3. Tränen
Schon wieder bin ich an dem Punkt angelangt, alles hinzuwerfen. So gut es mir tat, mit dem Schreiben anzufangen und endlich etwas von alledem aus mir herauszulassen, was mich mein Leben lang bewegt hat, so leer fühle mich jetzt angesichts der mutigen Worte, die mir eben noch in den Sinn kamen. Mutlos bin ich, einfach kraftlos, einfach erschöpft. All die durchwachten Nächte haben sich in mein Gesicht eingebrannt, all die einsamen Stunden spüre ich heute als Fessel, die mein Herz einschnürt ... Ich war weich wie Wachs und ließ mich bereitwillig vom Leben formen; nun bin ich hart, zu bizarren Formen erstarrt, ich bin ein Baum mit vielen unregelmäßigen Jahresringen, eine Versteinerung. Meine fossilen Tränen kommen nicht nur aus den Augen, sie kommen aus alten, unsichtbaren Wunden, die nie trocknen.
Ja, die Tränen ... Manchmal weine ich noch. Manchmal. Alleine natürlich. Wenn ich von etwas Großem, Geheimnisvollem übermannt werde, wenn mich die Macht der Erinnerung wie mit einem Flügelschlag streift und ich mein Leben in einem einzigen Augenblick überschaue, wenn ich alles verstehe und gleichzeitig doch nichts verstehen kann. Ich habe so viel gerungen, so viel geforscht und überlegt, und die Erkenntnisse, die mir vergönnt waren, haben mir viele glückliche Momente geschenkt, ich will das nicht verschweigen. Aber manchmal, da stehe ich vor der nackten, unendlich rohen Macht des Lebens wie ein verunsichertes Kind mit großen Augen, und dann bin ich wieder weich, dann bin ich wieder Mensch, und dann weine ich, lautlos und verborgen ...
Immer, wenn ich weine, sterbe ich ein kleines bißchen, aber indem ich ein kleines bißchen sterbe, lebe ich auch ein kleines bißchen auf, denn das eine gibt es nicht ohne das andere, ich bin getroffen und aufgewühlt von der bloßen Faktizität des Lebens und des Todes, und immer wenn meine Tränen versiegen, muß ich lächeln, ich fühle irgendwie etwas wie Glück und Freude darüber, daß ich an so existentiellen Vorgängen wie Leben und Tod teilhaben darf, ich lächle über meine Tränen, ich feiere die Tatsache, daß ich sterben darf, ja, ich bin ein Mensch, ich lebe, ich lebe mein Sterben, und wenn ich einmal „wirklich“ sterbe – ja, was dann? Dann möchte ich darüber lächeln, daß ich gelebt habe, dann werde ich lächelnd mein Menschsein beweinen, dann erzittere ich freudig vor dem, was mit dem Tod erst beginnt ...
Ich habe begriffen, daß die Träne der Schlüssel zum Verständnis all der kritischen Punkte im Leben ist. Ähnlich wie die Geburt, aber mehr noch, ist der Tod für mich die Krise schlechthin, die Krisis, der Wendepunkt, die Entscheidung, das Urteil. Kein anderer wird das Urteil sprechen als ich selbst. Ich bin mein Leben lang Angeklagter und Kläger zugleich; mal halte ich mich aus meinem Gefängnis, aus meiner Befangenheit heraus für unschuldig und spreche mich frei, mal gehe ich in meiner Verblendung aus freiem Willen in die Gefangenschaft der Schuld ... Ich bin ein weinender Richter, das Urteil wird vielleicht nichts anderes sein als eine Träne ...
Ich weine, weil ich weiß, daß auch ich vom Baum der Erkenntnis gegessen habe, ich weine, weil ich weiß, daß ich nicht unschuldig bin, ich weine beim Gedanken an das Kind, das von Jesus umarmt wird, weil es der Inbegriff des Guten ist, weil es rein ist, weil es weich ist wie Wachs ... Manchmal weine ich, weil ich weiß, daß ich weiß. Ich lächle aber, weil ich weiß, daß ich nur so wirklich Mensch sein kann. Und ich lächle, weil ich weiß, daß da jemand weiß, daß ich weine.
Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal wirklich bewußt geweint habe. Wie jeder andere Mensch weinte ich zunächst eher unbewußt. Das Weinen eines Säuglings geschieht noch ohne Sprache und Erinnerung, und es zeigt: Das menschliche Leben beginnt mit dem Weinen. Als ich geboren wurde, da waren die kleinen Tränchen schnell versiegt, die kraftvoll zugekniffenen Augen schnell trocken. Da war nur ein heiseres Schreien, ein verkrampftes Strampeln, die Gefangenheit in einem unausgebildeten Körper, die gehemmten Bewegungen einer ersten Agonie ... Da lag ich nun, ich. Nahm ich wahr, daß mein Weinen meinen Eltern nur Anlaß zur Freude war? War mein Schreien die Empörung darüber, daß man mich anlächelte, anstatt die Tragik des menschlichen Daseins zu bedauern, die nun ein weiteres Mal von einem kleinen Neugeborenen erfahren werden mußte? Aber auch sie weinten ja, wie ich viele Jahre später auf meine Frage hin erfuhr. Wir alle weinten. Ich weinte, mein kleines Gesicht schrie laut und schrill, mein Körper boxte stumm und blind, ich kämpfte verzweifelt gegen das Leben, ohne auch überhaupt nur zu ahnen, was das Leben und wer oder warum ich war, und meine Eltern weinten selig, mit süß glänzenden Tränen in den Augen, und sie blickten mich mit so viel Liebe an, aber ich spürte nichts davon, nichts, zumindest nicht in jenen ersten Minuten, als es mich gab auf der Welt.
Das war die erste Krise meines Lebens, und sie war so erschütternd, so machtvoll und bedeutsam, daß ich sie nur überleben konnte, weil ich erst wenig Bewußtsein besaß. Hätte ich als Neugeborener bereits die Folgen des Geborenwerdens gekannt, so hätte ich mich vermutlich gewehrt (wie ich das praktisch bewerkstelligt hätte, ist eine andere Frage). Es muß so sein, glaube ich, daß Neugeborene noch nicht viel über sich selbst wissen, sonst wäre es nicht auszuhalten. Wie höllisch wäre es, bewußt mitzuerleben, wie man geboren wird und zugleich festzustellen, daß man einmal sterben muß! Das Bewußtsein kommt erst im Laufe der Jahre, vorsichtig und unbemerkt. Es darf nicht schlagartig kommen. Es wäre einfach nicht zu ertragen. Jeder spontane Bewußtseinssprung, jede akute Offenbarung ist erschütternd. Oft zu erschütternd. Wenn ein Mensch mit einem Schlag das volle Bewußtsein erlangen würde, müßte er an der Größe, an der unermeßlichen Macht des Lebens zugrunde gehen. Er würde an der plötzlichen Erkenntnis irre werden.
Aber keine Angst, ihr Menschen, es ist ja so eingerichtet, daß man sich diesen Fragen nicht stellen muß; man kann die Erkenntnis ja verweigern, man kann sich betäuben, kann fliehen ... Zumindest zeitweise, bis zur nächsten Krise, bis zur nächsten Betäubung ...
