Nach dem langen Abstieg durch das Grauen und die Dunkelheit der großen Treppe genoss Wedekind die Wanderung durch das Sonnen durchflutete Land, den Duft der Wiesenblumen und das Summen der Insekten. Nach einer Weile ertappte er sich dabei, dass er ein fröhliches Lied pfiff, aber das schien keinen seiner Gefährten zu stören.
Sie kamen gut voran, obwohl sie keine festen Wege oder gar Straßen benutzten, und als die Sonne den Zenit erreichte, rasteten sie an einem kleinen Wäldchen, das von einem klaren Bach durchzogen wurde, der sich seinen Weg von der Höhe des Landbruchs hin zum Strom Grold bahnte.
„Wenn es so weiter geht, sollten wir am frühen Nachmittag die Furtbrücke erreichen, wo wir den Grold überqueren können.“ Harbon klang zufrieden. Er hatte sich eine Pfeife angezündet und lag im saftigen Gras nicht weit vom Bach entfernt. Wedekind saß im Schneidersitz neben ihm und genoss die frische Luft und das Plätschern des nahen Baches. „Die Brücke wird dir gefallen, Wanderschund.“ Harbon saugte an seiner Pfeife und blies den Rauch wieder aus. Wedekind mochte den Duft des Pfeifenrauchs, obwohl er selbst nie geraucht hatte und vor allem Zigarren aber auch Zigaretten eher ekelhaft fand. „Sie ist ...“ Der Zauberer verstummte abrupt und ließ die Hand mit der Pfeife sinken. Seine Augen wurden starr.
Wedekind schrak hoch.
„Was ist los?“, fragte er den Zauberer besorgt, der ihm aber mit einer Handbewegung bedeutete, still zu sein.
Nach einer Weile entspannte sich Harbon und blickte nachdenklich vor sich hin.
„Ich hatte gerade Kontakt mit Markam“, berichtete er dann. „Er hat mit seiner Gruppe die Furtbrücke erreicht. Sie wird von Gardisten bewacht, die jeden Reisenden, der die Brücke passieren will, kontrollieren.“
Elden fluchte.
„Und was tun wir jetzt?“, erkundigte er sich. „Soweit ich weiß, gibt es keine weitere Brücke in erreichbarer Nähe.“
Harbon lächelte.
„Da hast du recht“, bestätigte er. „Aber Markam hat mir gerade eine Alternative genannt. Es gibt eine Fähre ein Stück weiter südlich. Er hat uns empfohlen, diese zu benutzen, um den Gardisten auszuweichen.“
Elden nickte.
„Das sollten wir tun. Es hat keinen Sinn, uns ohne Not mit der Garde anzulegen oder auch nur größeres Aufsehen zu erregen.“
„Wir verlieren dadurch auch nur wenig Zeit, schätze ich.“ Harbon zog an seiner Pfeife. Diese war allerdings inzwischen erloschen und der Zauberer erhob sich, klopfte die Pfeife aus, packte sie in seinen Beutel und schulterte seinen Rucksack. „Wir sollten weiter gehen. Ich würde gerne noch vor Einbruch der Dunkelheit Mor'Klatt erreichen.“
Sie verließen das kleine Wäldchen und sahen vor sich eine weite Ebene, die bis zum Fluss und darüber hinaus reichte. Gras und niedriges Gestrüpp bestimmten das Bild dieser Landschaft, hier und da ragte ein Baum auf und hin und wieder gab es auch ein kleines Wäldchen. Alles war von üppigem grün und pastellartigen Farben, aber es gab nicht die kleinste Erhebung. Die Landschaft war Brett eben. Ganz in der Ferne, weit jenseits des Grold, glaubte Wedekind eine Bergkette zu sehen aber er war sich nicht sicher. Es konnte sich genauso gut um eine Luftspiegelung oder schiere Einbildung handeln.
Nachdem sie so eine Weile marschiert waren blieb Harbon stehen und deutete in Richtung des Flusses.
„Dort könnt ihr die Furtbrücke sehen. Das ist ein gewaltiges Bauwerk.“
Wedekind kniff die Augen zusammen. Der Fluss war wohl noch etwa zwei Kilometer entfernt, was allerdings sehr schwer zu schätzen war, da jeglicher Anhaltspunkt fehlte. Wedekind sah etwas, das er für eine ziemlich große Holzkonstruktion hielt, aber Einzelheiten waren aus dieser Entfernung nicht zu erkennen.
„Toll“, brummte er wenig begeistert und machte Anstalten, weiterzugehen.
Harbon hielt ihn zurück.
„Warte, ich habe eine Idee.“
Der Zauberer konzentrierte sich, beschrieb dann mit beiden Händen einen Kreis und murmelte einen Zauberspruch. Wedekind trat verblüfft einen Schritt zurück, als vor ihm die Luft zu flimmern begann und sich dann in einem kreisförmigen Bereich von etwa zwei Metern Durchmesser regelrecht zu verfestigen begann. Dieser Bereich wirkte wie eine riesige Linse, ein Vergrößerungsglas, und als Harbon es mit einigen Handbewegungen verschob, konnte er die Furtbrücke sehen, als stünde er nur fünfzig Meter entfernt.
„Wow, das ist beeindruckend“, hauchte Wedekind. Er meinte sowohl das riesige Holzbauwerk, als auch die Art und Weise, wie Harbon es ihnen präsentiert hatte.
„Fantastisch“, rief Jolene aus und klatschte begeistert in die Hände. „Das nenne ich mal einen Fernseher!“
„Nur das Programm ist ein wenig eintönig“, meinte Wedekind mit einem Grinsen.
Elden schaute die beiden verständnislos an. Wedekind winkte ab.
„Ein Insiderwitz“, beschwichtigte er und musste grinsen, als er erneut nur verständnislose Blicke erntete.
Sie setzten ihre Wanderung fort und Wedekind schätzte nach dem Stand der Sonne, dass es etwa zwei oder drei Uhr war, als sie den Fluss erreichten. Der Grold war an dieser Stelle sicherlich beinahe zweihundert Meter breit. Ein wenig weiter flussabwärts erhoben sich links und rechts des Flusses urplötzlich einige senkrecht aufragende Felsen. Es handelte sich offenbar um eine Art Findlinge, aber wie diese in die ansonsten völlig flache Landschaft gelangt waren, konnte sich der Antiquar nicht erklären. Ein wenig erinnerte ihn der Anblick an das Elbsandsteingebirge in der sächsischen Schweiz, wenn auch die hiesigen Felsen bei weitem nicht so hoch waren wie die an der Elbe in Deutschland.
Harbon führte die Gefährten auf einen Trampelpfad, der sich entlang des Flusses in Richtung Süden schlängelte. Sie bewegten sich zwischen niedrigen Laubbäumen, die beiderseits des Grold am Ufer sehr reichlich wuchsen und die sie praktischerweise vor Blicken vom Fluss und vom anderen Ufer her verbargen. Zweimal sah Wedekind zwischen den Bäumen hindurch erstaunlich große Schiffe, die flussabwärts unterwegs waren. Harbon erklärte, dass diese Lastkähne Waren bis zur Küste hinunter transportierten.
