Nachdem sie von den Fährleuten Abschied genommen hatten, gelangten sie alsbald auf eine größere Straße, die – immer dem Grold folgend – weiter nach Süden führte, Richtung Mor'Klatt.
Wedekind ging schweigend neben Harbon her und hing seinen Gedanken nach. Er dachte zurück an jenen Abend, der eine Ewigkeit zurück zu liegen schien, als er mit seinem Freund Alfred Schach gespielt und sich anschließend im Nebel verfahren hatte. Diese Welt – seine Welt – schien ihm inzwischen unwirklich und fern. Er fragte sich, ob er jemals dorthin zurückkehren würde, dachte an sein Leben als Antiquar, ein beschauliches, ruhiges aber auch langweiliges und bisweilen sehr einsames Leben.
Er musste lächeln, als er an die oftmalige Aufforderung seiner Mutter – die vor vier Jahren gestorben war – denken musste, die ihn immer dazu ermuntert hatte, mehr zu unternehmen, aus dem Haus zu gehen und vor allem sich „endlich eine Frau“ zu suchen. „Junge“ hatte sie ihn immer genannt, er war ihr „Junge“ geblieben – bis zum Schluss. Das mit der Frau hatte sich nicht erfüllt und Wedekind war sich nicht ganz klar darüber, ob er es wirklich bedauerte. Er war schon so lange Junggeselle, dass eine Änderung dieser Lebensweise einen enormen Einschnitt bedeutet hätte. Insgeheim war er sich sicher, dass eine Beziehung, das Zusammenleben mit einer Frau, aufgrund seiner zahlreichen Macken und Schrullen, derer er sich durchaus bewusst war, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Er hatte nur wenige Bekannte oder gar Freunde und er fragte sich plötzlich, ob man ihn vermissen würde. Was geschehen war, als man irgendwann – vielleicht nach einigen Tagen – seinen Wagen leer auf einem Feldweg entdeckt hatte. Sicher würde man nach ihm suchen, ein Verbrechen vermuten. Aber irgendwann würde die Suche eingestellt, der „Fall Wedekind Braun“ auf dem Stapel der ungelösten und rätselhaften Fälle von plötzlichem Verschwinden landen. Er hatte kein Testament gemacht, es gab keine Erben. Er grinste innerlich, als er an seinen vor zehn Jahren verstorbenen Vater denken musste, der immer resigniert davon geredet hatte, dass Wedekind dafür verantwortlich sei „wenn dieser Zweig der Familie Braun vom familiären Stammbaum abgesägt“ würde. Nun versiegte dieser Zweig wohl endgültig. Wedekind fühlte kein Bedauern bei diesem Gedanken. Solche Überlegungen interessierten ihn nicht, hatten ihn nie interessiert. Es kümmerte niemanden, ob der Familienzweig nun weiter wuchs oder endete. Es gab sicherlich Menschen, die eine solche Einstellung als traurig empfanden. Das musste jeder selbst wissen. Wedekind fragte sich, was mit seinem Laden passieren würde. Er hatte sich darüber nie Gedanken gemacht, aber eigentlich spielte das jetzt auch keine Rolle mehr. Er bedauerte es nur, dass er die Asimov-Erstausgabe, die er in den USA für Alfred Quandt besorgt hatte, seinem Freund nun nicht mehr zum Geburtstag würde schenken können. Darüber hätte sich Alfred sicher gefreut. Aber das ließ sich nicht ändern, und Wedekind hatte sich schon vor Jahren abgewöhnt, Dingen nachzutrauern, die er nicht zu beeinflussen in der Lage war.
Einigen Menschen, allen voran Alfred Quandt, würde er für eine Weile fehlen. Aber es würde so gehen, wie es immer geht: Das Leben muss weiter gehen, und die Gedanken an ihn, der so plötzlich nicht mehr da gewesen war, würden verschwinden. Der Gedanke, seinen Namen in großen Lettern auf der Titelseite eines bekannten Boulevardblattes zu sehen, belustigte ihn: „Antiquar verschwindet spurlos. Was geschah mit Wedekind B. aus G.?“ Selbst wenn es so gewesen sein sollte, war er sicher, dass inzwischen wieder andere Schlagzeilen die Titelseiten zierten und der verschwundene Antiquar nur für eine vorübergehende Auflagesteigerung gesorgt hatte – wenn überhaupt.
„Was belustigt dich, Wandersmann?“, riss ihn Harbons Stimme aus seinen Gedanken.
