4. Kindergesichter

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Rokwe

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4. Kindergesichter

Die Zeit, in der ich Kind war, war eine sehr merkwürdige Zeit, und da ich ihre Rätsel bis heute nie lösen konnte, weiß ich auch nicht, ob ich in der Lage bin, meine Kindheit angemessen darzustellen. Ich fühle mich ohnmächtig, all das zu beschreiben, was mich als Kind zur Persönlichkeit machte – aus dem einfachen Grund, weil ich es nicht zu beurteilen wage. Was war da bei mir jenseits der äußerlichen Umstände wie Elternhaus oder Schule? Was waren meine persönlichen Gedanken? Welche Ängste hatte nur ich, welche Hoffnungen hegte kein anderer? Ich habe nur noch Bruchstücke aus jener Zeit in Erinnerung und weiß auf diese Fragen keine Antwort. Ich ahne, daß die Wurzeln des Lebens als „Erwachsener“ bereits in all den dunklen Gedanken eines Kindes zu suchen sind – sie sind aber nicht zu finden. Zumindest ich kann sie bei mir nicht mehr finden. Ist es überhaupt möglich, seine eigenen Wurzeln, sich selbst zu finden? Wie kann ich suchend – mich finden? Denn meine dunklen Kindesgedanken sind ja Teil meiner selbst, übergegangen in jene erstarrte Persönlichkeit, als die ich mir jetzt Gedanken über mein Kindsein mache. Nein, den Spiegel, in dem ich mich selbst erkennen und durchschauen kann, halte ich heute noch nicht in meinen Händen. Aber die Zeit wird kommen. Denn der Grundstrom des Lebens, in den sich jeder einmal stürzen muß, hat, obwohl selbst reißend und bewegt, eine spiegelnde Oberfläche wie ein stilles Gewässer, dessen bin ich mir sicher. Im Grunde genommen muß sich also jeder in sein eigenes Bild, in sich selbst stürzen. Und dann wird jeder mit dem Kind versöhnt, das er war.
Wie soll sich der dicke Baumstamm noch an die Kerben des zwölften Jahresrings erinnern? Nur, wenn der dicke Baumstamm einmal umgesägt wird, treten die Geheimnisse seiner Vergangenheit ans Licht. Ein Kind steht dann an der duftenden Schnittfläche, begutachtet die Jahresringe und stellt sich vor, was wohl die Unregelmäßigkeiten am zwölften Ring ausgelöst haben mag ... (Ohne zu wissen, daß es dabei in die eigene Zukunft blickt.)
So will ich also meine Kindheit weder mit den üblichen nichtssagenden biographischen Aufzählungen abhandeln noch aus meiner jetzigen Perspektive heraus versuchen, die Mysterien des kindlichen Bewußtseins zu erforschen. Denn da ich jetzt und schon seit langem ein anderes Bewußtsein habe als zu der Zeit, als ich die ersten prägenden Erfahrungen meines Lebens machte, ist es müßig, sich in mein kindliches Ich hineinversetzen zu wollen. Ich bin derselbe und doch ein anderer. Die Brille des alten Mannes hindert denselben, mit den unbefangenen Augen des Kindes zu sehen, und seine körperliche Gebrechlichkeit schließt ein verträumtes Krabbeln am Boden aus.
Ich betrachte all die Dinge, von denen ich hier erzähle und noch erzählen werde, als Vollendung und Blüte dessen, was in meiner Kindheit begonnen und gepflanzt wurde. Mit dem Verschweigen unwichtiger Details aus meinen frühen Jahren lasse ich daher nichts wirklich Wichtiges beiseite, sondern schaffe nur Raum für die großen Dinge meines späteren Lebens, die in meiner Kindheit auch schon da waren – im Verborgenen. Mein „späteres Leben“ – vielleicht nur eine Fußnote zur Kindheit? Ich weiß es nicht. Die Geheimnisse der Kindheit sind zu geheimnisvoll, als daß ein Erwachsener sie ergründen könnte. Mir bleibt nur die Möglichkeit, mich von außen den großen Fragen und Wahrheiten des Kindseins zu nähern. Aus vielen kleinen einzelnen Erlebnissen, Gedanken, Bildern, Erinnerungen baue ich mir mühsam etwas zusammen, das „Kind“ heißt. Ich werde dieses Bauwerk nie vollenden. Ich werde auch nie genau verstehen, was es letztlich ist. Aber ich habe etwas vor mir, von dem ich sagen kann, daß es geheimnisvoll und schön ist.
Kinder sind geheimnisvoll und schön. Wenn ich an sie denke, kommt mir vieles in den Sinn. Ich denke beispielsweise an einen kleinen Jungen, dem ich begegnet bin: Er kam mir entgegen, an der Hand seiner Mutter, und obwohl ich ihn nur wenige Sekunden sah, prägte er sich mir fest ins Gedächtnis ein: Er ging aus eigenem Antrieb, wurde also von der Mutter nicht mitgeschleift; die Art, wie er die Hand der Mutter hielt, hatte etwas Zärtliches, zeugte von tiefem Vertrauen, – aber das Gesicht! Aus dem kleinen Mund kam ein seltsamer Jammerlaut, der mich an die liebenswürdig-selbstbemitleidende Art der Kleinkinder erinnerte, die am Ende einer minutenlangen Phase des intensiven Weinens irgendwann die Kraft verlieren, vielleicht sogar schon den Grund des Weinens vergessen haben, aber trotzdem noch absichtlich und erzwungen weiterheulen, was dann noch viel elender und mitleiderregender klingt als am Anfang, manchmal aber auch künstlich-falsch, theatralisch und belustigend ... Und dann drehte sich der Kopf des kleinen jammernden Jungen langsam zur Mutter hoch, und es war genau der Moment, da sie an mir vorbeigingen, da sprach das Kind zur Mutter einen Satz, nur einen Satz, so erschüttert, so erschütternd, und aus den großen, verweinten Augen sprach so viel Entsetzen, so viel Ungläubigkeit und blinde Verzweiflung: „Du hast mir eine Ohrfeige gegeben!