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Mystik des Waldes - 4. Der Anschlag
Der Wecker klingelte. Gähnend drehte sich Steffen im Bett herum. Er war noch müde, da er die ganze Nacht unruhig geschlafen hatte. Er hatte viel nachgedacht. Steffen war sich darüber im Klaren, dass seine „Freunde“ nicht mehr seine Freunde waren. Sie setzten ihn unter Druck. Wenn er für sie nicht den Fahrer spielte, drohte man ihm mittlerweile mit Schlägen. Es war noch recht früh am Morgen, aber er war in der Ausbildung zum Bäckergesellen, und da war es eben normal, dass man zu nächtlichen Stunden aufstehen musste, um seinen Job zu tun. Im Allgemeinen störte es ihn auch nicht, doch heute war einer der Ausnahme-Tage.
Steffen reckte sich und richtete sich im Bett auf. Eine Wechseldusche würde seinen Kreislauf schon in Schwung bringen. Er stand auf, gähnte noch einmal ausgiebig und verließ, etwas verschlafen aussehend, das Zimmer. Peters ging auf direktem Wege ins Bad, warf seinen Schlafanzug in die Ecke und stellte sich unter die Dusche. Abwechselnd warm und dann kalt ließ er das Wasser über seinen Körper laufen. Nach etwa zehn Minuten war er fertig und trocknete sich ab. Steffen zog sich an, streckte sich im Spiegel selbst die Zunge heraus und verließ den Raum.
Jetzt war erst mal Frühstück angesagt. Er aß Toast, belegt mit Salami und trank dazu Kaffee. Anschließend räumte er seinen Teller und Besteck weg und verließ kurze Zeit darauf die Wohnung.
Sein Motorroller stand vor dem Haus. Steffen schwang sich darauf, setzte seinen Helm auf und startete die Maschine. Der Motor röhrte auf. Er spielte kurz mit dem Gas und fuhr los. Sein Ziel war St. Hubert, dort absolvierte er seine Ausbildung. Da Steffen einen rasanten Fahrstiel hatte, erreichte er sein Ziel schnell. Er stand auch unter Zeitdruck, da er erst spät losgefahren war.
Er kam regelrecht angebraust, bremste so stark, dass der Hinterreifen quietschte und schaltete den Motor aus. Steffen schloss die Maschine ab, verstaute seinen Helm im Tankrucksack und betrat die Bäckerei, wo er bereits an der Eingangstür von einem Arbeitskollegen empfangen wurde.
„Hi Steffen. Hast heute Morgen wohl Jagdwurst gegessen, was?“
„Hi Thomas. Wieso?“
„Weil du so schnell unterwegs bist.“
„Wenn ich langsamer fahre, schlaf ich nachher noch ein. Ich brauche das morgens einfach.“
„Ja, bist du jemand hinten drauf donnerst und dabei selbst den Salto über den Lenker machst.“, meinte Thomas.
„Quark, ich beherrsche meine Maschine, ich habe zwei Bremsen. Wenn ich die mal brauche, dann benutze ich sie auch – ausnahmsweise!“
Steffen grinste dümmlich und ließ seinen Kollegen einfach stehen.
„Du bist ein Draufgänger, irgendwann fährst du dich tot!“, rief er ihm hinterher.
„Dann hab ich Pech gehabt.“, gab Steffen nicht minder laut zurück.
Thomas schüttelte den Kopf.
„Idiot, hoffentlich trifft es keinen Unschuldigen, wenn es soweit ist.“
Doch das hörte Steffen nicht mehr. Er hatte die Tür zur Umkleidekabine bereits hinter sich geschlossen.
Thomas´ Mine verfinsterte sich. Steffen war also doch noch eingetroffen. Nach dem erfolgreichen Ritual war er sofort losgezogen, um die Ablösung für Tom zu übernehmen. Aber es war ihm noch eine andere Aufgabe übertragen worden. Tief in seiner Hosentasche steckte das dämonische Elixier, das Menschen so manipulieren konnte. Wenn der Meister gekrönt würde, sollte er eine große Armee vorfinden. Heute sollte er seinen Beitrag dazu leisten, das Heer der dunklen Kreaturen zu vergrößern. Die Bäckerei war wie geschaffen für seinen Plan. Er musste es nur in einem unbeobachteten Moment mit in den Brotteig verarbeiten. Die Menschen da draußen würden dort einkaufen, ohne zu wissen, was sie später erwartete.
Thomas grinste. Er genoss es, dass er im Moment die Macht hatte, Dinge in Bewegung zu setzen. Auf Steffen musste er ganz besonders aufpassen. Er war misstrauisch genug geworden, auch wenn er keine Ahnung hatte, dass Thomas selbst im Zusammenhang mit Roermond stand.
Somit war Steffen auf Schritt und Tritt unter Kontrolle. Er konnte nichts unternehmen, ohne dass die andere Seite davon wusste.
Steffen betrat die Backstube und begann mit der Arbeit. Er war schon länger als ein Jahr dabei und hatte seinen festen Aufgabenbereich.
Sogleich machte er sich ans Werk. Thomas warf ihm des Öfteren einen schrägen Blick zu. Steffen merkte es und meinte:
„Habe ich was an mir oder was?“
„Nein, ich interessiere mich nur für das, was du da machst.“
„Wieso, ist was falsch?“
„Eigentlich nicht.“
„Dann starr mich nicht die ganze Zeit an, da werde ich nervös.“
„Von mir aus.“
Thomas ärgerte sich. Steffen war aufgeweckter, als er angenommen hatte. Ihm ging nichts dadurch. Er verbiss sich einen Fluch und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Thomas überlegte. Wie konnte er das Elixier unbemerkt unterrühren? Im Moment war es einfach zu gefährlich. Wenn Steffen was mitbekam, würde er auffliegen. Er musste sich in Geduld üben, und das passte ihm überhaupt nicht. Thomas hatte keine andere Wahl. Er musste noch warten, aber seine Stunde würde kommen. Da war er sich sicher.
Steffen argwöhnte, dass hier etwas nicht stimmte. Zu viele Veränderungen hatte er in letzter Zeit miterleben müssen. Zuerst hatte sich Tom und irgendwann auch Ricardo abgesondert, und das von einem Tag auf den anderen. Er hatte Thomas beobachtet und einen Ausdruck in seinen Augen wieder erkannt, wie er ihn von Tom und Rico bereits schon so oft gesehen hatte. Dass ihm seine Freunde jetzt sogar drohten war ihm völlig unerklärlich geworden, und auch bei seinem Kollegen spürte er diese eisige Kälte, Blicke, die ihm durch und durch gingen, und jedes Mal einen unangenehmen Schauer auf seinem Rücken hinterließen.
Steffen hatte den Verdacht, dass er irgendetwas plante, und er hatte sich vorgenommen, ihm auf die Finger zu sehen. Genau aus diesem Grunde hatte er bei ihm auch so reagiert. Thomas sollte wissen, dass er nicht schlief, und er hatte vor, sollte er es wagen auch nur das Geringste anzustellen, ihm sein Süppchen gehörig zu versalzen.
Aber auch Thomas hatte gemerkt, dass Steffen seine Pläne durchkreuzen würde. Er kochte innerlich vor Zorn, das konnte er für heute vergessen. Jetzt kam es darauf an, sich unauffällig zu verhalten, obwohl es ihn nervte nur wegen Steffen sein Vorhaben zurückstellen zu müssen. Das würde sich noch rächen! So etwas ließ ein Mann wie Thomas nicht lange auf sich sitzen.
Vor allem war die Nacht wiederum ein Erfolg gewesen. Sie hatten Dirk gefangen genommen und anschließend konvertiert. Das war ein Trumpf, von dem Steffen nichts ahnte. Hoffentlich wurde ihm das zum Verhängnis! Dirk hatte die besten Karten ihn auszuspionieren. Er würde der Informant schlechthin sein.
Der Arbeitstag neigte sich dem Ende zu, ohne weitere Zwischenfälle. Steffen zog sich kurz um und machte seine Maschine startklar. Bevor er losfuhr zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Dirks Nummer. Steffen hatte Glück:
„Hier ist Steffen Peters. Hast du gleich Zeit?“
„Ja, hab ich.“, antwortete Dirk.
„Gut, in Ordnung, ich bin in einer halben Stunde bei dir.“
„Gut, bis gleich dann.“
Steffen unterbrach schnell die Verbindung, denn Handygespräche waren teurer als es ihm lieb war.
Steffen ließ den Motor an und drehte am Gaszug. Die Maschine zog an. Er war unterwegs...