Ich bin so frei und ehrlich, um zu erkennen, daß auch ich immer wieder vor Erkenntnis und den damit verbundenen Tränen floh. Ich vergaß mich, belog mich, betäubte mich, um anderes zu fühlen, um weniger zu fühlen, und es gelang, ich fühlte anderes und weniger, ich war ein anderer Mensch, weniger Mensch ... Auch heute ist das Weinen noch oft schmerzhaft. Aber ich bin mittlerweile so stark, daß ich die Erkenntnis ertragen kann. Ich muß nicht mehr fliehen. Ich darf für jede Träne dankbar sein. Jede einzelne kostet mich zwar einen hohen Preis, jede trifft meinen Kern, aber ich bin bereit, sie anzunehmen. Und so gehen die Jahre ins Land, die Jahrzehnte fliegen über mich hinweg und berühren mich manchmal ganz leicht, und schließlich wird das Leben auch wieder mit dem Weinen enden, mag es auch unhörbar und unsichtbar sein, aber wer stirbt, weint; wegen einer so unaussprechlich erleichternden, letzten Freiheit oder in einem finalen, verkrampften Ringen; aus Angst oder aus Erschütterung angesichts des Lebens, angesichts des Todes, angesichts der Unglaublichkeit aller Existenz.
Ich bin weich und hart, das Weiche in mir weint, das Harte bewahrt mich davor, irre zu werden. Die Nur-Harten verleugnen ihr Weich-Sein, sie glauben, nur noch hart zu sein; sie sind fast ganz erstarrt, ihr weicher Kern ist eingemauert, er kann nicht mehr geformt werden, kann nicht mehr vor den großen Krisen des Lebens erschauern, er ist unzugänglich für Tränen, aus ihm entspringen keine Tränen mehr. Sie wissen nicht mehr, daß sie eigentlich wissen. Um sich zu schützen, verdrängten sie, bauten Mauern, zogen sich zurück, aber sie übertrieben es und wissen nun gar nicht mehr, wovor sie sich eigentlich schützen wollten; sie kennen die Tränen nicht mehr, die sie nie weinen wollten. Obwohl es so menschlich ist, die ständigen Erschütterungen des Lebens vermeiden zu wollen, wie man verständnisvoll sagen würde, haben sie ein Stück Menschsein aufgegeben, sie haben die Tränendimension des Menschseins verloren ...
Was steckt hinter den Tränen? Was ist letztlich ihre Ursache, woher kommen sie, wohin fließen sie? Ach, es ist schwer, über Tränen zu schreiben; über sie zu weinen, ist dagegen nur zu leicht ... Ist es beim Neugeborenen die Macht des Geborenwerdens, die ihn erschauern läßt, ohne daß er es weiß? Ist es die herzzerreißende Ahnung der Vergänglichkeit, in die er eintreten muß? Ist es sein Geworfensein in eine grelle, kalte, fremde Welt, die ihn schreien macht, das Vertriebenwerden aus seinem kleinen Paradies, aus dem warmen Nektar dunkler Geborgenheit, weg von der nächstmöglichen Nähe, ja vom Einssein mit jenem unbegreiflichen und ewig mystischen Prinzip, das man „Mutter“ nennt?
All diese Dinge kann man nicht in Worte fassen, man kann sie nicht beherrschen. Man kann nur ahnen, finster ahnen, und wird sachte auf etwas hingewiesen, auf etwas Verborgenes, auf ein geheimes, kostbares Wissen. Dieses Wissen, das Wissen um die eigene Existenz, um das eigene Getauftsein auf den Tod, ja um den Tod schlechthin ist dermaßen erschütternd, daß man es nicht von Anfang an besitzen kann. Man kann es überhaupt im Leben nie ganz besitzen. Man kann es nur erahnen – und muß dann weinen, mit Tränen oder ohne, vor Glück oder vor Schmerz, oder wegen beidem zugleich, da in der Träne die Grenze zwischen Glück und Schmerz unscharf wird ... Es ist ein Geheimnis, dem nicht jeder standhalten kann. Man kann dieses Geheimnis ein Leben lang ignorieren und vor der großen Entdeckungsreise fliehen. Ein Leben lang. Aber nicht länger. Der Moment der Konfrontation wird kommen. Früher oder später. Für jeden ganz persönlich.
