, bei denen es ungesichert ist, ob sie die gleichen Bilder beim Leser hervorrufen wie bei Dir, halte ich für eine Schwächung des Textes - erst Recht, wenn es sich um Sitcoms handelt. das ginge eventuell bei literarischen Protagonisten, aber dann müssten es auch welche sein, die ins Allgemeingut übergegangen sind. So sehe ich das jedenfalls.

Liebe Grüße
Petra
 
Ich stimme Petra zu - bis zu dem Abschnitt über Sheldon finde ich den Text auch gut. Ab da nicht mehr.

Und ab hier hatte ich sogar den Impuls, Sheldon verteidigen zu wollen:

. Genau deshalb hat man ja in der Serie über den Charakter Sheldon Cooper gelacht: Weil er eben nicht erkennen konnte, wie herzlos, kalt und unpraktikabel seine mechanistischen Vorstellungen sind..
Ähm, ich hasse Umarmungen auch, wenn sie nicht gerade von engsten Familienmitgliedern kommen. Also von flüchtigen Bekannten, Arbeitskolleginnen etc. (nur weil jemand Geburtstag hat z. B.) mag ich sie gar nicht. Das gibt es also auch.
 
Zuletzt bearbeitet:

Anonym

Gast
Ist vielleicht eine Generationenfrage.
Obwohl ich schon glaube, dass die besagte Serie und die ihr zugehörigen Charaktere (insbesondere Sheldon Cooper) als popkulturelle Elemente bereits allgemeine Bekanntheit erlangt haben.
Vermutlich eine der letzten Serien, die dies im linearen Fernsehen geschafft hat, ehe sich durch Netflix & Co der Medienkonsum in voneinander separierte, zeitversetzte Einzelerfahrungen zerfaserte.
 

petrasmiles

Mitglied
Das würde ich jetzt nicht auf eine Generationsfrage reduzieren.
Ich denke, dass man in der Literatur keine Fernsehgestalten heranziehen sollte.
Mich stört der Medienmix.
Obwohl. Dann ist es vielleicht doch eine Generationsfrage.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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