Nach dem für sie erfolgreichen Ritual hatte Thomas Kerstin und Dirk nach Hause gebracht. Nun saßen sie wieder vereint ihn ihrer gemeinsamen Wohnung. Die Zeit des Hasses auf ihren Freund war wieder von ihr gewichen. Seit dem auch er aufgenommen worden war, verstanden sie sich wieder so gut wie früher. Dennoch war es anders. Ihre Pläne mit der Welt waren düster. Und keiner der beiden würde sich aufhalten lassen! Das sollten sie versuchen, und es würde ihnen Leid tun! Vergeltung würde auf dem Fuße folgen! Direkt und gnadenlos! Darüber waren sich beide mittlerweile einig, obwohl es auch Grund zur Sorge gab, denn Dirk hatte sich auch nach der Konvertierung gegen das Böse gewehrt, was von ihm Besitz ergreifen wollte. Immer wieder gab es in dieser Nacht lichte Momente, in denen er menschlich wirkte, das aber eigentlich hätte ausgeschaltet sein müssen. So etwas hatte es noch nie bei anderen gegeben, doch sie hielt ihn im Auge, damit er keine Dummheiten machte und plötzlich quer trieb.
Ansonsten verlief das Leben normal. Sie gingen beide ihren Tätigkeiten nach, als ob nichts gewesen wäre. Mehr wäre momentan auch nicht drin gewesen, denn sie mussten vorsichtig sein. Zu viele ihrer Art hatten schon mit dem Leben bezahlen müssen, weil sie auf Leute getroffen waren, die genau wussten, wie man sie bekämpfte.
Was Kerstin auch nicht wusste: Im Grunde waren sie sich über alle Pläne und Unternehmungen einig, aber es gab immer noch die Momente, wo er sich gegen das Dunkle in ihm wehren konnte. In diesen Augenblicken verfluchte er es, ein Leben wie dieses zu führen, denn wenn es über ihn kam, erinnerte er sich an nichts, gleich als ob er bereits tot wäre. Es gab seine Persönlichkeit nicht mehr, kein Bewusstsein, alles was dann passierte, erlebte er nicht wirklich mit. In den Momenten, wo sein Verstand noch arbeitete, dachte er an all die armen Seelen, die sein Schicksal teilen mussten. Konnten sie sich auch gelegentlich an etwas erinnern? Oder waren ihre Seelen ganz und gar ausgelöscht? Würde auch seine Welt bald für immer in ewiger Finsternis verschwinden?
Übergangslos war der schwarze Vorhang wieder über ihn gefallen und seine Gedanken abgeschnitten im Schacht der nächsten Ohnmacht, was aber nicht hieß, dass er handlungsunfähig war. Das Böse hielt ihn wieder fest im Griff.
Es ging auf 14.45 Uhr zu, als das Telefon läutete, Dirk nahm ab und meldete sich. Es war Steffen, der fragte, ob sie zu Hause wären und er sagte ihm zu.
Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Es konnte ja auch alles Weitere persönlich beredet werden.
„Das war Steffen, oder?“, unterbrach Kerstin die Stille.
„Ja, er wollte vorbei kommen.“
„Hast ihm zugesagt?“
„Ja, ist doch jetzt nicht mehr so tragisch. Jetzt gibt es ja keine Gefahr mehr euch zu verraten.“
„Stimmt.“
Wieder ging das Telefon. Diesmal griff Kerstin zum Hörer und brummte ein mürrisches: „Ja.“
„Thomas hier, du, der Steffen hat mir vielleicht zugesetzt. Sah fast so aus, als wenn er Bescheid wüsste. Hat mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Konnte das Zeug nicht unter mischen.“
„Verdammt – so ein Mist und jetzt?“, empörte sie sich.
„Auf ein Neues, werde es weiter versuchen. Der kann ja nicht immer neben mir stehen. Warum töten wir den Kerl nicht? Ich kann doch auch mit euch nach Roermond fahren. Wir brauchen ihn nicht mehr!“
„Ein Mord erregt zu viel Aufsehen, die Zeit ist noch nicht reif dafür.“
„Wir brauchen das Blut! Es geht nicht mehr lange gut. Viele werden schon unruhig.“
„Zu viel Aufruhr, noch nicht!“
„Von mir aus.“
Klick – Verbindung unterbrochen.
„Was war los?“, fragte Dirk.
„Thomas konnte die Backwaren nicht manipulieren. Steffen hat was gemerkt und ihn nicht aus den Augen gelassen. Der Kerl wird langsam lästig!“
„Denke ich auch. Was tun wir?“
„Erst mal herkommen lassen, er wird drüber reden wollen.“
„Kann ich das übernehmen?“
„Wenn du willst.“
„Klar.“
Dirk hatte erneut Telefonate bewusst mitbekommen. Ihm war klar, dass Kerstin eine ernste Gefahr für ihn war. Selbst er konnte in düsteren Zeiten, die überwiegend vorherrschten, nicht garantieren, dass auch von ihm eine tödliche Bedrohung ausging, der Steffen zum Opfer fallen konnte.
Dirk kämpfte gegen diese verdammte schwarzmagische Kraft an, unterlag aber wieder und die „Nacht“ kam zurück.
Es klingelte. Dirk stand auf und öffnete die Haustür. Kurze Zeit später betrat Steffen die Wohnung.
Sie setzten sich aufs Sofa und Steffen berichtete von seinen Erlebnissen dieses Tages. Er schilderte seine Eindrücke, aber konkretes wusste er dennoch nicht.
Für Steffen war es eine merkwürdige Atmosphäre. Mit Dirk konnte man sich unterhalten, aber Kerstin hinterließ bei ihm einen recht abweisenden Eindruck.
Ihm entging aber dennoch nicht, dass auch Dirk sich oftmals merkwürdig verhielt. Man konnte dieses Klima als kalt bezeichnen. Steffen konnte es nicht wirklich an etwas bestimmten festmachen, aber er spürte es, und wieder breitete sich die Gänsehaut bei ihm aus.
Steffen musste raus aus der Wohnung, das sagte ihm sein Gefühl. Er sprach noch einiges an um eine Ausrede zu finden, dann stand er schließlich auf und Dirk brachte ihn noch zur Tür. Draußen im Hausflur meinte er plötzlich:
„Steffen, mir bleibt nicht viel Zeit. Du hast keine Freunde mehr. Etwas Fürchterliches geschieht. Hau ab, soweit du kannst, ich ... ich weiß nicht wie lange ich dir noch helfen kann, bevor auch ich mich verliere...“
„Aber ...“
„Frag nicht, hau ab! Und möglichst weit, komm nicht mehr hier her!“
„Wie du meinst ...“
Enttäuscht drehte er sich um und öffnete die Tür, die ins Freie führte. Ein letztes Mal blickte er zurück und fing einen frostigen Blick von Dirk auf, der ihn erneut heftig erschauern ließ. So kalt und abweisend hasserfüllt wie die seiner übrigen Freunde, die er einst gehabt hatte. Von nun an war er allein und es wurde ihm klar, dass es für ihn niemanden mehr gab, auf den er zählen konnte…
Was war bloß los hier. Das Geheimnis musste in Roermond liegen. Gleich morgen wollte er hinfahren, er musste es herausfinden, sonst war auch er verloren. Er beschloss, für diesen Tag das Auto seines Vaters zu leihen um direkt nach der Arbeit losfahren zu können. Er wollte erst einmal nach Hause.
Dort angekommen, packte er seine Sachen, u. a. ein motorbetriebenes Schlauchboot in den Kofferraum des Wagens. Steffen hatte ein großes Hobby. Er trieb gerne Wassersport und fuhr oftmals mit seinem Boot auf der Maas herum.
Als Johannes Peters, sein Vater, sah was er tat, fingen die beiden eine heftige Diskussion um das Auto an, aber schließlich gab der Vater nach und Steffen konnte den Wagen für sich haben.
Johannes Peters verschwand wieder im Haus, ging ins Wohnzimmer und griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben. Unterdessen betrat Steffen das Haus und wollte noch einige Handtücher und eine Decke bereitlegen.
Zufällig bekam er die Worte seines Vaters mit:
„Ja ...“
„Genau, er wollte morgen nach Roermond.“
„Richtig, richtig ...“
„Ich tippe Stadtarchiv. Er hat zwar das Boot mit, aber ich glaube es nicht ...“
„... ihr könnt ihn, glaube ich, dort finden.“
„... kein Thema, Tschüss.“
„Oh verflucht!“, dachte Steffen und huschte leise in den Keller um die Sachen zu holen, „du bist also auch schon so schräg drauf!“ Er war sauer, aber er ließ sich nichts anmerken. So wie Dirk geredet hatte, war er in Gefahr. Und dann diese Aussage von ihm: „Bevor ich mich verliere ...“
Rätsel über Rätsel, die Steffen nicht verstand. Doch er verzeichnete es positiv für sich, er war verraten worden, aber er wusste davon, das war sein Vorteil. Eine erkannte Gefahr ist immerhin nur noch halb so gefährlich. Aber mit wem hatte sein Dad telefoniert? Das hätte er nur zu gern gewusst.