Und dann wird jeder einzelne von uns an einem geheimnisvollen Ufer stehen und den tiefen Grundstrom des Lebens rauschen hören, er wird diese laute, kalte, scharfe, dann wieder warme, weiche, schließlich wieder unbarmherzig rohe, starke und herrliche Macht spüren, wird fühlen, wie sie alles durchströmt, wie sie alles trägt, alles verursacht, alles vernichtet, und er muß sich schließlich hineinstürzen, ob er will oder nicht, aber er will, weil er erkennt, daß er muß, und er wird von den Wogen geborgen, umfangen, umarmt, er wird fortgetragen, weit fort, in eine Ferne, die ganz nah ist, in einen Abgrund, der nicht angsteinflößend ist, in eine Wüste, die weder heiß noch kalt ist, er wird allmählich begreifen, ganz langsam wird er begreifen, er wird aufhören zu hoffen, aufhören zu fürchten, er wird ganz ruhig werden, alles wird ganz ruhig werden, ganz klar, ganz still, ganz frei, und schließlich wird er irgendwo sanft angeschwemmt werden, an einer seltsam vertrauten und einladenden Küste wird er landen, er wird durch die schlichte Einöde seines Herzens wandern, sein Blick wird ganz weit werden, er wird am Horizont die nebligen Berge sehen, die er in sich aufgetürmt hat, die Berge, die er nie besteigen konnte, und immer deutlicher wird er die strenge Einfachheit einer unbeschreiblich schönen und wahren Allmacht spüren, in all seinen Adern wird er sie wissen, in seinem ganzen Körper wird sie pulsieren; seine ganze Seele, sein ganzer Leib in seiner ganzen Nacktheit, alles, was er ist, alles, was er war, wird singen wollen vor Ergriffenheit, aber er wird feierlich schweigen und in seinem Innersten erbeben, er wird eine alte, liebe Heimat wiedererkennen, er wird feststellen, daß seine Reise zu Ende geht, er wird vielleicht überhaupt erst verstehen, daß er auf einer Reise war ... Und er wird weinen ...
Und so weinte auch ich, ohne es zu wissen, an dem Tag, als meine Reise begann, als ich geboren wurde, und noch an vielen anderen Tagen meines Lebens.
Schon wieder bin ich an dem Punkt angelangt, alles hinzuwerfen. So gut es mir tat, mit dem Schreiben anzufangen und endlich etwas von alledem aus mir herauszulassen, was mich mein Leben lang bewegt hat, so leer fühle mich jetzt angesichts der mutigen Worte, die mir eben noch in den Sinn kamen. Mutlos bin ich, einfach kraftlos, einfach erschöpft. All die durchwachten Nächte haben sich in mein Gesicht eingebrannt, all die einsamen Stunden spüre ich heute als Fessel, die mein Herz einschnürt ... Ich war weich wie Wachs und ließ mich bereitwillig vom Leben formen; nun bin ich hart, zu bizarren Formen erstarrt, ich bin ein Baum mit vielen unregelmäßigen Jahresringen, eine Versteinerung. Meine fossilen Tränen kommen nicht nur aus den Augen, sie kommen aus alten, unsichtbaren Wunden, die nie trocknen.
Ja, die Tränen ... Manchmal weine ich noch. Manchmal. Alleine natürlich. Wenn ich von etwas Großem, Geheimnisvollem übermannt werde, wenn mich die Macht der Erinnerung wie mit einem Flügelschlag streift und ich mein Leben in einem einzigen Augenblick überschaue, wenn ich alles verstehe und gleichzeitig doch nichts verstehen kann. Ich habe so viel gerungen, so viel geforscht und überlegt, und die Erkenntnisse, die mir vergönnt waren, haben mir viele glückliche Momente geschenkt, ich will das nicht verschweigen. Aber manchmal, da stehe ich vor der nackten, unendlich rohen Macht des Lebens wie ein verunsichertes Kind mit großen Augen, und dann bin ich wieder weich, dann bin ich wieder Mensch, und dann weine ich, lautlos und verborgen ...