Wedekind brauchte einen Moment, um in die Realität zurückzufinden.
„Oh, ich habe darüber nachgedacht, was wohl in meiner Welt nach meinem Verschwinden so passiert ist.“ Er lachte. „Ich gehe einmal davon aus, dass ich meine Heimat nicht wiedersehen werde.“
Harbon schaute ihn ernst an.
„Bedauerst du das?“
Wedekind zuckte die Achseln.
„Ich weiß nicht recht … ich glaube nicht. Es gibt nicht viel, das ich vermisse, und vielleicht schaffe ich es ja, dir das Schach spielen beizubringen.“ Er lachte schelmisch.
„Schach? Wie spielt man das?“, erkundigte sich der Zauberer.
Wedekind erklärte es ihm.
„Oh“ Harbon lächelte. „Dann müssen wir bei Gelegenheit einmal Kramon spielen, das dürfte dir zusagen.“ Er überlegte. „Ich bin sicher, in Renkar können wir ein Spiel auftreiben.“
„Meinst du, dafür haben wir Zeit? Vorausgesetzt, wir kommen jemals dort hin ...“
„Wir werden dort hin kommen, Wedekind!“ Die Stimme des Zauberers klang fast ein wenig beleidigt. „Dafür werde ich mit der Hilfe meiner Freunde und Kollegen schon sorgen. Unterschätze uns nicht, mein Freund.“
„Das tue ich nicht. Das ist einfach meine Art. Manche bezeichnen mich als Pessimisten. Ich sehe mich zwar eher als Realisten an, aber man sagt ja, dass das alle Pessimisten tun.“ Er grinste. „Aber ich werde dich an Kramon erinnern, sobald wir in Renkar sind. Ich hoffe, wir finden Zeit für ein paar Spiele.“
Elden, der sich in der Nähe von Jolene und Mirdal aufgehalten hatte, erschien neben Harbon.
„Dort beginnt Mor'Klatt!“ Er deutete nach vorn, wo die ersten Häuser der Stadt zu sehen waren. Im Hintergrund sah Wedekind auch einige höhere Gebäude, die einen Stadtkern bildeten, in dessen Mitte es sogar eine Art Burgfried gab. Wedekind sah zum ersten Mal eine solche Befestigungsanlage in Trimandar. Soweit er erkennen konnte, war der Stadtkern sogar von einer Stadtmauer umgeben und es schien auch einige Türme zu geben.
„Das stimmt“, erklärte Harbon auf Wedekinds entsprechende Frage. „Mor'Klatt ist eine befestigte Stadt. Früher gab es auch direkt am Grold noch eine Festung, aber die wurde in den Magierkriegen geschliffen. Du erinnerst dich vielleicht an die Gebäudereste, die wir kurz nach der Fähre passiert haben.“
Wedekind überlegte kurz. Er hatte diese Fundamentreste für die Überbleibsel eines Bauernhofes gehalten. Viel war von der Festung nicht übrig geblieben. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man in einer Welt ohne Bomben und Sprengstoffe eine solche Zerstörungskraft entfalten konnte.
„Wie wurde die Festung vernichtet?“
Harbon zuckte die Achseln.
„Genau weiß ich das nicht, aber es gibt eine ganze Reihe von Zauberern und vor allem Magiern, die zu solchen Dingen ohne Weiteres in der Lage sind.“
Wedekind schaute ihn ungläubig an.
„Wärest du dazu in der Lage?“
Harbon schmunzelte.
„Ich dachte, du würdest uns nicht unterschätzen?“ Er schaute sich verstohlen um. „Ich würde sagen, das wäre kein Problem für mich gewesen.“ Er stutzte. „Klang das jetzt großspurig?“
„Ein wenig“, grinste Wedekind. „Aber du bist eben ein großspuriger Typ.“ Er duckte sich, als ihm der Zauberer einen Klaps auf den Hinterkopf verpassen wollte.
„Warte es nur ab, Wedelmann! Es kann sein, dass du bald selbst zu solchen Dingen fähig bist.“
Wedekind blieb abrupt stehen und Mirdal, der sich angeregt mit Jolene unterhalten hatte, prallte gegen seinen Rücken. Mit einem Plumps setzte sich der zierliche Mann auf seine Kehrseite und schaute den Antiquar verwirrt an.
„Warum bleibst du auf einmal stehen?“, maulte er.