Aber Steffen zog es vor ihn nicht danach zu fragen. Es war besser so, bevor er noch ins offene Messer lief.
Seine Gegner saßen schon in den eigenen vier Wänden. Ihm kam es vor wie ein Virus, der schleichend wie ein gefährliches Gift jeden in seiner Umgebung infizierte. Steffen konnte sich die Hölle nicht schlimmer vorstellen. Von allen Seiten zog sich die Schlinge um seinen Hals enger. Jetzt konnte er keinem mehr trauen.
Er ging nach unten. In einem ausgebauten Kellergeschoss, welches sein Reich war, schloss er die Tür hinter sich und schaltete seine Musikanlage ein. Völlig niedergeschlagen legte er sich aufs Bett. Die letzten Tage waren einfach zu viel für ihn gewesen...
Da meldete sich sein Handy. Deutlich erkannte er den Ton, der ihm signalisierte: „Eine Kurzmitteilung erhalten.“
Schwerfällig erhob er sich und trat an den kleinen Tisch, auf dem das Gerät lag. Er öffnete die SMS. Sie war von Dirk. Dort stand zu lesen:
Fast wäre ihm das Mobiltelefon aus der Hand gefallen, doch er fing es so grade eben noch auf. Mit vorsichtigen Schritten trat er wieder auf sein Bett zu und ließ sich einfach fallen. Tränen standen in seinen Augen. Er war verzweifelt, jetzt wusste er, mit wem sein Vater telefoniert hatte!
Dirk führte einen fürchterlichen Kampf gegen das was ihn zerstören wollte. Er wunderte sich, dass er sich überhaupt dagegen zur Wehr setzen konnte. Und wenn es auch nur kurze Momente waren, wollte er seinen Freunden zur Seite stehen, wo er nur konnte, aber der Machteinfluss war so groß, dass er es nicht immer schaffte.
Er hatte in diesen Momenten jedenfalls nicht vor, Kerstin zu zeigen, dass es noch einen Rest Menschlichkeit in ihm gab.
Als Steffens Vater anrief nahm er den Hörer zur Hand. Wie gut, dass es für ihn ein Moment war, als er wieder denken konnte. Dirk erhielt von ihm die Informationen, was Steffen vorhatte, doch an das Ende des Gespräches konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Erst ungefähr vierzig Minuten später kam er wieder zu sich.
Er musste seinen Freund warnen, wollte ihn nicht ins Messer rennen lassen. In einem unbeobachteten Moment griff er nach seinem Handy und tippte ihm eine SMS. Er schaffte es, das Geschriebene noch an Steffens Nummer zu versenden, dann verließ ihn die menschliche Seite wieder.
Kerstin kam ins Wohnzimmer.
„Wer war das am Telefon?“
„Das war Steffens Daddy.“
„Und?“
„Steffen will morgen nach Roermond das Geheimnis herausfinden! Er ist eine Gefahr für unsere Sache, und in Holland könnten wir ihn endgültig aus dem Verkehr ziehen!“
„Ja“, meinte sie, „du hast recht. Schaffen wir ihn uns vom Hals!“
„Mit Vorliebe, sage ich dir, dem reiße ich alles raus, was lebenswichtig für ihn ist. Er gehört uns!“
„Dann machen wir uns auf. Wir können in den grenzumliegenden Wäldern übernachten und sind vor ihm dort, der wird sich nie mehr bei uns einmischen. Endlich eine Menschenjagd!“
„Dann machen wir die Fahrräder klar und zischen los!“
„In Ordnung.“, sagte Kerstin und stand auf.
Sie gingen hinunter in den Keller und packten ihre Räder. Sie traten fast synchron in die Pedalen und steuerten ihr Ziel an.
„Wartet auf mich, ich will auch mit!“
Ein weiteres Rad gesellte sich zu den beiden. Es war Svenja, die erschienen war, um an der Unternehmung teilzunehmen ...
Sie fuhren ihres Weges. Es kostete sie keine Mühe, da sie alle nicht mehr menschlich waren. Sie nahmen die Radwege bis nach Elmpt. Hier war Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden.
Sie kamen an die Grenze und kurze Zeit später hatten sie die BRD hinter sich gelassen.
„Ich würde sagen, dass wir hier bleiben.“, meinte Kerstin.
„Ja, wir können hier auf ihn warten.“, entgegnete Svenja.
„So weit ich weiß, wollte Steffen ins Roermonder Stadtarchiv.“, mischte sich Dirk ein.
„Vor morgen trifft er sowieso nicht ein. Außerdem ist morgen Sonntag, da wird das Archiv geschlossen sein. Aber ich glaube dennoch, dass er hier auftauchen wird. Du sagtest ja, dass er das Boot mitgenommen hat. Deshalb sollten wir uns im Wald einen Platz zum übernachten suchen und ihm dann auf dem Campingplatz einen warmen Empfang bereiten!“, sagte Kerstin.
„Du willst in auf Haten Boer killen?“, meinte Dirk, „Das erregt viel zu viel Aufsehen.“
„Typisch mein Freund, du bist ein echtes Weich-Ei, weißt du das?“
„Jetzt strenge doch mal dein Gehirn an! Unten im Stadtarchiv wird nicht so viel los sein, wie auf Haten Boer! Selbst des Nachts könnten wir auffallen.“
„Aber tagsüber im Stadtarchiv ist besser, meinst du?“
„Ja, außer Steffen und dem Archivar wird da wohl kaum jemand sein, und nachts könnten wir dann die Leichen mit Steffens Auto wegschaffen.“
„Wer soll die Karre fahren? Wohl keiner von uns!“
„Was hältst du von Johannes? Bedenke: Er steht auf unserer Seite!“
„Da hast du wohl Recht, er ist ja auch ein Mitglied. Du weißt aber, dass ich von Steffens Eltern nicht viel halte.“
„Das musst du jetzt aber anders sehen. Durch die Konvertierung hat er sich charakterlich so verändert, dass er alles tun würde um dem Bund zu helfen.“
„Da hat Dirk recht.“, stimmte auch Svenja zu.
„Dann machen wir es so?“, fragte Dirk.
„Ja, du hast mich überzeugt.“, entgegnete Kerstin unwirsch.
Dirk war froh, diese Galgenfrist für Steffen herausgeschlagen zu haben, denn momentan hatte er wirklich kein Interesse daran, dass er sein Leben verlor. Dirk wehrte sich gegen den Drang des Dämonischen und gewann immer öfter die Oberhand, aber zeigen würde er es ihnen nicht.
Die drei nahmen ihre Räder und schoben sie mit sich. Sie verschwanden im Waldgebiet, entfernten sich immer weiter von der Straße weg, damit sie nicht gesehen wurden.
Sie liefen abseits der Pfade, die Bäume boten ausreichend Deckung, um nicht gleich erkannt zu werden.
Es dämmerte bereits, ihnen machte es nichts aus, hier zu bleiben. Angst hatten sie keine. Ihnen konnte sowieso niemand etwas antun. Dazu brauchte man Mittel, die die meisten nicht besaßen, und ihre eigenen Kräfte würden für sich sprechen, sollte es dennoch jemand wagen sie zu stören!
Sie mussten Steffen daran hindern, sonst war der ganze Plan in Gefahr. Er durfte nicht hinter das Geheimnis kommen, die Höhle war nur für sie bestimmt. Vor allem hatten sie die Möglichkeit, Steffen und eventuelle Zeugen aus dem Verkehr zu ziehen und im Wald verschwinden zu lassen.
Sie hätten keine Skrupel gehabt, ihn einfach zu vernichten. Konvertierung hätte auch nichts gebracht. Sie wollten ihn einfach nicht dabei haben.
Auch Dirk war nicht immer auf Steffens Seite, aber er hatte nach wie vor lichte Momente, in denen er sich an eine Zeit erinnerte, die zwar noch nicht lange zurück lag, ihm aber wie eine halbe Ewigkeit vorkam.
Die Nacht brach herein, und sie legten sich im Schutze dicht aneinander gereihter Bäume nieder. Gleich morgen wollten sie den restlichen Weg nach Haten Boer hinter sich bringen. Weit war es ja nicht mehr, vielleicht noch fünf Kilometer. Dort würden sie ihn überwachen, Dirk hoffte nur, dass die anderen mitspielten und ihn nicht dort schon ausschalten wollten.
Die Schatten der kommenden Nacht legten sich über das Gebiet. Im Wald war es auch im Dunklen nie ruhig. Hier und dort hörten sie die Geräusche nachtaktiver Tiere. Aber das beunruhigte sie nicht, sie waren hier die stärksten Kreaturen.