Immer, wenn ich weine, sterbe ich ein kleines bißchen, aber indem ich ein kleines bißchen sterbe, lebe ich auch ein kleines bißchen auf, denn das eine gibt es nicht ohne das andere, ich bin getroffen und aufgewühlt von der bloßen Faktizität des Lebens und des Todes, und immer wenn meine Tränen versiegen, muß ich lächeln, ich fühle irgendwie etwas wie Glück und Freude darüber, daß ich an so existentiellen Vorgängen wie Leben und Tod teilhaben darf, ich lächle über meine Tränen, ich feiere die Tatsache, daß ich sterben darf, ja, ich bin ein Mensch, ich lebe, ich lebe mein Sterben, und wenn ich einmal „wirklich“ sterbe – ja, was dann? Dann möchte ich darüber lächeln, daß ich gelebt habe, dann werde ich lächelnd mein Menschsein beweinen, dann erzittere ich freudig vor dem, was mit dem Tod erst beginnt ...
Ich habe begriffen, daß die Träne der Schlüssel zum Verständnis all der kritischen Punkte im Leben ist. Ähnlich wie die Geburt, aber mehr noch, ist der Tod für mich die Krise schlechthin, die Krisis, der Wendepunkt, die Entscheidung, das Urteil. Kein anderer wird das Urteil sprechen als ich selbst. Ich bin mein Leben lang Angeklagter und Kläger zugleich; mal halte ich mich aus meinem Gefängnis, aus meiner Befangenheit heraus für unschuldig und spreche mich frei, mal gehe ich in meiner Verblendung aus freiem Willen in die Gefangenschaft der Schuld ... Ich bin ein weinender Richter, das Urteil wird vielleicht nichts anderes sein als eine Träne ...
Ich weine, weil ich weiß, daß auch ich vom Baum der Erkenntnis gegessen habe, ich weine, weil ich weiß, daß ich nicht unschuldig bin, ich weine beim Gedanken an das Kind, das von Jesus umarmt wird, weil es der Inbegriff des Guten ist, weil es rein ist, weil es weich ist wie Wachs ... Manchmal weine ich, weil ich weiß, daß ich weiß. Ich lächle aber, weil ich weiß, daß ich nur so wirklich Mensch sein kann. Und ich lächle, weil ich weiß, daß da jemand weiß, daß ich weine.
Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal wirklich bewußt geweint habe. Wie jeder andere Mensch weinte ich zunächst eher unbewußt. Das Weinen eines Säuglings geschieht noch ohne Sprache und Erinnerung, und es zeigt: Das menschliche Leben beginnt mit dem Weinen. Als ich geboren wurde, da waren die kleinen Tränchen schnell versiegt, die kraftvoll zugekniffenen Augen schnell trocken. Da war nur ein heiseres Schreien, ein verkrampftes Strampeln, die Gefangenheit in einem unausgebildeten Körper, die gehemmten Bewegungen einer ersten Agonie ... Da lag ich nun, ich. Nahm ich wahr, daß mein Weinen meinen Eltern nur Anlaß zur Freude war? War mein Schreien die Empörung darüber, daß man mich anlächelte, anstatt die Tragik des menschlichen Daseins zu bedauern, die nun ein weiteres Mal von einem kleinen Neugeborenen erfahren werden mußte? Aber auch sie weinten ja, wie ich viele Jahre später auf meine Frage hin erfuhr. Wir alle weinten. Ich weinte, mein kleines Gesicht schrie laut und schrill, mein Körper boxte stumm und blind, ich kämpfte verzweifelt gegen das Leben, ohne auch überhaupt nur zu ahnen, was das Leben und wer oder warum ich war, und meine Eltern weinten selig, mit süß glänzenden Tränen in den Augen, und sie blickten mich mit so viel Liebe an, aber ich spürte nichts davon, nichts, zumindest nicht in jenen ersten Minuten, als es mich gab auf der Welt.