“ Und dennoch hielt seine kleine Hand weiterhin vertrauensvoll die Hand der Mutter, da der Junge ja ahnte, daß er auf sie angewiesen war, und er ging widerstandslos mit ihr mit, da er ja fühlte, daß er ohne sie nicht sein konnte, aber dieses friedliche Zeichen der Gemeinschaft wirkte so unerhört paradox neben dem gleichzeitigen fassungslosen, anklagenden Schluchzen ... Ich glaubte sogar, in dem verstörten Blick des Jungen immer noch die Liebe zur Mutter erkennen zu können, obwohl durch die Ohrfeige zweifellos etwas zwischen den beiden getötet worden war. (Die Mutter schien nicht zu wahrzunehmen, in welche Herzenskrise sie ihren Sohn mit der Ohrfeige gestürzt hatte.)
Ich denke auch wieder an das Kind, das von Jesus umarmt wird. Ich weiß nichts Genaues über dieses Kind, aber es mußte ein Kind sein; Jesus wollte den unverständigen Erwachsenen zeigen, welch wunderschön wortlos-elementare Handlung es ist, liebevoll ein Kind zu umarmen. Klarer und wahrer kann man nicht handeln, dachte ich mir immer und dankte Jesus stumm für diese stumme Geste.
Ich denke an Kindergesichter, aus denen ich eine unerklärliche, scheinbar wissende Würde lese; einen oft so feierlich ernsten Blick, so viel ... ja, Würde, ein besseres Wort finde ich hier nicht ... Auch Ehrlichkeit glaube ich in vielen Kindergesichtern zu erkennen, Ehrlichkeit nicht aus Überzeugung, sondern aus Unschuld, Unbescholtenheit, Naivität. Sie haben noch nicht gelernt zu lügen. Welches Kind besitzt die Kälte, meisterhaft und dreist zu lügen? Keines. Kinder können nur schwindeln. Mit einem leicht zu entdeckenden Lächeln hinter der Fassade und einem verräterischen Blitzen in den Augen. Kinder schwindeln, Schuldige lügen. Kinder sind nicht schuldig. (Oder irre ich mich? Können auch Kinder grausam sein, böse handeln, schuldig werden? Vielleicht sind sie gar nicht der uneingeschränkte Inbegriff des Guten. Vielleicht sehne ich mich einfach nach jemandem, den ich zum Inbegriff des Guten erheben kann, da ich selbst es nicht bin.)
Ich denke bei Kindern auch an die Augen. Ja, gerade die Augen sind bei ihnen etwas ganz Besonderes: In ihnen erkennst du, in ihnen liest du, sie sind Ausdruck ihrer jungen Persönlichkeit ... Manchmal blicke ich in die Augen eines Alkoholikers, in die Augen eines Lügners, in die Augen eines Wahnsinnigen – und dann in die Augen eines Kindes, und alles wird mir klar ... Und ich verzweifle beim Blick in die Augen eines zerstörten Kindes, eines Kriegskindes, eines Kindes von Gewalt und Armut, eines Kindes, das nie sein durfte, was es eigentlich ist, das nie hemmungslos leben durfte ... Ich ringe mit Gott und finde keine Antworten mehr angesichts ungezählter Kinderaugen, die bereits vom Leben gezeichnet sind, getrübter Kinderaugen, zerbrochener Kinderaugen ...
Kinder haben noch nicht gelernt, mit komplizierter Gestik und durchdachter Mimik umzugehen. All die verlogene Gesprächsdiplomatie der Erwachsenen, all das indirekte Andeuten, das Hin und Her und Drumherumgerede gibt es bei Kindern nicht. Was das Kindergesicht auch ausdrückt, es ist echt. Und was ein Kind auch ausdrücken will: Es drückt es mit seinem Gesicht aus. Ganz direkt. Ohne Filter. Ohne Maske. Ohne Rolle. Ganz natürlich. Es kann nicht anders. Es ist so ... echt. Was ist dramatischer als ein von Verzweiflung verzerrtes Kindergesicht, was glücklicher als vor Begeisterung strahlende Kinderaugen? Was ist ... echter?
Diese und noch viele andere Gedanken beschäftigen mich seit langem. Sie helfen mir, auch mich selbst noch irgendwie als Kind zu begreifen, wie alt auch immer ich bin. Sicher war auch ich einmal – und dieser Gedanke ist so ungemein tröstlich – ein Kind, ich war wahrscheinlich einmal ganz echt ... Und diese banale Erkenntnis nagt am Schorf meiner krüppeligen Wurzeln, sie rodet eine helle Schneise ins Gestrüpp meines jetzigen Lebens, um mir einige klare Augenblicke zu schenken, und nach tief unten, auf den Grund des Abgrunds meiner selbst, auf meinen feuchten, dunklen Waldboden, der keine Jahresringe mehr, sondern nur noch Fäulnis kennt, fällt ein klein wenig Licht.
 



 
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