So schliefen sie ein und erwachten erst im Morgengrauen.
Sie würden ihn jagen und nicht eher ruhen, bis dass sie ihn erledigt hatten. Außerdem hatten sie Zeit, da er ja erst noch seiner Arbeit nachgehen musste. Und das zum Sonntag. Momentan war es echt schlimm. Die Bäckerei konnte sich vor Arbeit kaum retten, so dass selbst die Azubis Überstunden und Sonntagsarbeit schieben mussten.
Doch Dirk hatte nicht die ganze Nacht geschlafen. Als es ruhiger wurde, griff er in seine Tasche und holte sein Handy hervor. Dies bekam er mal wieder bewusst mit. Er stellte es auf lautlos und tippte sms. So bekamen die anderen nichts mit. So oft er konnte, wollte er ihn über das Vorhaben des Geheimbundes informieren. Ob Steffen es verstand, wusste er nicht, zumal er in diesen Augenblicken permanent gegen die teuflische Kraft ankämpfen musste, die ihm seinen eigenen Willen nehmen wollte.
Dennoch würde er sich nicht mit ihm treffen wollen, denn er war eine Gefahr für sein Leben. Wenn er nicht bei Sinnen war, hätte er ihn wahrscheinlich ohne Zögern umgebracht. Das wollte er nicht riskieren.
Dirk spürte wie seine Kräfte nachließen und das Dämonische erneut die Regie übernahm. Er bekam nicht mit, wie der Tag anbrach, er war wieder nicht mehr er selbst, eine böse Kreatur mit stechendem Blick, die bereit war, jedem, der sich ihnen in den Weg stellte eine endgültige Lektion zu erteilen ...
Zwei Uhr morgens: Steffens Wecker schrillte los! Langsam öffnete er seine Augen. Sein ganzer Körper fühlte sich schwer wie ein Stein an. Er hatte in den letzten Tagen einfach zu wenig Schlaf, und das frühzeitige Aufstehen und die verdammte Wochenendarbeit gaben ihm fast den Rest. Aber er konnte nicht einfach zu Hause bleiben, erstens verlor er dann seinen Job und zweitens musste er wieder auf Thomas acht geben. Diese Gefahr war noch nicht abgewendet, und er fragte sich, wie er es überhaupt schaffen sollte, immer zum richtigen Zeitpunkt aufmerksam genug zu sein. Thomas führte etwas im Schilde, da war er sich sicher.
Steffen schnappte sein Handy und warf einen kurzen Blick darauf. Wieder eine sms. Er öffnete sie. Sie kam von Dirks Handy:
Steffen runzelte die Stirn. Verdammt was ging hier bloß vor? Waren denn alle verrückt geworden? Jeder hatte sich abgewendet und Dirk sprach von Verschwörung. Und alles deutete tatsächlich darauf hin. Wie konnte er sich sonst das merkwürdige Verhalten von Tom und Rico erklären. Auch Kerstin war beim letzten Besuch ziemlich schattig drauf gewesen. Dirk wollte ihm helfen, hatte Steffen aber dennoch per sms gewarnt, auch ihm nicht zu vertrauen.
Wie sollte er das anstellen, Thomas diese komische Flasche abzujagen? Er wusste es nicht ... Erst mal wollte er sich in Ruhe fertig machen und dann zur Arbeit fahren. Alles Weitere würde sich dann ergeben. In diesem Fall war die Einstellung „Abwarten und Tee trinken“ einfach das Beste, denn von hier aus konnte er sowieso nichts unternehmen.
Nach fünf Tassen starken Kaffees und einer Dusche ging er schließlich zu seines Vaters Wagen, schloss die Tür auf und warf sich auf den Fahrersitz. Er ließ den Motor an und trat aufs Gas. Steffen fuhr los. Zehn Minuten später traf er vor der Bäckerei ein. Er stieg aus und wollte Thomas suchen und fand ihn im Umkleideraum vor. Es war noch recht früh. Die beiden befanden sich momentan allein hier.
Thomas schien es nicht zu gefallen, dass Steffen ebenfalls so pünktlich aufgekreuzt war.
Peetz fasste sich ein Herz und meinte sehr direkt:
„Ich habe dich im Auge, brauchst es gar nicht erst versuchen, Kollege!“
„Peetz, halte dich da raus! Das ist ein guter Rat. Wenn du mir in die Quere kommst ...“
„Dann tötest du mich.“, schnitt Steffen ihm das Wort ab. „Aber ich werde verhindern, dass du diesen verfluchten Virus hier verbreitest. Deine Büchse der Pandora wird verschlossen bleiben, so lange ich lebe!“
„Und genau das ist der Punkt!“
Thomas stürzte sich auf Steffen. Doch er konnte ausweichen und Thomas fiel zu Boden. Sogleich rappelte er sich hoch und hielt plötzlich ein Messer in der Hand. Mit der Klinge stach er zu. Überrascht zuckte Steffen genau im richtigen Moment zurück. Der Stich verfehlte ihn.
Nun war Steffen dran. Er holte mit rechts weit aus, aber ließ Thomas in eine blitzschnell ausgestreckte linke laufen, die ihn voll ins Gesicht traf. Sofort setzte Steffen nach. Thomas seinerseits verteidigte sich mit dem Messer. Wieder stach er nach Peetz. Im gleichen Augenblick flog die Tür des Raumes mit einem Schlag auf! Der Chef stand auf der Matte! Steffen ließ sich davon nicht irritieren und trat dem verdutzen Thomas das Messer aus der Hand, welches unerreichbar für ihn in der Ecke des Raumes verschwand.
„Was ist hier los?“, raunzte der Mann, der in der Türe stand.
„Es tut mir leid.“, meinte Steffen. „Er wollte mich töten, ich musste mich verteidigen.“
„Ich habe es zur Kenntnis genommen, aber ...“, begann der Chef, aber Steffen ließ ihn nicht ausreden.
„Rufen Sie die Polizei. Diese wird bei ihm eine Substanz finden, die Thomas in Brotteig verarbeiten wollte, um großen Schaden über die Stadt zu bringen.“
Da sprang er auf, stieß Steffen, als auch seinen Chef zur Seite und machte sich aus dem Staub!
„Ihr werdet noch von uns hören, schon bald!“
Blitzschnell war er verschwunden. Sie konnten nicht hinterher. Dafür ging alles zu schnell. Beide hatten zu tun, wieder auf die Beine zu kommen.
„Ich rufe die Polizei, wenn Sie für heute nach Hause gehen wollen ... War ja offensichtlich, wer hier wen angegriffen hat. Wenn die Ermittlungen hier durch sind, können Sie für heute frei haben.“
„Danke.“
Wenige Minuten später trafen sie ein. Sie durchsuchten Thomas’ zurückgebliebene Sachen, die im Spind hingen und beschlagnahmten schließlich das Messer und eine merkwürdig aussehende Flasche mit einer eigenartigen Substanz, die die Beamten an Blut erinnerte. Sie hatten vor, es genauer zu untersuchen.
Steffen gab bereitwillig alles preis, was er wusste, woraufhin sich die Beamten nur kurz ansahen, es aber dennoch ins Protokoll aufnahmen. Sie bedankten sich und verließen den Tatort.
„Wenn es grenzübergreifend wird, dafür sind wir nicht zuständig.“, meinte Heinz Grundler, der dem Polizistenjob jetzt schon seit siebzehn Jahren nachging.
„Vielleicht ist das so. Aber untätig werde ich nicht bleiben.“, entgegnete ihm sein Kollege.
„“Jürgen, was willst du tun? Wenn die Spur nach Roermond geht. Das überlassen wir besser den Holländern ...“
„Sie haben vielleicht eine Arbeitshaltung! Ich werde mich da nicht heraushalten und die Spur der Sekte aufnehmen.“
„Geheimbünde in Viersen, nicht zu fassen.“
„Ich erinnere mich an einen Fall, der in die 80er Jahre zurückgeht, da gab es zwei Spezialisten die sich mit solchen Dingen herum schlugen. Es sind Experten, die das wohl täglich machen, wie sie mir erzählten. Wenn ich gleich aufs Revier komme, werde ich ein Ferngespräch führen. Diesem Spuk machen wir ein Ende. Seien Sie versichert!“
4. Der Anschlag
Der Wecker klingelte. Gähnend drehte sich Steffen im Bett herum. Er war noch müde, da er die ganze Nacht unruhig geschlafen hatte. Er hatte viel nachgedacht. Steffen war sich darüber im Klaren, dass seine „Freunde“ nicht mehr seine Freunde waren. Sie setzten ihn unter Druck. Wenn er für sie nicht den Fahrer spielte, drohte man ihm mittlerweile mit Schlägen. Es war noch recht früh am Morgen, aber er war in der Ausbildung zum Bäckergesellen, und da war es eben normal, dass man zu nächtlichen Stunden aufstehen musste, um seinen Job zu tun. Im Allgemeinen störte es ihn auch nicht, doch heute war einer der Ausnahme-Tage.