Das war die erste Krise meines Lebens, und sie war so erschütternd, so machtvoll und bedeutsam, daß ich sie nur überleben konnte, weil ich erst wenig Bewußtsein besaß. Hätte ich als Neugeborener bereits die Folgen des Geborenwerdens gekannt, so hätte ich mich vermutlich gewehrt (wie ich das praktisch bewerkstelligt hätte, ist eine andere Frage). Es muß so sein, glaube ich, daß Neugeborene noch nicht viel über sich selbst wissen, sonst wäre es nicht auszuhalten. Wie höllisch wäre es, bewußt mitzuerleben, wie man geboren wird und zugleich festzustellen, daß man einmal sterben muß! Das Bewußtsein kommt erst im Laufe der Jahre, vorsichtig und unbemerkt. Es darf nicht schlagartig kommen. Es wäre einfach nicht zu ertragen. Jeder spontane Bewußtseinssprung, jede akute Offenbarung ist erschütternd. Oft zu erschütternd. Wenn ein Mensch mit einem Schlag das volle Bewußtsein erlangen würde, müßte er an der Größe, an der unermeßlichen Macht des Lebens zugrunde gehen. Er würde an der plötzlichen Erkenntnis irre werden.
Aber keine Angst, ihr Menschen, es ist ja so eingerichtet, daß man sich diesen Fragen nicht stellen muß; man kann die Erkenntnis ja verweigern, man kann sich betäuben, kann fliehen ... Zumindest zeitweise, bis zur nächsten Krise, bis zur nächsten Betäubung ...
Ich bin so frei und ehrlich, um zu erkennen, daß auch ich immer wieder vor Erkenntnis und den damit verbundenen Tränen floh. Ich vergaß mich, belog mich, betäubte mich, um anderes zu fühlen, um weniger zu fühlen, und es gelang, ich fühlte anderes und weniger, ich war ein anderer Mensch, weniger Mensch ... Auch heute ist das Weinen noch oft schmerzhaft. Aber ich bin mittlerweile so stark, daß ich die Erkenntnis ertragen kann. Ich muß nicht mehr fliehen. Ich darf für jede Träne dankbar sein. Jede einzelne kostet mich zwar einen hohen Preis, jede trifft meinen Kern, aber ich bin bereit, sie anzunehmen. Und so gehen die Jahre ins Land, die Jahrzehnte fliegen über mich hinweg und berühren mich manchmal ganz leicht, und schließlich wird das Leben auch wieder mit dem Weinen enden, mag es auch unhörbar und unsichtbar sein, aber wer stirbt, weint; wegen einer so unaussprechlich erleichternden, letzten Freiheit oder in einem finalen, verkrampften Ringen; aus Angst oder aus Erschütterung angesichts des Lebens, angesichts des Todes, angesichts der Unglaublichkeit aller Existenz.
Ich bin weich und hart, das Weiche in mir weint, das Harte bewahrt mich davor, irre zu werden. Die Nur-Harten verleugnen ihr Weich-Sein, sie glauben, nur noch hart zu sein; sie sind fast ganz erstarrt, ihr weicher Kern ist eingemauert, er kann nicht mehr geformt werden, kann nicht mehr vor den großen Krisen des Lebens erschauern, er ist unzugänglich für Tränen, aus ihm entspringen keine Tränen mehr. Sie wissen nicht mehr, daß sie eigentlich wissen. Um sich zu schützen, verdrängten sie, bauten Mauern, zogen sich zurück, aber sie übertrieben es und wissen nun gar nicht mehr, wovor sie sich eigentlich schützen wollten; sie kennen die Tränen nicht mehr, die sie nie weinen wollten. Obwohl es so menschlich ist, die ständigen Erschütterungen des Lebens vermeiden zu wollen, wie man verständnisvoll sagen würde, haben sie ein Stück Menschsein aufgegeben, sie haben die Tränendimension des Menschseins verloren ...