Mirdal stand auf und rieb sich das Körperteil, das gerade so unsanft in Kontakt mit der Straße gekommen war.
„Entschuldige“, bat Wedekind, wandte sich aber dann wieder an Harbon. „Was, zum Geier, meinst du damit? Ich soll zu derartigen Dingen fähig sein?“
Harbon zog den Kopf zwischen die Schultern, als haben man ihn mit den Fingern in der Keksdose erwischt. Er schaute verlegen in die Runde.
„Ich bin doch ein Plappermaul“, schimpfte er mit sich selbst. „Ich kann dir im Moment nicht mehr sagen. Eigentlich hätte ich dir nicht einmal das sagen dürfen, weil es gar nicht klar ist, was geschieht, wenn ihr das Buch öffnet.“
„Du meinst, dieses alte Buch mit den vier Siegeln, das von unseren Siegelringen geöffnet wird?“
Harbon nickte.
„Genau. Aber lasst uns jetzt weiter gehen. Seit wir Jules verloren haben, steht all das ohnehin in Frage.“
Die schwarze Wolke des Verlustes erschien mit einem Mal wieder in den Gesichtern und auf den Seelen der Gefährten und ließ sie ihren Weg zunächst schweigend fortsetzen.
Sie durchquerten die Außenbezirke der Stadt und nach einer Weile lenkte Harbon seine Schritte nach rechts in eine Seitenstraße. Vor einem Eckhaus blieb er stehen. Wedekind schaute sich um. Das Viertel machte keinen sehr Vertrauen erweckenden Eindruck. In die Straße, auf der sie sich befanden, mündete an dieser Stelle eine sehr schmale Gasse, die jetzt, wo sich die Sonne bereits dem Horizont näherte, fast im Dunkeln lag. Gegenüber schien es eine Gaststätte oder eher Spelunke zu geben, die ebenfalls nicht sonderlich einladend wirkte. Das Haus, vor dem Harbon stehen geblieben war, hatte zwei Stockwerke und schien im Vergleich zu den umstehenden Gebäuden leidlich sauber und stabil zu sein. Die Eingangstür befand sich an der kleinen Gasse. Harbon ging darauf zu hämmerte kräftig dagegen. Nach einer Weile wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet und eine lange Nase erschien, gefolgt von einem Paar dunkler Augen. Diese bewegten sich wachsam hin und her. Harbon griff in seinen Umhang, nahm etwas heraus und hielt es direkt vor die Nasenspitze, die so vorwitzig durch den Türspalt lugte. Die Nase wich ein wenig zurück und die Augen musterten den Gegenstand, den Harbon in der Hand hielt. Dann wippte die Nase einmal hoch und einmal nach unten, was wohl bedeutete, dass ihr Besitzer nickte. Die Tür öffnete sich und ein kleiner Mann kam zum Vorschein. Er war von seltsamer Gestalt. Obwohl er insgesamt sehr schmal, fast dürr war, hatte er einerseits einen kugelrunden, komplett kahlen Schädel, von dem zwei große Ohren ab standen. Außerdem hatte er einen für einen so schmalen Mann erstaunlichen Bauch. Zwei dürre Beine, die in engen Hosen steckten, komplettierten einen Anblick, der unwillkürlich zum Grinsen reizte.
„Kommt herein, schnell!“, meinte er in verschwörerischem Ton, wobei er immer wieder nach allen Seiten spähte, ob jemand die Ankunft der Gruppe beobachtete. Wedekind schaute sich unwillkürlich ebenfalls um, konnte aber niemanden entdecken.
Rasch durchschritten die Gefährten die Tür, die von dem kleinen Glatzkopf eiligst wieder geschlossen wurde. Er verbeugte sich vor Harbon.
„Willkommen, Mächtiger.“ Seine Nasenspitze beschrieb kleine Kreise, während er sprach. „Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise.“ Er wartete keine Antwort ab, sondern redete sofort weiter. „Mein Name ist Grinklad und ich bin der Gehilfe von Meister Farnon, in dessen Stadthaus ihr euch befindet.“ Er machte eine umfassende Geste.
„Wann werden wir Farnon treffen?“, erkundigte sich Harbon, ohne die Begrüßung zu erwidern.