Steffen reckte sich und richtete sich im Bett auf. Eine Wechseldusche würde seinen Kreislauf schon in Schwung bringen. Er stand auf, gähnte noch einmal ausgiebig und verließ, etwas verschlafen aussehend, das Zimmer. Peters ging auf direktem Wege ins Bad, warf seinen Schlafanzug in die Ecke und stellte sich unter die Dusche. Abwechselnd warm und dann kalt ließ er das Wasser über seinen Körper laufen. Nach etwa zehn Minuten war er fertig und trocknete sich ab. Steffen zog sich an, streckte sich im Spiegel selbst die Zunge heraus und verließ den Raum.
Jetzt war erst mal Frühstück angesagt. Er aß Toast, belegt mit Salami und trank dazu Kaffee. Anschließend räumte er seinen Teller und Besteck weg und verließ kurze Zeit darauf die Wohnung.
Sein Motorroller stand vor dem Haus. Steffen schwang sich darauf, setzte seinen Helm auf und startete die Maschine. Der Motor röhrte auf. Er spielte kurz mit dem Gas und fuhr los. Sein Ziel war St. Hubert, dort absolvierte er seine Ausbildung. Da Steffen einen rasanten Fahrstiel hatte, erreichte er sein Ziel schnell. Er stand auch unter Zeitdruck, da er erst spät losgefahren war.
Er kam regelrecht angebraust, bremste so stark, dass der Hinterreifen quietschte und schaltete den Motor aus. Steffen schloss die Maschine ab, verstaute seinen Helm im Tankrucksack und betrat die Bäckerei, wo er bereits an der Eingangstür von einem Arbeitskollegen empfangen wurde.
„Hi Steffen. Hast heute Morgen wohl Jagdwurst gegessen, was?“
„Hi Thomas. Wieso?“
„Weil du so schnell unterwegs bist.“
„Wenn ich langsamer fahre, schlaf ich nachher noch ein. Ich brauche das morgens einfach.“
„Ja, bist du jemand hinten drauf donnerst und dabei selbst den Salto über den Lenker machst.“, meinte Thomas.
„Quark, ich beherrsche meine Maschine, ich habe zwei Bremsen. Wenn ich die mal brauche, dann benutze ich sie auch – ausnahmsweise!“
Steffen grinste dümmlich und ließ seinen Kollegen einfach stehen.
„Du bist ein Draufgänger, irgendwann fährst du dich tot!“, rief er ihm hinterher.
„Dann hab ich Pech gehabt.“, gab Steffen nicht minder laut zurück.
Thomas schüttelte den Kopf.
„Idiot, hoffentlich trifft es keinen Unschuldigen, wenn es soweit ist.“
Doch das hörte Steffen nicht mehr. Er hatte die Tür zur Umkleidekabine bereits hinter sich geschlossen.
*
Thomas´ Mine verfinsterte sich. Steffen war also doch noch eingetroffen. Nach dem erfolgreichen Ritual war er sofort losgezogen, um die Ablösung für Tom zu übernehmen. Aber es war ihm noch eine andere Aufgabe übertragen worden. Tief in seiner Hosentasche steckte das dämonische Elixier, das Menschen so manipulieren konnte. Wenn der Meister gekrönt würde, sollte er eine große Armee vorfinden. Heute sollte er seinen Beitrag dazu leisten, das Heer der dunklen Kreaturen zu vergrößern. Die Bäckerei war wie geschaffen für seinen Plan. Er musste es nur in einem unbeobachteten Moment mit in den Brotteig verarbeiten. Die Menschen da draußen würden dort einkaufen, ohne zu wissen, was sie später erwartete.
Thomas grinste. Er genoss es, dass er im Moment die Macht hatte, Dinge in Bewegung zu setzen. Auf Steffen musste er ganz besonders aufpassen. Er war misstrauisch genug geworden, auch wenn er keine Ahnung hatte, dass Thomas selbst im Zusammenhang mit Roermond stand.
Somit war Steffen auf Schritt und Tritt unter Kontrolle. Er konnte nichts unternehmen, ohne dass die andere Seite davon wusste.
Steffen betrat die Backstube und begann mit der Arbeit. Er war schon länger als ein Jahr dabei und hatte seinen festen Aufgabenbereich.
Sogleich machte er sich ans Werk. Thomas warf ihm des Öfteren einen schrägen Blick zu. Steffen merkte es und meinte:
„Habe ich was an mir oder was?“
„Nein, ich interessiere mich nur für das, was du da machst.“
„Wieso, ist was falsch?“
„Eigentlich nicht.“
„Dann starr mich nicht die ganze Zeit an, da werde ich nervös.“
„Von mir aus.“
Thomas ärgerte sich. Steffen war aufgeweckter, als er angenommen hatte. Ihm ging nichts dadurch. Er verbiss sich einen Fluch und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Thomas überlegte. Wie konnte er das Elixier unbemerkt unterrühren? Im Moment war es einfach zu gefährlich. Wenn Steffen was mitbekam, würde er auffliegen. Er musste sich in Geduld üben, und das passte ihm überhaupt nicht. Thomas hatte keine andere Wahl. Er musste noch warten, aber seine Stunde würde kommen. Da war er sich sicher.
*
Steffen argwöhnte, dass hier etwas nicht stimmte. Zu viele Veränderungen hatte er in letzter Zeit miterleben müssen. Zuerst hatte sich Tom und irgendwann auch Ricardo abgesondert, und das von einem Tag auf den anderen. Er hatte Thomas beobachtet und einen Ausdruck in seinen Augen wieder erkannt, wie er ihn von Tom und Rico bereits schon so oft gesehen hatte. Dass ihm seine Freunde jetzt sogar drohten war ihm völlig unerklärlich geworden, und auch bei seinem Kollegen spürte er diese eisige Kälte, Blicke, die ihm durch und durch gingen, und jedes Mal einen unangenehmen Schauer auf seinem Rücken hinterließen.
Steffen hatte den Verdacht, dass er irgendetwas plante, und er hatte sich vorgenommen, ihm auf die Finger zu sehen. Genau aus diesem Grunde hatte er bei ihm auch so reagiert. Thomas sollte wissen, dass er nicht schlief, und er hatte vor, sollte er es wagen auch nur das Geringste anzustellen, ihm sein Süppchen gehörig zu versalzen.
Aber auch Thomas hatte gemerkt, dass Steffen seine Pläne durchkreuzen würde. Er kochte innerlich vor Zorn, das konnte er für heute vergessen. Jetzt kam es darauf an, sich unauffällig zu verhalten, obwohl es ihn nervte nur wegen Steffen sein Vorhaben zurückstellen zu müssen. Das würde sich noch rächen! So etwas ließ ein Mann wie Thomas nicht lange auf sich sitzen.
Vor allem war die Nacht wiederum ein Erfolg gewesen. Sie hatten Dirk gefangen genommen und anschließend konvertiert. Das war ein Trumpf, von dem Steffen nichts ahnte. Hoffentlich wurde ihm das zum Verhängnis! Dirk hatte die besten Karten ihn auszuspionieren. Er würde der Informant schlechthin sein.
Der Arbeitstag neigte sich dem Ende zu, ohne weitere Zwischenfälle. Steffen zog sich kurz um und machte seine Maschine startklar. Bevor er losfuhr zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Dirks Nummer. Steffen hatte Glück:
„Hier ist Steffen Peters. Hast du gleich Zeit?“
„Ja, hab ich.“, antwortete Dirk.
„Gut, in Ordnung, ich bin in einer halben Stunde bei dir.“
„Gut, bis gleich dann.“
Steffen unterbrach schnell die Verbindung, denn Handygespräche waren teurer als es ihm lieb war.
Steffen ließ den Motor an und drehte am Gaszug. Die Maschine zog an. Er war unterwegs...