„Aber wie kommen die Schiffe wieder zurück gegen die Strömung?“
Der Zauberer lachte.
„Sie kommen nicht zurück.“, erklärte er. „Die Schiffe werden an der Küste verkauft und man macht Bau- und Feuerholz aus ihnen.“
„Einwegschiffe“, meinte Jolene und musste lachen.
„Eher Recycling“, ergänzte Wedekind und staunte wiedereinmal über die Unterschiede, die diese Welt im Gegensatz zu seiner eigenen aufwies.
„Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber so erreicht man gleich zwei Dinge: Man transportiert die benötigten Waren an ihren Bestimmungsort und man liefert ebenso dringend benötigtes Bauholz in den an Holz armen Süden.“
Wedekind nickte.
„Ja, man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Das ist sehr schlau.“
„Wen schlägt man? Du redest wieder in Rätseln, Wedelmann.“ Harbon schüttelte den Kopf.
Der Trampelpfad führte um die ersten größeren Findlinge herum und mündete schließlich in einer Art Bucht, in der die Gefährten eine Hütte entdeckten. Vor dieser Hütte war ein flacher Nachen von etwa zwölf bis fünfzehn Metern Länge und drei bis vier Metern Breite an einem Holzsteg festgemacht. Das Wasserfahrzeug hatte am Heck eine breite Ruderpinne vor der eine einfache Bank über die gesamte Breite des Nachens angebracht war. Das war es aber dann auch schon, was die Ausstattungsmerkmale der Fähre – denn um nichts anderes handelte es sich – betraf.
Als sie heran waren, nahm Wedekind den Nachen näher in Augenschein. Er gewahrte ein dickes Tau, das momentan auf dem Boden des Bootes lag und durch zwei Öffnungen am Bug und am Heck hinaus führte. Knoten fixierten das Tau am Boot und verhinderten, dass es durch die mit Metall verstärkten Ösen rutschte. Außerdem schien es möglich zu sein, die Ruderpinne und die dazu gehörige Bank vom derzeitigen Heck in den Bug umzubauen. All das sprach dafür, dass die Fähre an diesem Tau über den Fluss gezogen wurde. Wie genau das vonstatten ging, konnte Wedekind noch nicht sagen, aber er mutmaßte, dass die beiden Tiere – sie sahen aus wie übergroße Schweine, hatten aber längere Beine und eine Art Geweih, sodass sie wie eine merkwürdige Mischung aus Schwein, Rind und Hirsch aussahen – , die in Zuggeschirren an eine Art Seilwinde gekettet waren, dabei eine Rolle spielten. Im Moment fraßen die beiden Tiere friedlich aus einem Trog, in dem Wedekind eine undefinierbare Masse erkennen konnte. Den Tieren zumindest schien das Zeug zu schmecken, obwohl es, wie Wedekind feststellte, als sie sich dem Trog näherten, alles andere als appetitlich roch. Andererseits konnte der Geruch auch von den Tieren selbst stammen, da wollte sich der Antiquar nicht festlegen.
Harbon ging zur Hütte und schlug mit der Faust gegen die Tür.
„Holla, Fährmann!“, brüllte er so laut, dass die beiden Zugtiere erschrocken ihre Mahlzeit unterbrachen und mit großen Glotzaugen den Störenfried musterten. Als sie erkannten, dass ihnen offenbar aus dieser Richtung keine Gefahr drohte, wandten sie sich wieder dem Trog zu.
Als Harbon gerade noch einmal „anklopfen“ wollte, wurde die Tür von drinnen aufgestoßen und ein Mann trat heraus.
Sein Alter konnte man aufgrund seiner wuchernden Gesichtsbehaarung und des allgemeinen Hygienezustands unmöglich erraten. Er war groß gewachsen, aber dürr – Wedekind fühlte sich an Trogat erinnert – trug eine viel zu weite, Schmutz starrende Hose, die von zerschlissenen Hosenträgern einigermaßen in ihrer Position fixiert wurde. Das Hemd – Wedekind vermutete, dass es sich um ein solches handelte – war ähnlich sauber, wie die Hose, die der Fährmann trug. Die ehemalige Grundfarbe der Kleidungsstücke konnte man unmöglich erkennen. Wedekind mochte lieber nicht darüber nachdenken, was all die Flecken und Verschmutzungen hervor gerufen hatte und wie lange es her war, dass diese Kleidung mit Wasser oder gar Waschmitteln in Kontakt gekommen war.
Er baute sich vor Harbon auf und stützte die Hände in die Seiten, was angesichts seiner mehr als schmalen Gestalt und der wuchtigen Erscheinung des Zauberers reichlich lächerlich wirkte.
„Was schlägst du mir die Tür ein und brüllst hier herum, Kerl?“ Seine Stimme klang krächzend, als habe er lange mit niemandem mehr geredet. Die tief in den Höhlen liegenden Augen funkelten Harbon an. Der Zauberer trat einen Schritt zurück und rümpfte die Nase. Wedekind musste grinsen, weil er sich den Grund für dieses Naserümpfen lebhaft vorstellen konnte. Vermutlich verströmte der dürre Fährmann ein ähnliches Aroma wie seine Zugtiere und deren Futter.
Harbon ging auf die Worte seines Gegenüber nicht weiter ein.
„Hier sind Fahrgäste, die deiner Dienste bedürfen, Fährmann“, erklärte er statt dessen.
„Ich habe schon Feierabend für heute. Kommt morgen wieder“, brummte der Mann unfreundlich, drehte sich auf den nicht vorhandenen Absätzen um und machte Anstalten, in seine Hütte zurückzukehren. Harbon holte tief Luft und verdrehte die Augen. Dann packte er den Fährmann am Kragen und riss ihn dergestalt zurück, dass Wedekind fürchtete, er werde in der Mitte entzwei brechen.
„Hier geblieben.“ Die Stimme das Zauberer war gefährlich ruhig. „Du wirst uns hinüber bringen, und zwar sofort.“
Der Dürre wirbelte herum.
„Was fällt dir ein, unverschämter Kerl!“ Seine Stimme überschlug sich vor Empörung. Er wollte gerade zu einer erneuten Schimpftirade ansetzen, als er sah, was Harbon in der Zwischenzeit aus der Tasche gezogen hatte. Zwischen den Fingern des Zauberers glitzerte ein Goldstück. Sofort änderte sich der Gesichtsausdruck des Fährmanns. Aus Wut wurde Gier. Wedekind war sich nicht sicher, welche Mimik ihm besser gefiel – er entschied für sich, dass es keinen großen Unterschied machte. Der Fährmann war und blieb ihm unsympathisch. Eine schmutzige Hand schoss förmlich in Richtung des Goldstücks, aber Harbon war noch schneller und zog seine Hand rechtzeitig weg. Enttäuscht schaute der Fährmann ihn an.