Was steckt hinter den Tränen? Was ist letztlich ihre Ursache, woher kommen sie, wohin fließen sie? Ach, es ist schwer, über Tränen zu schreiben; über sie zu weinen, ist dagegen nur zu leicht ... Ist es beim Neugeborenen die Macht des Geborenwerdens, die ihn erschauern läßt, ohne daß er es weiß? Ist es die herzzerreißende Ahnung der Vergänglichkeit, in die er eintreten muß? Ist es sein Geworfensein in eine grelle, kalte, fremde Welt, die ihn schreien macht, das Vertriebenwerden aus seinem kleinen Paradies, aus dem warmen Nektar dunkler Geborgenheit, weg von der nächstmöglichen Nähe, ja vom Einssein mit jenem unbegreiflichen und ewig mystischen Prinzip, das man „Mutter“ nennt?
All diese Dinge kann man nicht in Worte fassen, man kann sie nicht beherrschen. Man kann nur ahnen, finster ahnen, und wird sachte auf etwas hingewiesen, auf etwas Verborgenes, auf ein geheimes, kostbares Wissen. Dieses Wissen, das Wissen um die eigene Existenz, um das eigene Getauftsein auf den Tod, ja um den Tod schlechthin ist dermaßen erschütternd, daß man es nicht von Anfang an besitzen kann. Man kann es überhaupt im Leben nie ganz besitzen. Man kann es nur erahnen – und muß dann weinen, mit Tränen oder ohne, vor Glück oder vor Schmerz, oder wegen beidem zugleich, da in der Träne die Grenze zwischen Glück und Schmerz unscharf wird ... Es ist ein Geheimnis, dem nicht jeder standhalten kann. Man kann dieses Geheimnis ein Leben lang ignorieren und vor der großen Entdeckungsreise fliehen. Ein Leben lang. Aber nicht länger. Der Moment der Konfrontation wird kommen. Früher oder später. Für jeden ganz persönlich.
Und dann wird jeder einzelne von uns an einem geheimnisvollen Ufer stehen und den tiefen Grundstrom des Lebens rauschen hören, er wird diese laute, kalte, scharfe, dann wieder warme, weiche, schließlich wieder unbarmherzig rohe, starke und herrliche Macht spüren, wird fühlen, wie sie alles durchströmt, wie sie alles trägt, alles verursacht, alles vernichtet, und er muß sich schließlich hineinstürzen, ob er will oder nicht, aber er will, weil er erkennt, daß er muß, und er wird von den Wogen geborgen, umfangen, umarmt, er wird fortgetragen, weit fort, in eine Ferne, die ganz nah ist, in einen Abgrund, der nicht angsteinflößend ist, in eine Wüste, die weder heiß noch kalt ist, er wird allmählich begreifen, ganz langsam wird er begreifen, er wird aufhören zu hoffen, aufhören zu fürchten, er wird ganz ruhig werden, alles wird ganz ruhig werden, ganz klar, ganz still, ganz frei, und schließlich wird er irgendwo sanft angeschwemmt werden, an einer seltsam vertrauten und einladenden Küste wird er landen, er wird durch die schlichte Einöde seines Herzens wandern, sein Blick wird ganz weit werden, er wird am Horizont die nebligen Berge sehen, die er in sich aufgetürmt hat, die Berge, die er nie besteigen konnte, und immer deutlicher wird er die strenge Einfachheit einer unbeschreiblich schönen und wahren Allmacht spüren, in all seinen Adern wird er sie wissen, in seinem ganzen Körper wird sie pulsieren; seine ganze Seele, sein ganzer Leib in seiner ganzen Nacktheit, alles, was er ist, alles, was er war, wird singen wollen vor Ergriffenheit, aber er wird feierlich schweigen und in seinem Innersten erbeben, er wird eine alte, liebe Heimat wiedererkennen, er wird feststellen, daß seine Reise zu Ende geht, er wird vielleicht überhaupt erst verstehen, daß er auf einer Reise war ... Und er wird weinen ...
Und so weinte auch ich, ohne es zu wissen, an dem Tag, als meine Reise begann, als ich geboren wurde, und noch an vielen anderen Tagen meines Lebens.