*
Nach dem für sie erfolgreichen Ritual hatte Thomas Kerstin und Dirk nach Hause gebracht. Nun saßen sie wieder vereint ihn ihrer gemeinsamen Wohnung. Die Zeit des Hasses auf ihren Freund war wieder von ihr gewichen. Seit dem auch er aufgenommen worden war, verstanden sie sich wieder so gut wie früher. Dennoch war es anders. Ihre Pläne mit der Welt waren düster. Und keiner der beiden würde sich aufhalten lassen! Das sollten sie versuchen, und es würde ihnen Leid tun! Vergeltung würde auf dem Fuße folgen! Direkt und gnadenlos! Darüber waren sich beide mittlerweile einig, obwohl es auch Grund zur Sorge gab, denn Dirk hatte sich auch nach der Konvertierung gegen das Böse gewehrt, was von ihm Besitz ergreifen wollte. Immer wieder gab es in dieser Nacht lichte Momente, in denen er menschlich wirkte, das aber eigentlich hätte ausgeschaltet sein müssen. So etwas hatte es noch nie bei anderen gegeben, doch sie hielt ihn im Auge, damit er keine Dummheiten machte und plötzlich quer trieb.
Ansonsten verlief das Leben normal. Sie gingen beide ihren Tätigkeiten nach, als ob nichts gewesen wäre. Mehr wäre momentan auch nicht drin gewesen, denn sie mussten vorsichtig sein. Zu viele ihrer Art hatten schon mit dem Leben bezahlen müssen, weil sie auf Leute getroffen waren, die genau wussten, wie man sie bekämpfte.
Was Kerstin auch nicht wusste: Im Grunde waren sie sich über alle Pläne und Unternehmungen einig, aber es gab immer noch die Momente, wo er sich gegen das Dunkle in ihm wehren konnte. In diesen Augenblicken verfluchte er es, ein Leben wie dieses zu führen, denn wenn es über ihn kam, erinnerte er sich an nichts, gleich als ob er bereits tot wäre. Es gab seine Persönlichkeit nicht mehr, kein Bewusstsein, alles was dann passierte, erlebte er nicht wirklich mit. In den Momenten, wo sein Verstand noch arbeitete, dachte er an all die armen Seelen, die sein Schicksal teilen mussten. Konnten sie sich auch gelegentlich an etwas erinnern? Oder waren ihre Seelen ganz und gar ausgelöscht? Würde auch seine Welt bald für immer in ewiger Finsternis verschwinden?
Übergangslos war der schwarze Vorhang wieder über ihn gefallen und seine Gedanken abgeschnitten im Schacht der nächsten Ohnmacht, was aber nicht hieß, dass er handlungsunfähig war. Das Böse hielt ihn wieder fest im Griff.
Es ging auf 14.45 Uhr zu, als das Telefon läutete, Dirk nahm ab und meldete sich. Es war Steffen, der fragte, ob sie zu Hause wären und er sagte ihm zu.
Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Es konnte ja auch alles Weitere persönlich beredet werden.
„Das war Steffen, oder?“, unterbrach Kerstin die Stille.
„Ja, er wollte vorbei kommen.“
„Hast ihm zugesagt?“
„Ja, ist doch jetzt nicht mehr so tragisch. Jetzt gibt es ja keine Gefahr mehr euch zu verraten.“
„Stimmt.“
Wieder ging das Telefon. Diesmal griff Kerstin zum Hörer und brummte ein mürrisches: „Ja.“
„Thomas hier, du, der Steffen hat mir vielleicht zugesetzt. Sah fast so aus, als wenn er Bescheid wüsste. Hat mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Konnte das Zeug nicht unter mischen.“
„Verdammt – so ein Mist und jetzt?“, empörte sie sich.
„Auf ein Neues, werde es weiter versuchen. Der kann ja nicht immer neben mir stehen. Warum töten wir den Kerl nicht? Ich kann doch auch mit euch nach Roermond fahren. Wir brauchen ihn nicht mehr!“
„Ein Mord erregt zu viel Aufsehen, die Zeit ist noch nicht reif dafür.“
„Wir brauchen das Blut! Es geht nicht mehr lange gut. Viele werden schon unruhig.“
„Zu viel Aufruhr, noch nicht!“
„Von mir aus.“
Klick – Verbindung unterbrochen.
„Was war los?“, fragte Dirk.
„Thomas konnte die Backwaren nicht manipulieren. Steffen hat was gemerkt und ihn nicht aus den Augen gelassen. Der Kerl wird langsam lästig!“
„Denke ich auch. Was tun wir?“
„Erst mal herkommen lassen, er wird drüber reden wollen.“
„Kann ich das übernehmen?“
„Wenn du willst.“
„Klar.“
Dirk hatte erneut Telefonate bewusst mitbekommen. Ihm war klar, dass Kerstin eine ernste Gefahr für ihn war. Selbst er konnte in düsteren Zeiten, die überwiegend vorherrschten, nicht garantieren, dass auch von ihm eine tödliche Bedrohung ausging, der Steffen zum Opfer fallen konnte.
Dirk kämpfte gegen diese verdammte schwarzmagische Kraft an, unterlag aber wieder und die „Nacht“ kam zurück.
Es klingelte. Dirk stand auf und öffnete die Haustür. Kurze Zeit später betrat Steffen die Wohnung.
Sie setzten sich aufs Sofa und Steffen berichtete von seinen Erlebnissen dieses Tages. Er schilderte seine Eindrücke, aber konkretes wusste er dennoch nicht.
Für Steffen war es eine merkwürdige Atmosphäre. Mit Dirk konnte man sich unterhalten, aber Kerstin hinterließ bei ihm einen recht abweisenden Eindruck.
Ihm entging aber dennoch nicht, dass auch Dirk sich oftmals merkwürdig verhielt. Man konnte dieses Klima als kalt bezeichnen. Steffen konnte es nicht wirklich an etwas bestimmten festmachen, aber er spürte es, und wieder breitete sich die Gänsehaut bei ihm aus.
Steffen musste raus aus der Wohnung, das sagte ihm sein Gefühl. Er sprach noch einiges an um eine Ausrede zu finden, dann stand er schließlich auf und Dirk brachte ihn noch zur Tür. Draußen im Hausflur meinte er plötzlich:
„Steffen, mir bleibt nicht viel Zeit. Du hast keine Freunde mehr. Etwas Fürchterliches geschieht. Hau ab, soweit du kannst, ich ... ich weiß nicht wie lange ich dir noch helfen kann, bevor auch ich mich verliere...“
„Aber ...“
„Frag nicht, hau ab! Und möglichst weit, komm nicht mehr hier her!“
„Wie du meinst ...“
Enttäuscht drehte er sich um und öffnete die Tür, die ins Freie führte. Ein letztes Mal blickte er zurück und fing einen frostigen Blick von Dirk auf, der ihn erneut heftig erschauern ließ. So kalt und abweisend hasserfüllt wie die seiner übrigen Freunde, die er einst gehabt hatte. Von nun an war er allein und es wurde ihm klar, dass es für ihn niemanden mehr gab, auf den er zählen konnte…
*
Was war bloß los hier. Das Geheimnis musste in Roermond liegen. Gleich morgen wollte er hinfahren, er musste es herausfinden, sonst war auch er verloren. Er beschloss, für diesen Tag das Auto seines Vaters zu leihen um direkt nach der Arbeit losfahren zu können. Er wollte erst einmal nach Hause.
Dort angekommen, packte er seine Sachen, u. a. ein motorbetriebenes Schlauchboot in den Kofferraum des Wagens. Steffen hatte ein großes Hobby. Er trieb gerne Wassersport und fuhr oftmals mit seinem Boot auf der Maas herum.
Als Johannes Peters, sein Vater, sah was er tat, fingen die beiden eine heftige Diskussion um das Auto an, aber schließlich gab der Vater nach und Steffen konnte den Wagen für sich haben.
Johannes Peters verschwand wieder im Haus, ging ins Wohnzimmer und griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben. Unterdessen betrat Steffen das Haus und wollte noch einige Handtücher und eine Decke bereitlegen.
Zufällig bekam er die Worte seines Vaters mit:
„Ja ...“
„Genau, er wollte morgen nach Roermond.“
„Richtig, richtig ...“
„Ich tippe Stadtarchiv. Er hat zwar das Boot mit, aber ich glaube es nicht ...“
„... ihr könnt ihn, glaube ich, dort finden.“
„... kein Thema, Tschüss.“
„Oh verflucht!“, dachte Steffen und huschte leise in den Keller um die Sachen zu holen, „du bist also auch schon so schräg drauf!“ Er war sauer, aber er ließ sich nichts anmerken. So wie Dirk geredet hatte, war er in Gefahr. Und dann diese Aussage von ihm: „Bevor ich mich verliere ...“
Rätsel über Rätsel, die Steffen nicht verstand. Doch er verzeichnete es positiv für sich, er war verraten worden, aber er wusste davon, das war sein Vorteil. Eine erkannte Gefahr ist immerhin nur noch halb so gefährlich. Aber mit wem hatte sein Dad telefoniert? Das hätte er nur zu gern gewusst.
Aber Steffen zog es vor ihn nicht danach zu fragen. Es war besser so, bevor er noch ins offene Messer lief.