„Diesen Goldforint bekommst du, wenn du uns hinüber gebracht hast. Das ist mehr, als du sonst in einem Monat verdienst.“ Verstohlen wischte der Zauberer die Hand, mit der er zuvor den Schmutzfinken berührt hatte, an seinem Umhang ab.
„Ich will ihn sofort! Vorkasse!“ Ein verschlagener Ausdruck erschien auf dem bärtigen Gesicht – zumindest, soweit man überhaupt einen Gesichtsausdruck ausmachen konnte.
„Vergiss es“, brummte Harbon genervt. „Du bekommst das Goldstück, sobald wir uns auf der anderen Seite des Grold befinden.“
Der Mann überlegte einen Moment. Dann nickte er.
„Na gut, du machst einen vertrauenswürdigen Eindruck.“ Er versuchte ein freundliches Lächeln, was ihm allerdings gründlich misslang.
„Es macht mich stolz, dass du das so siehst, mein Freund.“ Harbon verzog das Gesicht, aber der Fährmann schien die Ironie in seiner Stimme nicht zu bemerken. Er grinste breit.
„Mein Name ist übrigens Roltar, aber alle nennen mich nur Groldinger.“
Er nickte in die Runde und ging in seine Hütte zurück. Einige Sekunden später erschien er wieder. In der Hand hielt er eine große Pfanne aus Metall und einen Hammer. Harbon schaute seine Gefährten verständnislos an. Diese zuckten mit den Achseln. Roltar ging zum Steg hinüber, hob die Pfanne über den Kopf und schlug drei Mal mit dem Hammer dagegen. Ein Gong ähnliches Geräusch ertönte, so laut, dass es fast in den Ohren schmerzte. Roltar schaute mit gespanntem Gesichtsausdruck zu einem der höheren Findlinge hinauf. Dann fluchte er in seinen Bart und schlug weitere drei Mal auf seinen improvisierten Gong.
„Ersin, bring deinen faulen Hintern in Bewegung!“, brüllte er.
Die Gefährten schauten neugierig hinauf zum Findling, wo sich jetzt eine Gestalt zeigte, die offenbar zuvor gelegen hatte, so dass man sie nicht hatte sehen können. Der Mann hatte zwei Flaggen in der Hand, die er jetzt schwenkte. Roltar wedelte als Antwort mit seiner Pfanne. Harbon wandte sich an den Fährmann.
„Was hatte das zu bedeuten?“
„Wir müssen das Tau spannen“, erklärte der Groldinger. „Das tun wir nur, wenn keine anderen Schiffe auf dem Fluss unterwegs sind. In der übrigen Zeit liegt das Tau auf dem Grund des Grold. Mein Sohn Ersin steht oben auf dem Felsen und gibt Signal, wenn kein Schiff in Sicht ist. Das sehen wir ja von hier nicht. Mein anderer Sohn Orsan ist auf der anderen Seite des Stroms und kümmert sich dort um alles, wenn er das entsprechende Signal sieht.“
„Ein schlaues System“, lobte der Zauberer und der Fährmann grinste stolz. Dann ging er hinüber und bastelte eine Weile an der Winde herum. Anschließend nahm er wieder Pfanne und Hammer zur Hand und schlug zwei Mal und nach einer Pause ein drittes Mal dagegen. Die Gestalt auf dem Findling winkte zur Antwort mit einer Flagge ging dann einige Schritte in Richtung Fluss und gab ein offensichtlich vereinbartes Flaggensignal, das wohl seinem Bruder auf der anderen Seite des Grold galt.
Wedekind beobachtete gespannt, was als nächstes passieren würde. Nach einer Weile entstand plötzlich Bewegung und wiederum einige Sekunden später begann sich das Tau, das durch die Fähre lief, langsam aus dem Wasser zu heben und zu spannen. Offenbar gab es auch auf der anderen Seite des Stroms eine Winde, die jetzt zum Einsatz kam.
Als das Tau beinahe straff gespannt war, schlug der Groldinger wieder seinen Gong, diesmal nur ein Mal. Der Mann auf dem Felsen reagierte mit einem erneuten Flaggensignal, was dazu führte, dass nach einigen Sekunden das Tau nicht weiter gespannt wurde. Roltar nickte zufrieden. Dann ging er zur Winde und nahm einige Handgriffe vor.
„Wartet noch einen Moment. Ihr könnt schon in die Fähre steigen.“
Er ging zurück in die Hütte und kehrte nach kurzer Zeit mit einer jungen Frau zurück.
„Meine Tochter Grolda“, stellte er sie vor.
Wedekind musste ob des Namens grinsen. Die Tochter des Fährmanns war wohl um die Zwanzig und von ähnlicher Gestalt wie ihr Vater. Sie wirkte recht zerbrechlich und war ebenso ungepflegt, wie der Groldinger. Schüchtern lächelte sie in die Runde und Wedekind dachte bei sich, dass sie recht hübsch hätte sein können, wären da nicht die schlechten Zähne und ihr ungepflegter Allgemeinzustand gewesen.
Die Gefährten bestiegen das Fährboot und setzten sich einfach auf den Boden, während der Groldinger seine Tochter instruierte, die offenbar dafür zuständig war, den Fährmann mit seinem Nachen später wieder zurück zu befördern. Roltar drückte ihr Hammer und Pfanne in die Hand und nahm dann auf der Bank im Heck der Fähre platz, nachdem er dem Mann auf dem Findling zugewinkt hatte. Wedekind beobachtete, wie dieser wieder seine Flaggen einsetzte, offenbar um mitzuteilen, dass die Fahrt nun losgehen konnte.
Nach kurzer Zeit straffte sich das Tau erneut, diesmal aber begann die Fähre, sich langsam auf den Fluss hinaus zu bewegen. Der Groldinger hielt die Ruderpinne in der Hand, musste aber derzeit noch nichts tun, da hier am Flussufer keine starke Strömung herrschte. Wedekind befürchtete, dass sich das ändern würde, sobald man etwas weiter zur Mitte des Stroms gelangt war. Er griff mit der rechten Hand zum Bootsrand und hielt sich vorsorglich fest.
Die Fähre nahm nun Fahrt auf und nachdem ein gewisses Tempo erreicht war, bewegte sie sich erstaunlich gleichmäßig und ohne größeres Rucken in Richtung Flussmitte.
Elden und Harbon unterhielten sich leise. Offenbar waren der Fährmann und seine Familie das Thema.
„Er hat bestimmt ebenso viele Kinder in die Welt gesetzt, wie er zum Betrieb der Fähre benötigt“, meinte Elden gerade.
Harbon lachte.