„Ich werde euch nach Einbruch der Dunkelheit zu ihm führen. Er erwartet euch bereits mit neuen Nachrichten.“
„Hoffentlich nicht noch mehr schlechte Neuigkeiten“, unkte Wedekind und erntete dafür einen strafenden Blick des Zauberers. „Ja, schon gut! Ich höre schon auf.“ Er grinste. „Warten wir es einfach ab.“
Wedekind ging schweigend neben Harbon her und hing seinen Gedanken nach. Er dachte zurück an jenen Abend, der eine Ewigkeit zurück zu liegen schien, als er mit seinem Freund Alfred Schach gespielt und sich anschließend im Nebel verfahren hatte. Diese Welt – seine Welt – schien ihm inzwischen unwirklich und fern. Er fragte sich, ob er jemals dorthin zurückkehren würde, dachte an sein Leben als Antiquar, ein beschauliches, ruhiges aber auch langweiliges und bisweilen sehr einsames Leben.
Er musste lächeln, als er an die oftmalige Aufforderung seiner Mutter – die vor vier Jahren gestorben war – denken musste, die ihn immer dazu ermuntert hatte, mehr zu unternehmen, aus dem Haus zu gehen und vor allem sich „endlich eine Frau“ zu suchen. „Junge“ hatte sie ihn immer genannt, er war ihr „Junge“ geblieben – bis zum Schluss. Das mit der Frau hatte sich nicht erfüllt und Wedekind war sich nicht ganz klar darüber, ob er es wirklich bedauerte. Er war schon so lange Junggeselle, dass eine Änderung dieser Lebensweise einen enormen Einschnitt bedeutet hätte. Insgeheim war er sich sicher, dass eine Beziehung, das Zusammenleben mit einer Frau, aufgrund seiner zahlreichen Macken und Schrullen, derer er sich durchaus bewusst war, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Er hatte nur wenige Bekannte oder gar Freunde und er fragte sich plötzlich, ob man ihn vermissen würde. Was geschehen war, als man irgendwann – vielleicht nach einigen Tagen – seinen Wagen leer auf einem Feldweg entdeckt hatte. Sicher würde man nach ihm suchen, ein Verbrechen vermuten. Aber irgendwann würde die Suche eingestellt, der „Fall Wedekind Braun“ auf dem Stapel der ungelösten und rätselhaften Fälle von plötzlichem Verschwinden landen. Er hatte kein Testament gemacht, es gab keine Erben. Er grinste innerlich, als er an seinen vor zehn Jahren verstorbenen Vater denken musste, der immer resigniert davon geredet hatte, dass Wedekind dafür verantwortlich sei „wenn dieser Zweig der Familie Braun vom familiären Stammbaum abgesägt“ würde. Nun versiegte dieser Zweig wohl endgültig. Wedekind fühlte kein Bedauern bei diesem Gedanken. Solche Überlegungen interessierten ihn nicht, hatten ihn nie interessiert. Es kümmerte niemanden, ob der Familienzweig nun weiter wuchs oder endete. Es gab sicherlich Menschen, die eine solche Einstellung als traurig empfanden. Das musste jeder selbst wissen. Wedekind fragte sich, was mit seinem Laden passieren würde. Er hatte sich darüber nie Gedanken gemacht, aber eigentlich spielte das jetzt auch keine Rolle mehr. Er bedauerte es nur, dass er die Asimov-Erstausgabe, die er in den USA für Alfred Quandt besorgt hatte, seinem Freund nun nicht mehr zum Geburtstag würde schenken können. Darüber hätte sich Alfred sicher gefreut. Aber das ließ sich nicht ändern, und Wedekind hatte sich schon vor Jahren abgewöhnt, Dingen nachzutrauern, die er nicht zu beeinflussen in der Lage war.
Einigen Menschen, allen voran Alfred Quandt, würde er für eine Weile fehlen. Aber es würde so gehen, wie es immer geht: Das Leben muss weiter gehen, und die Gedanken an ihn, der so plötzlich nicht mehr da gewesen war, würden verschwinden. Der Gedanke, seinen Namen in großen Lettern auf der Titelseite eines bekannten Boulevardblattes zu sehen, belustigte ihn: „Antiquar verschwindet spurlos. Was geschah mit Wedekind B. aus G.?“ Selbst wenn es so gewesen sein sollte, war er sicher, dass inzwischen wieder andere Schlagzeilen die Titelseiten zierten und der verschwundene Antiquar nur für eine vorübergehende Auflagesteigerung gesorgt hatte – wenn überhaupt.
„Was belustigt dich, Wandersmann?“, riss ihn Harbons Stimme aus seinen Gedanken.
Wedekind brauchte einen Moment, um in die Realität zurückzufinden.