Seine Gegner saßen schon in den eigenen vier Wänden. Ihm kam es vor wie ein Virus, der schleichend wie ein gefährliches Gift jeden in seiner Umgebung infizierte. Steffen konnte sich die Hölle nicht schlimmer vorstellen. Von allen Seiten zog sich die Schlinge um seinen Hals enger. Jetzt konnte er keinem mehr trauen.
Er ging nach unten. In einem ausgebauten Kellergeschoss, welches sein Reich war, schloss er die Tür hinter sich und schaltete seine Musikanlage ein. Völlig niedergeschlagen legte er sich aufs Bett. Die letzten Tage waren einfach zu viel für ihn gewesen...
Da meldete sich sein Handy. Deutlich erkannte er den Ton, der ihm signalisierte: „Eine Kurzmitteilung erhalten.“
Schwerfällig erhob er sich und trat an den kleinen Tisch, auf dem das Gerät lag. Er öffnete die SMS. Sie war von Dirk. Dort stand zu lesen:
HI STEFFEN. FAHRE NICHT NACH ROERMOND!
TRAUE NIEMANDEM, NICHT MAL MIR!
BLEIB WEG, SONST IST’S DEIN ENDE!
BITTE!
TRAUE NIEMANDEM, NICHT MAL MIR!
BLEIB WEG, SONST IST’S DEIN ENDE!
BITTE!
Fast wäre ihm das Mobiltelefon aus der Hand gefallen, doch er fing es so grade eben noch auf. Mit vorsichtigen Schritten trat er wieder auf sein Bett zu und ließ sich einfach fallen. Tränen standen in seinen Augen. Er war verzweifelt, jetzt wusste er, mit wem sein Vater telefoniert hatte!
*
Dirk führte einen fürchterlichen Kampf gegen das was ihn zerstören wollte. Er wunderte sich, dass er sich überhaupt dagegen zur Wehr setzen konnte. Und wenn es auch nur kurze Momente waren, wollte er seinen Freunden zur Seite stehen, wo er nur konnte, aber der Machteinfluss war so groß, dass er es nicht immer schaffte.
Er hatte in diesen Momenten jedenfalls nicht vor, Kerstin zu zeigen, dass es noch einen Rest Menschlichkeit in ihm gab.
Als Steffens Vater anrief nahm er den Hörer zur Hand. Wie gut, dass es für ihn ein Moment war, als er wieder denken konnte. Dirk erhielt von ihm die Informationen, was Steffen vorhatte, doch an das Ende des Gespräches konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Erst ungefähr vierzig Minuten später kam er wieder zu sich.
Er musste seinen Freund warnen, wollte ihn nicht ins Messer rennen lassen. In einem unbeobachteten Moment griff er nach seinem Handy und tippte ihm eine SMS. Er schaffte es, das Geschriebene noch an Steffens Nummer zu versenden, dann verließ ihn die menschliche Seite wieder.
Kerstin kam ins Wohnzimmer.
„Wer war das am Telefon?“
„Das war Steffens Daddy.“
„Und?“
„Steffen will morgen nach Roermond das Geheimnis herausfinden! Er ist eine Gefahr für unsere Sache, und in Holland könnten wir ihn endgültig aus dem Verkehr ziehen!“
„Ja“, meinte sie, „du hast recht. Schaffen wir ihn uns vom Hals!“
„Mit Vorliebe, sage ich dir, dem reiße ich alles raus, was lebenswichtig für ihn ist. Er gehört uns!“
„Dann machen wir uns auf. Wir können in den grenzumliegenden Wäldern übernachten und sind vor ihm dort, der wird sich nie mehr bei uns einmischen. Endlich eine Menschenjagd!“
„Dann machen wir die Fahrräder klar und zischen los!“
„In Ordnung.“, sagte Kerstin und stand auf.
Sie gingen hinunter in den Keller und packten ihre Räder. Sie traten fast synchron in die Pedalen und steuerten ihr Ziel an.
„Wartet auf mich, ich will auch mit!“
Ein weiteres Rad gesellte sich zu den beiden. Es war Svenja, die erschienen war, um an der Unternehmung teilzunehmen ...
*
Sie fuhren ihres Weges. Es kostete sie keine Mühe, da sie alle nicht mehr menschlich waren. Sie nahmen die Radwege bis nach Elmpt. Hier war Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden.
Sie kamen an die Grenze und kurze Zeit später hatten sie die BRD hinter sich gelassen.
„Ich würde sagen, dass wir hier bleiben.“, meinte Kerstin.
„Ja, wir können hier auf ihn warten.“, entgegnete Svenja.
„So weit ich weiß, wollte Steffen ins Roermonder Stadtarchiv.“, mischte sich Dirk ein.
„Vor morgen trifft er sowieso nicht ein. Außerdem ist morgen Sonntag, da wird das Archiv geschlossen sein. Aber ich glaube dennoch, dass er hier auftauchen wird. Du sagtest ja, dass er das Boot mitgenommen hat. Deshalb sollten wir uns im Wald einen Platz zum übernachten suchen und ihm dann auf dem Campingplatz einen warmen Empfang bereiten!“, sagte Kerstin.
„Du willst in auf Haten Boer killen?“, meinte Dirk, „Das erregt viel zu viel Aufsehen.“
„Typisch mein Freund, du bist ein echtes Weich-Ei, weißt du das?“
„Jetzt strenge doch mal dein Gehirn an! Unten im Stadtarchiv wird nicht so viel los sein, wie auf Haten Boer! Selbst des Nachts könnten wir auffallen.“
„Aber tagsüber im Stadtarchiv ist besser, meinst du?“
„Ja, außer Steffen und dem Archivar wird da wohl kaum jemand sein, und nachts könnten wir dann die Leichen mit Steffens Auto wegschaffen.“
„Wer soll die Karre fahren? Wohl keiner von uns!“
„Was hältst du von Johannes? Bedenke: Er steht auf unserer Seite!“
„Da hast du wohl Recht, er ist ja auch ein Mitglied. Du weißt aber, dass ich von Steffens Eltern nicht viel halte.“
„Das musst du jetzt aber anders sehen. Durch die Konvertierung hat er sich charakterlich so verändert, dass er alles tun würde um dem Bund zu helfen.“
„Da hat Dirk recht.“, stimmte auch Svenja zu.
„Dann machen wir es so?“, fragte Dirk.
„Ja, du hast mich überzeugt.“, entgegnete Kerstin unwirsch.
Dirk war froh, diese Galgenfrist für Steffen herausgeschlagen zu haben, denn momentan hatte er wirklich kein Interesse daran, dass er sein Leben verlor. Dirk wehrte sich gegen den Drang des Dämonischen und gewann immer öfter die Oberhand, aber zeigen würde er es ihnen nicht.
Die drei nahmen ihre Räder und schoben sie mit sich. Sie verschwanden im Waldgebiet, entfernten sich immer weiter von der Straße weg, damit sie nicht gesehen wurden.
Sie liefen abseits der Pfade, die Bäume boten ausreichend Deckung, um nicht gleich erkannt zu werden.
Es dämmerte bereits, ihnen machte es nichts aus, hier zu bleiben. Angst hatten sie keine. Ihnen konnte sowieso niemand etwas antun. Dazu brauchte man Mittel, die die meisten nicht besaßen, und ihre eigenen Kräfte würden für sich sprechen, sollte es dennoch jemand wagen sie zu stören!
Sie mussten Steffen daran hindern, sonst war der ganze Plan in Gefahr. Er durfte nicht hinter das Geheimnis kommen, die Höhle war nur für sie bestimmt. Vor allem hatten sie die Möglichkeit, Steffen und eventuelle Zeugen aus dem Verkehr zu ziehen und im Wald verschwinden zu lassen.
Sie hätten keine Skrupel gehabt, ihn einfach zu vernichten. Konvertierung hätte auch nichts gebracht. Sie wollten ihn einfach nicht dabei haben.
Auch Dirk war nicht immer auf Steffens Seite, aber er hatte nach wie vor lichte Momente, in denen er sich an eine Zeit erinnerte, die zwar noch nicht lange zurück lag, ihm aber wie eine halbe Ewigkeit vorkam.
Die Nacht brach herein, und sie legten sich im Schutze dicht aneinander gereihter Bäume nieder. Gleich morgen wollten sie den restlichen Weg nach Haten Boer hinter sich bringen. Weit war es ja nicht mehr, vielleicht noch fünf Kilometer. Dort würden sie ihn überwachen, Dirk hoffte nur, dass die anderen mitspielten und ihn nicht dort schon ausschalten wollten.
Die Schatten der kommenden Nacht legten sich über das Gebiet. Im Wald war es auch im Dunklen nie ruhig. Hier und dort hörten sie die Geräusche nachtaktiver Tiere. Aber das beunruhigte sie nicht, sie waren hier die stärksten Kreaturen.