„Das halte ich für absolut möglich.“
Wedekind lächelte, hörte aber nicht weiter zu, sondern beobachtete den Fluss und die Fahrt des Bootes. Je weiter sie sich zur Flussmitte hin bewegten, desto stärker musste der Groldinger gegensteuern. Wedekind hatte plötzlich seine Zweifel, dass der Fährmann ob seiner doch eher schwächlich wirkenden Konstitution genügend Kraft aufbringen würde, um die Fähre auf Kurs zu halten. Seine Hand krallte sich in die Reling des flachen Wasserfahrzeugs. Zum Glück strömte der Grold relativ langsam dahin und Wedekind beruhigte sich mit der Tatsache, dass der Fährmann diese Fuhre ja schon sehr oft heil über den Strom gebracht hatte. Ein Rest an Angst blieb jedoch, und er war mehr als froh, als sie ohne größere Schwierigkeiten die Mitte des Flusses passiert hatten und sich dem anderen Ufer näherten. Dort konnte er jetzt eine Hütte und einen Anlegesteg erkennen, auf dem eine Gestalt sie erwartete.
Wedekind entspannte sich ein wenig und ließ die Reling los. Sein Blick wanderte flussaufwärts und ein Schreck fuhr heiß in seine Glieder: Von dort näherte sich ein Schiff! Das andere Fahrzeug war ziemlich groß, offenbar ein Lastkahn, der Waren transportierte. Er drehte sich zu Roltar um, aber der hatte die Gefahr schon entdeckt. Er stand auf und gestikulierte wild in Richtung seine Sohnes, der endlich flussaufwärts schaute und registrierte, dass Gefahr bestand. Er rannte über den Steg in Richtung Hütte und Wedekind konnte nur ahnen, dass er jetzt die Zugtiere, die es sicherlich auch hier gab, zu größerer Eile antrieb. Wirklich begann die Fähre sich etwas schneller zu bewegen und obwohl sich der Lastkahn schnell näherte, war sich Wedekind nach einer Weile sicher, dass sie den Steg würden erreichen können, bevor das andere Schiff heran war. Er schaute zu Harbon, der besorgt die Situation beobachtete. Sie näherten sich immer weiter dem Steg, aber auch der riesige Lastkahn wurde nicht langsamer. Wie sollte er auch? Dann stieß die Fähre gegen den Steg und die Passagiere sprangen hastig von Bord. Roltar machte das Boot fest und rannte zu seinem Sohn, der sich an der Winde zu schaffen machte.
„Das Seil“, brüllte der Fährmann. „Versenke das Seil! Schnell!“
Wedekind erkannte das Problem: Wenn das Schiff mit dem Seil kollidieren würde, dürfte die gesamte Konstruktion mitsamt der Winden auf beiden Seiten in den Fluss gerissen werden. Harbon wandte sich dem Fluss zu, hob beide Arme und murmelte einen Zauberspruch, während er die Arme in Richtung des herannahenden Lastkahns bewegte. Wedekind erkannte fasziniert, dass sich die Fahrt des großen Schiffs mit einem Mal verlangsamte. Es schien abzubremsen, aber der Antiquar wusste, dass Harbons Zauberkräfte dafür verantwortlich waren.
Gespannt beobachteten die Gefährten, wie das Tau begann, sich zu senken, als der Fährmann und sein Sohn die Spannung reduzierten. Unendlich langsam versank das Tau im Fluss. Jetzt hing alles davon ab, wie groß der Tiefgang des Lastkahns war.
Roltar hielt inzwischen eine große Axt in der Hand, bereit, das Tau zu kappen, sollte es nicht rasch genug versinken.
Der Lastkahn erreichte die Stelle, wo kurz zuvor noch das Tau der Fähre den Grold überspannt hatte. Wedekind hielt den Atem an, wartete darauf, dass der Lastkahn im Tau hängen blieb und es mit sich riss. Ob der Groldinger dann schnell genug in der Lage sein würde, das Tau zu kappen, war zu bezweifeln. Das Schiff glitt weiter – aber es geschah nichts. Als der Lastkahn in seiner ganzen beeindruckenden Länge von sicherlich beinahe fünfzig Metern die Fähre passiert hatte, bemerkte Wedekind, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Geräuschvoll stieß er die Luft aus und schaute zu seinen Gefährten. Alle waren ein wenig blass und die Anspannung löste sich nur langsam.
Von der Hütte her hörte er ein Geräusch und erkannte, als er sich umdrehte, dass der Fährmann am Boden saß, immer noch die Axt in der Hand. Sein Gesicht war leichenblass, soweit man das unter dem dichten Bart und alle dem Schmutz erkennen konnte.
Elden blieb neben Harbon stehen.
„War das klug?“ Er schaute den Zauberer zweifelnd an.
Der zuckte die Schultern.
„Wahrscheinlich nicht. Es wird sich gewiss herum sprechen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass diese Familie ihren Lebensunterhalt verliert.“
Elden nickte.
„Keine gute Tat bleibt ungestraft“, murmelte Wedekind.
Harbon schaute ihn an.
„Ist das wieder eines der merkwürdigen Sprichwörter aus deiner Welt, Wundermann?“ Er schüttelte den Kopf. „Das muss wirklich eine seltsame Welt sein.“
Wedekind legte den Kopf schief und schaute zu dem Zauberer auf.
„In mancherlei Hinsicht ist sie wirklich seltsamer als eure Welt, das ist wahr“, meinte er nachdenklich. „Manchmal fragt man sich, wie man in einer solchen Welt leben kann. Aber dann geht es doch irgendwie – mehr oder weniger.“
Er wandte sich ab und ging zu Jolene hinüber, die sich mit Mirdal unterhielt. Roltar kam ihm entgegen. Ein erleichtertes Lächeln lag auf dem Gesicht des Fährmanns und er ging zu Harbon hinüber.
„Ich hatte keine Ahnung, über welche Macht Ihr verfügt, Herr. Ich möchte Euch danken.“ Er ergriff die Hand des Zauberers und schüttelte Sie, als wolle er Harbons Arm aus der Schulter reißen und als Trophäe aufbewahren.
„Schon gut, das waren wir dir schuldig.“ Harbon wirkte fast verlegen, wischte aber trotzdem die Hand, die der Groldinger so begeistert geschüttelt hatte, verstohlen an seinem Gewand ab. Dann griff der Zauberer in seinen Beutel und nahm das Goldstück heraus. Als er es aber dem Fährmann reichen wollte, wehrte dieser ab.
„Beschämt mich nicht, Herr Zauberer.“ Er schüttelte so heftig den Kopf, dass Wedekind unwillkürlich damit rechnete, dass sich die Schmutzpartikel von seinem Gesicht lösen würden. „Es war mir eine Ehre, so hohe Fahrgäste zu befördern und Ihr habt bereits mehr getan, als ich von Euch erwarten durfte.“
Diese neue Unterwürfigkeit des Fährmanns erschien Wedekind suspekt, aber er äußerte seine Bedenken nicht. Harbon schienen derlei Gedanken nicht zu plagen. Er steckte sein Goldstück wieder ein, bedankte sich beim Fährmann und seinem Sohn – der seinem Vater übrigens wie aus dem Gesicht geschnitten schien – und bedeutete den Gefährten, sich ihm anzuschließen.