„Oh, ich habe darüber nachgedacht, was wohl in meiner Welt nach meinem Verschwinden so passiert ist.“ Er lachte. „Ich gehe einmal davon aus, dass ich meine Heimat nicht wiedersehen werde.“
Harbon schaute ihn ernst an.
„Bedauerst du das?“
Wedekind zuckte die Achseln.
„Ich weiß nicht recht … ich glaube nicht. Es gibt nicht viel, das ich vermisse, und vielleicht schaffe ich es ja, dir das Schach spielen beizubringen.“ Er lachte schelmisch.
„Schach? Wie spielt man das?“, erkundigte sich der Zauberer.
Wedekind erklärte es ihm.
„Oh“ Harbon lächelte. „Dann müssen wir bei Gelegenheit einmal Kramon spielen, das dürfte dir zusagen.“ Er überlegte. „Ich bin sicher, in Renkar können wir ein Spiel auftreiben.“
„Meinst du, dafür haben wir Zeit? Vorausgesetzt, wir kommen jemals dort hin ...“
„Wir werden dort hin kommen, Wedekind!“ Die Stimme des Zauberers klang fast ein wenig beleidigt. „Dafür werde ich mit der Hilfe meiner Freunde und Kollegen schon sorgen. Unterschätze uns nicht, mein Freund.“
„Das tue ich nicht. Das ist einfach meine Art. Manche bezeichnen mich als Pessimisten. Ich sehe mich zwar eher als Realisten an, aber man sagt ja, dass das alle Pessimisten tun.“ Er grinste. „Aber ich werde dich an Kramon erinnern, sobald wir in Renkar sind. Ich hoffe, wir finden Zeit für ein paar Spiele.“
Elden, der sich in der Nähe von Jolene und Mirdal aufgehalten hatte, erschien neben Harbon.
„Dort beginnt Mor'Klatt!“ Er deutete nach vorn, wo die ersten Häuser der Stadt zu sehen waren. Im Hintergrund sah Wedekind auch einige höhere Gebäude, die einen Stadtkern bildeten, in dessen Mitte es sogar eine Art Burgfried gab. Wedekind sah zum ersten Mal eine solche Befestigungsanlage in Trimandar. Soweit er erkennen konnte, war der Stadtkern sogar von einer Stadtmauer umgeben und es schien auch einige Türme zu geben.
„Das stimmt“, erklärte Harbon auf Wedekinds entsprechende Frage. „Mor'Klatt ist eine befestigte Stadt. Früher gab es auch direkt am Grold noch eine Festung, aber die wurde in den Magierkriegen geschliffen. Du erinnerst dich vielleicht an die Gebäudereste, die wir kurz nach der Fähre passiert haben.“
Wedekind überlegte kurz. Er hatte diese Fundamentreste für die Überbleibsel eines Bauernhofes gehalten. Viel war von der Festung nicht übrig geblieben. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man in einer Welt ohne Bomben und Sprengstoffe eine solche Zerstörungskraft entfalten konnte.
„Wie wurde die Festung vernichtet?“
Harbon zuckte die Achseln.
„Genau weiß ich das nicht, aber es gibt eine ganze Reihe von Zauberern und vor allem Magiern, die zu solchen Dingen ohne Weiteres in der Lage sind.“
Wedekind schaute ihn ungläubig an.
„Wärest du dazu in der Lage?“
Harbon schmunzelte.
„Ich dachte, du würdest uns nicht unterschätzen?“ Er schaute sich verstohlen um. „Ich würde sagen, das wäre kein Problem für mich gewesen.“ Er stutzte. „Klang das jetzt großspurig?“
„Ein wenig“, grinste Wedekind. „Aber du bist eben ein großspuriger Typ.“ Er duckte sich, als ihm der Zauberer einen Klaps auf den Hinterkopf verpassen wollte.
„Warte es nur ab, Wedelmann! Es kann sein, dass du bald selbst zu solchen Dingen fähig bist.“
Wedekind blieb abrupt stehen und Mirdal, der sich angeregt mit Jolene unterhalten hatte, prallte gegen seinen Rücken. Mit einem Plumps setzte sich der zierliche Mann auf seine Kehrseite und schaute den Antiquar verwirrt an.
„Warum bleibst du auf einmal stehen?“, maulte er.
Mirdal stand auf und rieb sich das Körperteil, das gerade so unsanft in Kontakt mit der Straße gekommen war.