So schliefen sie ein und erwachten erst im Morgengrauen.
Sie würden ihn jagen und nicht eher ruhen, bis dass sie ihn erledigt hatten. Außerdem hatten sie Zeit, da er ja erst noch seiner Arbeit nachgehen musste. Und das zum Sonntag. Momentan war es echt schlimm. Die Bäckerei konnte sich vor Arbeit kaum retten, so dass selbst die Azubis Überstunden und Sonntagsarbeit schieben mussten.
Doch Dirk hatte nicht die ganze Nacht geschlafen. Als es ruhiger wurde, griff er in seine Tasche und holte sein Handy hervor. Dies bekam er mal wieder bewusst mit. Er stellte es auf lautlos und tippte sms. So bekamen die anderen nichts mit. So oft er konnte, wollte er ihn über das Vorhaben des Geheimbundes informieren. Ob Steffen es verstand, wusste er nicht, zumal er in diesen Augenblicken permanent gegen die teuflische Kraft ankämpfen musste, die ihm seinen eigenen Willen nehmen wollte.
Dennoch würde er sich nicht mit ihm treffen wollen, denn er war eine Gefahr für sein Leben. Wenn er nicht bei Sinnen war, hätte er ihn wahrscheinlich ohne Zögern umgebracht. Das wollte er nicht riskieren.
Dirk spürte wie seine Kräfte nachließen und das Dämonische erneut die Regie übernahm. Er bekam nicht mit, wie der Tag anbrach, er war wieder nicht mehr er selbst, eine böse Kreatur mit stechendem Blick, die bereit war, jedem, der sich ihnen in den Weg stellte eine endgültige Lektion zu erteilen ...
*
Zwei Uhr morgens: Steffens Wecker schrillte los! Langsam öffnete er seine Augen. Sein ganzer Körper fühlte sich schwer wie ein Stein an. Er hatte in den letzten Tagen einfach zu wenig Schlaf, und das frühzeitige Aufstehen und die verdammte Wochenendarbeit gaben ihm fast den Rest. Aber er konnte nicht einfach zu Hause bleiben, erstens verlor er dann seinen Job und zweitens musste er wieder auf Thomas acht geben. Diese Gefahr war noch nicht abgewendet, und er fragte sich, wie er es überhaupt schaffen sollte, immer zum richtigen Zeitpunkt aufmerksam genug zu sein. Thomas führte etwas im Schilde, da war er sich sicher.
Steffen schnappte sein Handy und warf einen kurzen Blick darauf. Wieder eine sms. Er öffnete sie. Sie kam von Dirks Handy:
HEUTE BEI DER ARBEIT AUF THOMAS ACHTEN!
NIMM IHM DIE FLASCHE AB! VORSICHT GIFT!
ERFÜLLE DIESE MISSION,
SONST IST ES ZU SPÄT!
NIMM IHM DIE FLASCHE AB! VORSICHT GIFT!
ERFÜLLE DIESE MISSION,
SONST IST ES ZU SPÄT!
Steffen runzelte die Stirn. Verdammt was ging hier bloß vor? Waren denn alle verrückt geworden? Jeder hatte sich abgewendet und Dirk sprach von Verschwörung. Und alles deutete tatsächlich darauf hin. Wie konnte er sich sonst das merkwürdige Verhalten von Tom und Rico erklären. Auch Kerstin war beim letzten Besuch ziemlich schattig drauf gewesen. Dirk wollte ihm helfen, hatte Steffen aber dennoch per sms gewarnt, auch ihm nicht zu vertrauen.
Wie sollte er das anstellen, Thomas diese komische Flasche abzujagen? Er wusste es nicht ... Erst mal wollte er sich in Ruhe fertig machen und dann zur Arbeit fahren. Alles Weitere würde sich dann ergeben. In diesem Fall war die Einstellung „Abwarten und Tee trinken“ einfach das Beste, denn von hier aus konnte er sowieso nichts unternehmen.
Nach fünf Tassen starken Kaffees und einer Dusche ging er schließlich zu seines Vaters Wagen, schloss die Tür auf und warf sich auf den Fahrersitz. Er ließ den Motor an und trat aufs Gas. Steffen fuhr los. Zehn Minuten später traf er vor der Bäckerei ein. Er stieg aus und wollte Thomas suchen und fand ihn im Umkleideraum vor. Es war noch recht früh. Die beiden befanden sich momentan allein hier.
Thomas schien es nicht zu gefallen, dass Steffen ebenfalls so pünktlich aufgekreuzt war.
Peetz fasste sich ein Herz und meinte sehr direkt:
„Ich habe dich im Auge, brauchst es gar nicht erst versuchen, Kollege!“
„Peetz, halte dich da raus! Das ist ein guter Rat. Wenn du mir in die Quere kommst ...“
„Dann tötest du mich.“, schnitt Steffen ihm das Wort ab. „Aber ich werde verhindern, dass du diesen verfluchten Virus hier verbreitest. Deine Büchse der Pandora wird verschlossen bleiben, so lange ich lebe!“
„Und genau das ist der Punkt!“
Thomas stürzte sich auf Steffen. Doch er konnte ausweichen und Thomas fiel zu Boden. Sogleich rappelte er sich hoch und hielt plötzlich ein Messer in der Hand. Mit der Klinge stach er zu. Überrascht zuckte Steffen genau im richtigen Moment zurück. Der Stich verfehlte ihn.
Nun war Steffen dran. Er holte mit rechts weit aus, aber ließ Thomas in eine blitzschnell ausgestreckte linke laufen, die ihn voll ins Gesicht traf. Sofort setzte Steffen nach. Thomas seinerseits verteidigte sich mit dem Messer. Wieder stach er nach Peetz. Im gleichen Augenblick flog die Tür des Raumes mit einem Schlag auf! Der Chef stand auf der Matte! Steffen ließ sich davon nicht irritieren und trat dem verdutzen Thomas das Messer aus der Hand, welches unerreichbar für ihn in der Ecke des Raumes verschwand.
„Was ist hier los?“, raunzte der Mann, der in der Türe stand.
„Es tut mir leid.“, meinte Steffen. „Er wollte mich töten, ich musste mich verteidigen.“
„Ich habe es zur Kenntnis genommen, aber ...“, begann der Chef, aber Steffen ließ ihn nicht ausreden.
„Rufen Sie die Polizei. Diese wird bei ihm eine Substanz finden, die Thomas in Brotteig verarbeiten wollte, um großen Schaden über die Stadt zu bringen.“
Da sprang er auf, stieß Steffen, als auch seinen Chef zur Seite und machte sich aus dem Staub!
„Ihr werdet noch von uns hören, schon bald!“
Blitzschnell war er verschwunden. Sie konnten nicht hinterher. Dafür ging alles zu schnell. Beide hatten zu tun, wieder auf die Beine zu kommen.
„Ich rufe die Polizei, wenn Sie für heute nach Hause gehen wollen ... War ja offensichtlich, wer hier wen angegriffen hat. Wenn die Ermittlungen hier durch sind, können Sie für heute frei haben.“
„Danke.“
Wenige Minuten später trafen sie ein. Sie durchsuchten Thomas’ zurückgebliebene Sachen, die im Spind hingen und beschlagnahmten schließlich das Messer und eine merkwürdig aussehende Flasche mit einer eigenartigen Substanz, die die Beamten an Blut erinnerte. Sie hatten vor, es genauer zu untersuchen.
Steffen gab bereitwillig alles preis, was er wusste, woraufhin sich die Beamten nur kurz ansahen, es aber dennoch ins Protokoll aufnahmen. Sie bedankten sich und verließen den Tatort.
„Wenn es grenzübergreifend wird, dafür sind wir nicht zuständig.“, meinte Heinz Grundler, der dem Polizistenjob jetzt schon seit siebzehn Jahren nachging.
„Vielleicht ist das so. Aber untätig werde ich nicht bleiben.“, entgegnete ihm sein Kollege.
„“Jürgen, was willst du tun? Wenn die Spur nach Roermond geht. Das überlassen wir besser den Holländern ...“
„Sie haben vielleicht eine Arbeitshaltung! Ich werde mich da nicht heraushalten und die Spur der Sekte aufnehmen.“
„Geheimbünde in Viersen, nicht zu fassen.“
„Ich erinnere mich an einen Fall, der in die 80er Jahre zurückgeht, da gab es zwei Spezialisten die sich mit solchen Dingen herum schlugen. Es sind Experten, die das wohl täglich machen, wie sie mir erzählten. Wenn ich gleich aufs Revier komme, werde ich ein Ferngespräch führen. Diesem Spuk machen wir ein Ende. Seien Sie versichert!“
*