Sie kamen gut voran, obwohl sie keine festen Wege oder gar Straßen benutzten, und als die Sonne den Zenit erreichte, rasteten sie an einem kleinen Wäldchen, das von einem klaren Bach durchzogen wurde, der sich seinen Weg von der Höhe des Landbruchs hin zum Strom Grold bahnte.
„Wenn es so weiter geht, sollten wir am frühen Nachmittag die Furtbrücke erreichen, wo wir den Grold überqueren können.“ Harbon klang zufrieden. Er hatte sich eine Pfeife angezündet und lag im saftigen Gras nicht weit vom Bach entfernt. Wedekind saß im Schneidersitz neben ihm und genoss die frische Luft und das Plätschern des nahen Baches. „Die Brücke wird dir gefallen, Wanderschund.“ Harbon saugte an seiner Pfeife und blies den Rauch wieder aus. Wedekind mochte den Duft des Pfeifenrauchs, obwohl er selbst nie geraucht hatte und vor allem Zigarren aber auch Zigaretten eher ekelhaft fand. „Sie ist ...“ Der Zauberer verstummte abrupt und ließ die Hand mit der Pfeife sinken. Seine Augen wurden starr.
Wedekind schrak hoch.
„Was ist los?“, fragte er den Zauberer besorgt, der ihm aber mit einer Handbewegung bedeutete, still zu sein.
Nach einer Weile entspannte sich Harbon und blickte nachdenklich vor sich hin.
„Ich hatte gerade Kontakt mit Markam“, berichtete er dann. „Er hat mit seiner Gruppe die Furtbrücke erreicht. Sie wird von Gardisten bewacht, die jeden Reisenden, der die Brücke passieren will, kontrollieren.“
Elden fluchte.
„Und was tun wir jetzt?“, erkundigte er sich. „Soweit ich weiß, gibt es keine weitere Brücke in erreichbarer Nähe.“
Harbon lächelte.
„Da hast du recht“, bestätigte er. „Aber Markam hat mir gerade eine Alternative genannt. Es gibt eine Fähre ein Stück weiter südlich. Er hat uns empfohlen, diese zu benutzen, um den Gardisten auszuweichen.“
Elden nickte.
„Das sollten wir tun. Es hat keinen Sinn, uns ohne Not mit der Garde anzulegen oder auch nur größeres Aufsehen zu erregen.“
„Wir verlieren dadurch auch nur wenig Zeit, schätze ich.“ Harbon zog an seiner Pfeife. Diese war allerdings inzwischen erloschen und der Zauberer erhob sich, klopfte die Pfeife aus, packte sie in seinen Beutel und schulterte seinen Rucksack. „Wir sollten weiter gehen. Ich würde gerne noch vor Einbruch der Dunkelheit Mor'Klatt erreichen.“
Sie verließen das kleine Wäldchen und sahen vor sich eine weite Ebene, die bis zum Fluss und darüber hinaus reichte. Gras und niedriges Gestrüpp bestimmten das Bild dieser Landschaft, hier und da ragte ein Baum auf und hin und wieder gab es auch ein kleines Wäldchen. Alles war von üppigem grün und pastellartigen Farben, aber es gab nicht die kleinste Erhebung. Die Landschaft war Brett eben. Ganz in der Ferne, weit jenseits des Grold, glaubte Wedekind eine Bergkette zu sehen aber er war sich nicht sicher. Es konnte sich genauso gut um eine Luftspiegelung oder schiere Einbildung handeln.
Nachdem sie so eine Weile marschiert waren blieb Harbon stehen und deutete in Richtung des Flusses.
„Dort könnt ihr die Furtbrücke sehen. Das ist ein gewaltiges Bauwerk.“
Wedekind kniff die Augen zusammen. Der Fluss war wohl noch etwa zwei Kilometer entfernt, was allerdings sehr schwer zu schätzen war, da jeglicher Anhaltspunkt fehlte. Wedekind sah etwas, das er für eine ziemlich große Holzkonstruktion hielt, aber Einzelheiten waren aus dieser Entfernung nicht zu erkennen.
„Toll“, brummte er wenig begeistert und machte Anstalten, weiterzugehen.
Harbon hielt ihn zurück.
„Warte, ich habe eine Idee.“
Der Zauberer konzentrierte sich, beschrieb dann mit beiden Händen einen Kreis und murmelte einen Zauberspruch. Wedekind trat verblüfft einen Schritt zurück, als vor ihm die Luft zu flimmern begann und sich dann in einem kreisförmigen Bereich von etwa zwei Metern Durchmesser regelrecht zu verfestigen begann. Dieser Bereich wirkte wie eine riesige Linse, ein Vergrößerungsglas, und als Harbon es mit einigen Handbewegungen verschob, konnte er die Furtbrücke sehen, als stünde er nur fünfzig Meter entfernt.
„Wow, das ist beeindruckend“, hauchte Wedekind. Er meinte sowohl das riesige Holzbauwerk, als auch die Art und Weise, wie Harbon es ihnen präsentiert hatte.
„Fantastisch“, rief Jolene aus und klatschte begeistert in die Hände. „Das nenne ich mal einen Fernseher!“
„Nur das Programm ist ein wenig eintönig“, meinte Wedekind mit einem Grinsen.
Elden schaute die beiden verständnislos an. Wedekind winkte ab.
„Ein Insiderwitz“, beschwichtigte er und musste grinsen, als er erneut nur verständnislose Blicke erntete.
Sie setzten ihre Wanderung fort und Wedekind schätzte nach dem Stand der Sonne, dass es etwa zwei oder drei Uhr war, als sie den Fluss erreichten. Der Grold war an dieser Stelle sicherlich beinahe zweihundert Meter breit. Ein wenig weiter flussabwärts erhoben sich links und rechts des Flusses urplötzlich einige senkrecht aufragende Felsen. Es handelte sich offenbar um eine Art Findlinge, aber wie diese in die ansonsten völlig flache Landschaft gelangt waren, konnte sich der Antiquar nicht erklären. Ein wenig erinnerte ihn der Anblick an das Elbsandsteingebirge in der sächsischen Schweiz, wenn auch die hiesigen Felsen bei weitem nicht so hoch waren wie die an der Elbe in Deutschland.
Harbon führte die Gefährten auf einen Trampelpfad, der sich entlang des Flusses in Richtung Süden schlängelte. Sie bewegten sich zwischen niedrigen Laubbäumen, die beiderseits des Grold am Ufer sehr reichlich wuchsen und die sie praktischerweise vor Blicken vom Fluss und vom anderen Ufer her verbargen. Zweimal sah Wedekind zwischen den Bäumen hindurch erstaunlich große Schiffe, die flussabwärts unterwegs waren. Harbon erklärte, dass diese Lastkähne Waren bis zur Küste hinunter transportierten.