„Entschuldige“, bat Wedekind, wandte sich aber dann wieder an Harbon. „Was, zum Geier, meinst du damit? Ich soll zu derartigen Dingen fähig sein?“
Harbon zog den Kopf zwischen die Schultern, als haben man ihn mit den Fingern in der Keksdose erwischt. Er schaute verlegen in die Runde.
„Ich bin doch ein Plappermaul“, schimpfte er mit sich selbst. „Ich kann dir im Moment nicht mehr sagen. Eigentlich hätte ich dir nicht einmal das sagen dürfen, weil es gar nicht klar ist, was geschieht, wenn ihr das Buch öffnet.“
„Du meinst, dieses alte Buch mit den vier Siegeln, das von unseren Siegelringen geöffnet wird?“
Harbon nickte.
„Genau. Aber lasst uns jetzt weiter gehen. Seit wir Jules verloren haben, steht all das ohnehin in Frage.“
Die schwarze Wolke des Verlustes erschien mit einem Mal wieder in den Gesichtern und auf den Seelen der Gefährten und ließ sie ihren Weg zunächst schweigend fortsetzen.
Sie durchquerten die Außenbezirke der Stadt und nach einer Weile lenkte Harbon seine Schritte nach rechts in eine Seitenstraße. Vor einem Eckhaus blieb er stehen. Wedekind schaute sich um. Das Viertel machte keinen sehr Vertrauen erweckenden Eindruck. In die Straße, auf der sie sich befanden, mündete an dieser Stelle eine sehr schmale Gasse, die jetzt, wo sich die Sonne bereits dem Horizont näherte, fast im Dunkeln lag. Gegenüber schien es eine Gaststätte oder eher Spelunke zu geben, die ebenfalls nicht sonderlich einladend wirkte. Das Haus, vor dem Harbon stehen geblieben war, hatte zwei Stockwerke und schien im Vergleich zu den umstehenden Gebäuden leidlich sauber und stabil zu sein. Die Eingangstür befand sich an der kleinen Gasse. Harbon ging darauf zu hämmerte kräftig dagegen. Nach einer Weile wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet und eine lange Nase erschien, gefolgt von einem Paar dunkler Augen. Diese bewegten sich wachsam hin und her. Harbon griff in seinen Umhang, nahm etwas heraus und hielt es direkt vor die Nasenspitze, die so vorwitzig durch den Türspalt lugte. Die Nase wich ein wenig zurück und die Augen musterten den Gegenstand, den Harbon in der Hand hielt. Dann wippte die Nase einmal hoch und einmal nach unten, was wohl bedeutete, dass ihr Besitzer nickte. Die Tür öffnete sich und ein kleiner Mann kam zum Vorschein. Er war von seltsamer Gestalt. Obwohl er insgesamt sehr schmal, fast dürr war, hatte er einerseits einen kugelrunden, komplett kahlen Schädel, von dem zwei große Ohren ab standen. Außerdem hatte er einen für einen so schmalen Mann erstaunlichen Bauch. Zwei dürre Beine, die in engen Hosen steckten, komplettierten einen Anblick, der unwillkürlich zum Grinsen reizte.
„Kommt herein, schnell!“, meinte er in verschwörerischem Ton, wobei er immer wieder nach allen Seiten spähte, ob jemand die Ankunft der Gruppe beobachtete. Wedekind schaute sich unwillkürlich ebenfalls um, konnte aber niemanden entdecken.
Rasch durchschritten die Gefährten die Tür, die von dem kleinen Glatzkopf eiligst wieder geschlossen wurde. Er verbeugte sich vor Harbon.
„Willkommen, Mächtiger.“ Seine Nasenspitze beschrieb kleine Kreise, während er sprach. „Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise.“ Er wartete keine Antwort ab, sondern redete sofort weiter. „Mein Name ist Grinklad und ich bin der Gehilfe von Meister Farnon, in dessen Stadthaus ihr euch befindet.“ Er machte eine umfassende Geste.
„Wann werden wir Farnon treffen?“, erkundigte sich Harbon, ohne die Begrüßung zu erwidern.
„Ich werde euch nach Einbruch der Dunkelheit zu ihm führen. Er erwartet euch bereits mit neuen Nachrichten.“
„Hoffentlich nicht noch mehr schlechte Neuigkeiten“, unkte Wedekind und erntete dafür einen strafenden Blick des Zauberers. „Ja, schon gut! Ich höre schon auf.“ Er grinste. „Warten wir es einfach ab.“