„Aber wie kommen die Schiffe wieder zurück gegen die Strömung?“
Der Zauberer lachte.
„Sie kommen nicht zurück.“, erklärte er. „Die Schiffe werden an der Küste verkauft und man macht Bau- und Feuerholz aus ihnen.“
„Einwegschiffe“, meinte Jolene und musste lachen.
„Eher Recycling“, ergänzte Wedekind und staunte wiedereinmal über die Unterschiede, die diese Welt im Gegensatz zu seiner eigenen aufwies.
„Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber so erreicht man gleich zwei Dinge: Man transportiert die benötigten Waren an ihren Bestimmungsort und man liefert ebenso dringend benötigtes Bauholz in den an Holz armen Süden.“
Wedekind nickte.
„Ja, man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Das ist sehr schlau.“
„Wen schlägt man? Du redest wieder in Rätseln, Wedelmann.“ Harbon schüttelte den Kopf.
Der Trampelpfad führte um die ersten größeren Findlinge herum und mündete schließlich in einer Art Bucht, in der die Gefährten eine Hütte entdeckten. Vor dieser Hütte war ein flacher Nachen von etwa zwölf bis fünfzehn Metern Länge und drei bis vier Metern Breite an einem Holzsteg festgemacht. Das Wasserfahrzeug hatte am Heck eine breite Ruderpinne vor der eine einfache Bank über die gesamte Breite des Nachens angebracht war. Das war es aber dann auch schon, was die Ausstattungsmerkmale der Fähre – denn um nichts anderes handelte es sich – betraf.
Als sie heran waren, nahm Wedekind den Nachen näher in Augenschein. Er gewahrte ein dickes Tau, das momentan auf dem Boden des Bootes lag und durch zwei Öffnungen am Bug und am Heck hinaus führte. Knoten fixierten das Tau am Boot und verhinderten, dass es durch die mit Metall verstärkten Ösen rutschte. Außerdem schien es möglich zu sein, die Ruderpinne und die dazu gehörige Bank vom derzeitigen Heck in den Bug umzubauen. All das sprach dafür, dass die Fähre an diesem Tau über den Fluss gezogen wurde. Wie genau das vonstatten ging, konnte Wedekind noch nicht sagen, aber er mutmaßte, dass die beiden Tiere – sie sahen aus wie übergroße Schweine, hatten aber längere Beine und eine Art Geweih, sodass sie wie eine merkwürdige Mischung aus Schwein, Rind und Hirsch aussahen – , die in Zuggeschirren an eine Art Seilwinde gekettet waren, dabei eine Rolle spielten. Im Moment fraßen die beiden Tiere friedlich aus einem Trog, in dem Wedekind eine undefinierbare Masse erkennen konnte. Den Tieren zumindest schien das Zeug zu schmecken, obwohl es, wie Wedekind feststellte, als sie sich dem Trog näherten, alles andere als appetitlich roch. Andererseits konnte der Geruch auch von den Tieren selbst stammen, da wollte sich der Antiquar nicht festlegen.
Harbon ging zur Hütte und schlug mit der Faust gegen die Tür.
„Holla, Fährmann!“, brüllte er so laut, dass die beiden Zugtiere erschrocken ihre Mahlzeit unterbrachen und mit großen Glotzaugen den Störenfried musterten. Als sie erkannten, dass ihnen offenbar aus dieser Richtung keine Gefahr drohte, wandten sie sich wieder dem Trog zu.
Als Harbon gerade noch einmal „anklopfen“ wollte, wurde die Tür von drinnen aufgestoßen und ein Mann trat heraus.
Sein Alter konnte man aufgrund seiner wuchernden Gesichtsbehaarung und des allgemeinen Hygienezustands unmöglich erraten. Er war groß gewachsen, aber dürr – Wedekind fühlte sich an Trogat erinnert – trug eine viel zu weite, Schmutz starrende Hose, die von zerschlissenen Hosenträgern einigermaßen in ihrer Position fixiert wurde. Das Hemd – Wedekind vermutete, dass es sich um ein solches handelte – war ähnlich sauber, wie die Hose, die der Fährmann trug. Die ehemalige Grundfarbe der Kleidungsstücke konnte man unmöglich erkennen. Wedekind mochte lieber nicht darüber nachdenken, was all die Flecken und Verschmutzungen hervor gerufen hatte und wie lange es her war, dass diese Kleidung mit Wasser oder gar Waschmitteln in Kontakt gekommen war.
Er baute sich vor Harbon auf und stützte die Hände in die Seiten, was angesichts seiner mehr als schmalen Gestalt und der wuchtigen Erscheinung des Zauberers reichlich lächerlich wirkte.
„Was schlägst du mir die Tür ein und brüllst hier herum, Kerl?“ Seine Stimme klang krächzend, als habe er lange mit niemandem mehr geredet. Die tief in den Höhlen liegenden Augen funkelten Harbon an. Der Zauberer trat einen Schritt zurück und rümpfte die Nase. Wedekind musste grinsen, weil er sich den Grund für dieses Naserümpfen lebhaft vorstellen konnte. Vermutlich verströmte der dürre Fährmann ein ähnliches Aroma wie seine Zugtiere und deren Futter.
Harbon ging auf die Worte seines Gegenüber nicht weiter ein.
„Hier sind Fahrgäste, die deiner Dienste bedürfen, Fährmann“, erklärte er statt dessen.
„Ich habe schon Feierabend für heute. Kommt morgen wieder“, brummte der Mann unfreundlich, drehte sich auf den nicht vorhandenen Absätzen um und machte Anstalten, in seine Hütte zurückzukehren. Harbon holte tief Luft und verdrehte die Augen. Dann packte er den Fährmann am Kragen und riss ihn dergestalt zurück, dass Wedekind fürchtete, er werde in der Mitte entzwei brechen.
„Hier geblieben.“ Die Stimme das Zauberer war gefährlich ruhig. „Du wirst uns hinüber bringen, und zwar sofort.“
Der Dürre wirbelte herum.
„Was fällt dir ein, unverschämter Kerl!“ Seine Stimme überschlug sich vor Empörung. Er wollte gerade zu einer erneuten Schimpftirade ansetzen, als er sah, was Harbon in der Zwischenzeit aus der Tasche gezogen hatte. Zwischen den Fingern des Zauberers glitzerte ein Goldstück. Sofort änderte sich der Gesichtsausdruck des Fährmanns. Aus Wut wurde Gier. Wedekind war sich nicht sicher, welche Mimik ihm besser gefiel – er entschied für sich, dass es keinen großen Unterschied machte. Der Fährmann war und blieb ihm unsympathisch. Eine schmutzige Hand schoss förmlich in Richtung des Goldstücks, aber Harbon war noch schneller und zog seine Hand rechtzeitig weg. Enttäuscht schaute der Fährmann ihn an.
„Diesen Goldforint bekommst du, wenn du uns hinüber gebracht hast. Das ist mehr, als du sonst in einem Monat verdienst.“ Verstohlen wischte der Zauberer die Hand, mit der er zuvor den Schmutzfinken berührt hatte, an seinem Umhang ab.
„Ich will ihn sofort! Vorkasse!“ Ein verschlagener Ausdruck erschien auf dem bärtigen Gesicht – zumindest, soweit man überhaupt einen Gesichtsausdruck ausmachen konnte.
„Vergiss es“, brummte Harbon genervt. „Du bekommst das Goldstück, sobald wir uns auf der anderen Seite des Grold befinden.“
Der Mann überlegte einen Moment. Dann nickte er.
„Na gut, du machst einen vertrauenswürdigen Eindruck.“ Er versuchte ein freundliches Lächeln, was ihm allerdings gründlich misslang.
„Es macht mich stolz, dass du das so siehst, mein Freund.“ Harbon verzog das Gesicht, aber der Fährmann schien die Ironie in seiner Stimme nicht zu bemerken. Er grinste breit.
„Mein Name ist übrigens Roltar, aber alle nennen mich nur Groldinger.“
Er nickte in die Runde und ging in seine Hütte zurück. Einige Sekunden später erschien er wieder. In der Hand hielt er eine große Pfanne aus Metall und einen Hammer. Harbon schaute seine Gefährten verständnislos an. Diese zuckten mit den Achseln. Roltar ging zum Steg hinüber, hob die Pfanne über den Kopf und schlug drei Mal mit dem Hammer dagegen. Ein Gong ähnliches Geräusch ertönte, so laut, dass es fast in den Ohren schmerzte. Roltar schaute mit gespanntem Gesichtsausdruck zu einem der höheren Findlinge hinauf. Dann fluchte er in seinen Bart und schlug weitere drei Mal auf seinen improvisierten Gong.
„Ersin, bring deinen faulen Hintern in Bewegung!“, brüllte er.
Die Gefährten schauten neugierig hinauf zum Findling, wo sich jetzt eine Gestalt zeigte, die offenbar zuvor gelegen hatte, so dass man sie nicht hatte sehen können. Der Mann hatte zwei Flaggen in der Hand, die er jetzt schwenkte. Roltar wedelte als Antwort mit seiner Pfanne. Harbon wandte sich an den Fährmann.
„Was hatte das zu bedeuten?“
„Wir müssen das Tau spannen“, erklärte der Groldinger. „Das tun wir nur, wenn keine anderen Schiffe auf dem Fluss unterwegs sind. In der übrigen Zeit liegt das Tau auf dem Grund des Grold. Mein Sohn Ersin steht oben auf dem Felsen und gibt Signal, wenn kein Schiff in Sicht ist. Das sehen wir ja von hier nicht. Mein anderer Sohn Orsan ist auf der anderen Seite des Stroms und kümmert sich dort um alles, wenn er das entsprechende Signal sieht.“
„Ein schlaues System“, lobte der Zauberer und der Fährmann grinste stolz. Dann ging er hinüber und bastelte eine Weile an der Winde herum. Anschließend nahm er wieder Pfanne und Hammer zur Hand und schlug zwei Mal und nach einer Pause ein drittes Mal dagegen. Die Gestalt auf dem Findling winkte zur Antwort mit einer Flagge ging dann einige Schritte in Richtung Fluss und gab ein offensichtlich vereinbartes Flaggensignal, das wohl seinem Bruder auf der anderen Seite des Grold galt.
Wedekind beobachtete gespannt, was als nächstes passieren würde. Nach einer Weile entstand plötzlich Bewegung und wiederum einige Sekunden später begann sich das Tau, das durch die Fähre lief, langsam aus dem Wasser zu heben und zu spannen. Offenbar gab es auch auf der anderen Seite des Stroms eine Winde, die jetzt zum Einsatz kam.
Als das Tau beinahe straff gespannt war, schlug der Groldinger wieder seinen Gong, diesmal nur ein Mal. Der Mann auf dem Felsen reagierte mit einem erneuten Flaggensignal, was dazu führte, dass nach einigen Sekunden das Tau nicht weiter gespannt wurde. Roltar nickte zufrieden. Dann ging er zur Winde und nahm einige Handgriffe vor.
„Wartet noch einen Moment. Ihr könnt schon in die Fähre steigen.“
Er ging zurück in die Hütte und kehrte nach kurzer Zeit mit einer jungen Frau zurück.
„Meine Tochter Grolda“, stellte er sie vor.
Wedekind musste ob des Namens grinsen. Die Tochter des Fährmanns war wohl um die Zwanzig und von ähnlicher Gestalt wie ihr Vater. Sie wirkte recht zerbrechlich und war ebenso ungepflegt, wie der Groldinger. Schüchtern lächelte sie in die Runde und Wedekind dachte bei sich, dass sie recht hübsch hätte sein können, wären da nicht die schlechten Zähne und ihr ungepflegter Allgemeinzustand gewesen.
Die Gefährten bestiegen das Fährboot und setzten sich einfach auf den Boden, während der Groldinger seine Tochter instruierte, die offenbar dafür zuständig war, den Fährmann mit seinem Nachen später wieder zurück zu befördern. Roltar drückte ihr Hammer und Pfanne in die Hand und nahm dann auf der Bank im Heck der Fähre platz, nachdem er dem Mann auf dem Findling zugewinkt hatte. Wedekind beobachtete, wie dieser wieder seine Flaggen einsetzte, offenbar um mitzuteilen, dass die Fahrt nun losgehen konnte.
Nach kurzer Zeit straffte sich das Tau erneut, diesmal aber begann die Fähre, sich langsam auf den Fluss hinaus zu bewegen. Der Groldinger hielt die Ruderpinne in der Hand, musste aber derzeit noch nichts tun, da hier am Flussufer keine starke Strömung herrschte. Wedekind befürchtete, dass sich das ändern würde, sobald man etwas weiter zur Mitte des Stroms gelangt war. Er griff mit der rechten Hand zum Bootsrand und hielt sich vorsorglich fest.
Die Fähre nahm nun Fahrt auf und nachdem ein gewisses Tempo erreicht war, bewegte sie sich erstaunlich gleichmäßig und ohne größeres Rucken in Richtung Flussmitte.
Elden und Harbon unterhielten sich leise. Offenbar waren der Fährmann und seine Familie das Thema.
„Er hat bestimmt ebenso viele Kinder in die Welt gesetzt, wie er zum Betrieb der Fähre benötigt“, meinte Elden gerade.
Harbon lachte.
„Das halte ich für absolut möglich.“
Wedekind lächelte, hörte aber nicht weiter zu, sondern beobachtete den Fluss und die Fahrt des Bootes. Je weiter sie sich zur Flussmitte hin bewegten, desto stärker musste der Groldinger gegensteuern. Wedekind hatte plötzlich seine Zweifel, dass der Fährmann ob seiner doch eher schwächlich wirkenden Konstitution genügend Kraft aufbringen würde, um die Fähre auf Kurs zu halten. Seine Hand krallte sich in die Reling des flachen Wasserfahrzeugs. Zum Glück strömte der Grold relativ langsam dahin und Wedekind beruhigte sich mit der Tatsache, dass der Fährmann diese Fuhre ja schon sehr oft heil über den Strom gebracht hatte. Ein Rest an Angst blieb jedoch, und er war mehr als froh, als sie ohne größere Schwierigkeiten die Mitte des Flusses passiert hatten und sich dem anderen Ufer näherten. Dort konnte er jetzt eine Hütte und einen Anlegesteg erkennen, auf dem eine Gestalt sie erwartete.
Wedekind entspannte sich ein wenig und ließ die Reling los. Sein Blick wanderte flussaufwärts und ein Schreck fuhr heiß in seine Glieder: Von dort näherte sich ein Schiff! Das andere Fahrzeug war ziemlich groß, offenbar ein Lastkahn, der Waren transportierte. Er drehte sich zu Roltar um, aber der hatte die Gefahr schon entdeckt. Er stand auf und gestikulierte wild in Richtung seine Sohnes, der endlich flussaufwärts schaute und registrierte, dass Gefahr bestand. Er rannte über den Steg in Richtung Hütte und Wedekind konnte nur ahnen, dass er jetzt die Zugtiere, die es sicherlich auch hier gab, zu größerer Eile antrieb. Wirklich begann die Fähre sich etwas schneller zu bewegen und obwohl sich der Lastkahn schnell näherte, war sich Wedekind nach einer Weile sicher, dass sie den Steg würden erreichen können, bevor das andere Schiff heran war. Er schaute zu Harbon, der besorgt die Situation beobachtete. Sie näherten sich immer weiter dem Steg, aber auch der riesige Lastkahn wurde nicht langsamer. Wie sollte er auch? Dann stieß die Fähre gegen den Steg und die Passagiere sprangen hastig von Bord. Roltar machte das Boot fest und rannte zu seinem Sohn, der sich an der Winde zu schaffen machte.
„Das Seil“, brüllte der Fährmann. „Versenke das Seil! Schnell!“
Wedekind erkannte das Problem: Wenn das Schiff mit dem Seil kollidieren würde, dürfte die gesamte Konstruktion mitsamt der Winden auf beiden Seiten in den Fluss gerissen werden. Harbon wandte sich dem Fluss zu, hob beide Arme und murmelte einen Zauberspruch, während er die Arme in Richtung des herannahenden Lastkahns bewegte. Wedekind erkannte fasziniert, dass sich die Fahrt des großen Schiffs mit einem Mal verlangsamte. Es schien abzubremsen, aber der Antiquar wusste, dass Harbons Zauberkräfte dafür verantwortlich waren.
Gespannt beobachteten die Gefährten, wie das Tau begann, sich zu senken, als der Fährmann und sein Sohn die Spannung reduzierten. Unendlich langsam versank das Tau im Fluss. Jetzt hing alles davon ab, wie groß der Tiefgang des Lastkahns war.
Roltar hielt inzwischen eine große Axt in der Hand, bereit, das Tau zu kappen, sollte es nicht rasch genug versinken.
Der Lastkahn erreichte die Stelle, wo kurz zuvor noch das Tau der Fähre den Grold überspannt hatte. Wedekind hielt den Atem an, wartete darauf, dass der Lastkahn im Tau hängen blieb und es mit sich riss. Ob der Groldinger dann schnell genug in der Lage sein würde, das Tau zu kappen, war zu bezweifeln. Das Schiff glitt weiter – aber es geschah nichts. Als der Lastkahn in seiner ganzen beeindruckenden Länge von sicherlich beinahe fünfzig Metern die Fähre passiert hatte, bemerkte Wedekind, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Geräuschvoll stieß er die Luft aus und schaute zu seinen Gefährten. Alle waren ein wenig blass und die Anspannung löste sich nur langsam.
Von der Hütte her hörte er ein Geräusch und erkannte, als er sich umdrehte, dass der Fährmann am Boden saß, immer noch die Axt in der Hand. Sein Gesicht war leichenblass, soweit man das unter dem dichten Bart und alle dem Schmutz erkennen konnte.
Elden blieb neben Harbon stehen.
„War das klug?“ Er schaute den Zauberer zweifelnd an.
Der zuckte die Schultern.
„Wahrscheinlich nicht. Es wird sich gewiss herum sprechen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass diese Familie ihren Lebensunterhalt verliert.“
Elden nickte.
„Keine gute Tat bleibt ungestraft“, murmelte Wedekind.
Harbon schaute ihn an.
„Ist das wieder eines der merkwürdigen Sprichwörter aus deiner Welt, Wundermann?“ Er schüttelte den Kopf. „Das muss wirklich eine seltsame Welt sein.“
Wedekind legte den Kopf schief und schaute zu dem Zauberer auf.
„In mancherlei Hinsicht ist sie wirklich seltsamer als eure Welt, das ist wahr“, meinte er nachdenklich. „Manchmal fragt man sich, wie man in einer solchen Welt leben kann. Aber dann geht es doch irgendwie – mehr oder weniger.“
Er wandte sich ab und ging zu Jolene hinüber, die sich mit Mirdal unterhielt. Roltar kam ihm entgegen. Ein erleichtertes Lächeln lag auf dem Gesicht des Fährmanns und er ging zu Harbon hinüber.
„Ich hatte keine Ahnung, über welche Macht Ihr verfügt, Herr. Ich möchte Euch danken.“ Er ergriff die Hand des Zauberers und schüttelte Sie, als wolle er Harbons Arm aus der Schulter reißen und als Trophäe aufbewahren.
„Schon gut, das waren wir dir schuldig.“ Harbon wirkte fast verlegen, wischte aber trotzdem die Hand, die der Groldinger so begeistert geschüttelt hatte, verstohlen an seinem Gewand ab. Dann griff der Zauberer in seinen Beutel und nahm das Goldstück heraus. Als er es aber dem Fährmann reichen wollte, wehrte dieser ab.
„Beschämt mich nicht, Herr Zauberer.“ Er schüttelte so heftig den Kopf, dass Wedekind unwillkürlich damit rechnete, dass sich die Schmutzpartikel von seinem Gesicht lösen würden. „Es war mir eine Ehre, so hohe Fahrgäste zu befördern und Ihr habt bereits mehr getan, als ich von Euch erwarten durfte.“
Diese neue Unterwürfigkeit des Fährmanns erschien Wedekind suspekt, aber er äußerte seine Bedenken nicht. Harbon schienen derlei Gedanken nicht zu plagen. Er steckte sein Goldstück wieder ein, bedankte sich beim Fährmann und seinem Sohn – der seinem Vater übrigens wie aus dem Gesicht geschnitten schien – und bedeutete den Gefährten, sich ihm anzuschließen.